bverfg

Überraschung, es ist ein Jein. Das Bundesverfassungsgericht hat offenbar keine Lust mehr, der Regierung Vorschriften zu machen, die sie eh nicht umsetzt. Dementsprechend unmotiviert tritt es durch die Entscheidung zur einstweiligen Anordnung beiseite, schreibt auf, was hätte sein sollen und entlässt die Puppen der Finanzindustrie in die Kontinuität ihrer illegalen Entscheidungen. Wie eine Mutter, die keine Kraft hat für die Machtspielchen ihres renitenten Kindes, wird der Flegel der übelsten Brut in der Nachbarschaft überlassen, mit einem hinterhergeseufzten “Aber macht keinen Unsinn!”.

Lesen wir den Wortlaut:

2. die Regelungen des ESM-Vertrages über die Unverletzlichkeit der
Unterlagen des ESM (Art. 32 Abs. 5, Art. 35 Abs. 1 ESMV) und die
berufliche Schweigepflicht aller für den ESM tätigen Personen (Art. 34
ESMV) einer umfassenden Unterrichtung des Bundestages und des
Bundesrates nicht entgegenstehen
.”

Eindeutig, vieldeutig

Das ist richtig und realisierbar. Wenn der ESM glaubt, seine Mitglieder dürften niemandem etwas von seinen Machenschaften berichten, soll er das tun. Die Ausnahme müssen die demokratischen Kontrollinstanzen sein. Hier war der ESM vielleicht missverständlich. Jetzt ist er eindeutig. Etwas anderes aber ist folgendes:

1. durch die in Art. 8 Abs. 5 Satz 1 des ESM-Vertrages (ESMV) geregelte
Haftungsbeschränkung sämtliche Zahlungsverpflichtungen der
Bundesrepublik Deutschland aus diesem Vertrag der Höhe nach auf ihren
Anteil am genehmigten Stammkapital des ESM (190.024.800.000 Euro)
begrenzt sind und keine Vorschrift dieses Vertrages so ausgelegt werden
darf, dass für die Bundesrepublik Deutschland ohne Zustimmung des
deutschen Vertreters in den Gremien des ESM höhere
Zahlungsverpflichtungen begründet werden
“.

Das schwarze Loch

Zunächst einmal bedeutet das, dass der ESM nicht gleich Geld aus den Staatshaushalten absaugen kann wie ein schwarzes Loch. Die Hürde, die hier vermeintlich aufgestellt wurde, ist aber rein virtuell und dient nur dazu, Zeit zu gewinnen. Verfassungsrechtlich nämlich ist die Zustimmung eines abgeordneten Männekens kein Ersatz für die Haushaltssouveränität. Entscheidend ist hier, was nicht drin steht: Welche anderen Voraussetzungen noch gegeben sein müssen. Das deutsche ESM-Männeken ist die Schnittstelle, an der sich das Hauptverfahren abarbeiten wird.

Will das Gericht nämlich nicht die Verfassung ignorieren, muss es darlegen, wie die Souveränität des Bundestages mit der Funktion des ESM-Abgesandten in Einklang zu bringen ist. Das kann etwa dazu führen, dass dieser Mittel nur in der Höhe freigeben darf, für die eine Zustimmung des Bundestages vorliegt. Kurzum: Das Gericht hat hier gar nichts entschieden, sondern nur eine notwendige Bedingung von vielen genannt. Obendrein bleibt die auch noch unklar. Selbstverständlich wird das aber als umfassende Ermächtigung betrachtet werden.

Parlamentsersatz

Nicht weniger spannend ist schließlich das, was das BVerfG wenigstens ausdrücklich nicht entschieden hat:
Die Prüfung des “Ermächtigungsrahmen(s) der deutschen Zustimmungsgesetze zu den Unionsverträgen“. Die “bleibt damit einer Prüfung im Hauptsacheverfahren vorbehalten.”
Dies betrifft den Einwand, dass die Zustimmung Deutschlands zu den EU-Verträgen all das, was jetzt beschlossen wird, gar nicht erlaubt. Im Gegenteil nämlich wurde dort geregelt, dass ausdrücklich “Rettungsmaßnahmen” wie der ESM und der Aufkauf von Staatsanleihen verboten, ausgeschlossen und abgelehnt wurden.

Der Kniff, diese Zustimmung überprüfen zu lassen, ist äußerst clever. Das Verfassungsgericht kann nämlich nicht darüber entscheiden, ob eine Vereinbarung auf EU-Ebene der anderen widerspricht. Es kann aber durchaus entscheiden, ob die Zustimmung zu einem Vertrag noch gilt, wenn ein anderer dieser widerspricht.

Es bleibt also spannend – auf der politischen Ebene, die nur noch vor Gericht eine Rolle spielt. Dort nämlich geht es um die Begründung, die Legitimation für das Handeln der Funktionäre, was eigentlich fundamentaler Bestandteil des Parlamentarismus ist. Die Parlamente aber sind derart zu Abnickvereinen alternativloser Regierungswillkür verkommen, dass solche ethischen Fragen von dort endgültig ausgelagert wurden. Es geht ums Geld. Da kann auf politische Willensbildung keine Rücksicht genommen werden.

 
olytitan

Ich habe gerade den Fehler gemacht, nach der Reportage über die Wege womöglich legaler Korruption bei der FDP und ihren Tochterfirmen nicht sofort abzuschalten und bin daher in die “Tagesthemen” geraten. Jene Verkündungsanstalt der Wettbewerbspropaganda wartet mit Beiträgen zur ESM-Klage und zum “Rentenkonzept” der SPD auf. Früher hätte ich mich darüber erregt und vielleicht Gegenstände ins feiste Gesicht der modernen Agenda-SPD geworfen. Heute frage ich mich nur, was eigentlich überhaupt noch relevant ist.

Verträge zum Beispiel nicht, da muss man Peter Gauweiler einfach Recht geben, auch wenn man ihn seit Jahrzehnten so wenig leiden kann wie ich. Das muss man sich einmal sortieren: Da geht ein Parlament aus neoliberal programmierten Abgeordneten hin und beschließt mit Zweidrittelmehrheit ein verfassungswidriges Gesetz. Dieses Gesetz verlagert widerrechtlich Kompetenzen des nationalen Parlaments in ein Vehikel, dessen Rechtsform völlig unklar ist, das sich aber ganz sicher jeder legalen Kontrolle entzieht. Nicht nur der parlamentarischen, sondern auch der jeglicher Gerichte. Das steht ausdrücklich im – ja im was? Im Vertrag?

Papier von der Rolle

Nehmen wir für einen Moment an, das sei ein Vertrag. Dann müsste man sich fragen, nach welchem Recht dieser Vertrag gilt, der eine Ermächtigung zur überrechtlichen Immunität enthält. Denn – und das ist das Allerbeste: Was in diesem Vertrag steht, verstößt ebenfalls gegen den Vertrag von Lissabon, der ja Grundlage all dessen ist, was die EU so treibt.

Soweit, so bizarr. Jetzt aber geht der Chef der EZB hin und benimmt sich, als sei er noch bei Goldman Sachs und Legalität für ihn irrelevant. Weil er es für richtig hält – was man so sehen kann, verspricht er die unbegrenzte Finanzierung notleidender EU-Staaten durch die Zentralbank. Das wiederum ist das exakte Gegenteil dessen, was im Vertrag von Lissabon steht. Warum zur Hölle verschwenden diese halbgöttlichen Helden also das ganze Papier?

Noch ein Schirmchen?

Auf der anderen Baustelle hat niemand die Absicht, eine Mauer zu errichten, um sich dahinter zu verkriechen, wenn Horden hungernder Geronten nach den Fallbeil schreien werden. Rente? Die muss man sich halt verdienen. Wer nicht ausreichend leistet, den bestraft die SPD. Gabriels zynische Variante der Armutssicherung von der Leyens bereitet seine Vizekanzlerschaft vor, sonst nichts. Was interessieren ihn die Wähler? Seit Christoph Matschie in Thüringen die SPD auf 9% getrimmt hat und damit stolz regiert, ist klar, dass sie sich nicht einmal mehr die Mühe machen, Leute mit falschen Versprechungen an die Urne zu locken. Sie plündern uns einfach aus wie alle anderen. Da eine Handvoll Funktionäre dafür reicht und die gut versorgt sind, verzichtet die Partei vollständig auf so etwas wie Politik.

Ich nehme das so weit zur Kenntnis, und heute fiel mir auf, dass sich mein Verhalten angesichts dieser Muppet Show wieder einmal dezent verändert hat. Nach dem Zorn kam die Phase des Kopfschüttelns; inzwischen nicke ich aber nur noch zustimmend. Ja, so habe ich mir das vorgestellt. Geht klar, denn es ist irrelevant. Der Eisberg hat sich längst ausgetobt in den unteren Decks, und es ist eine Frage der Zeit, wann das Wasser die kritische Höhe erreicht haben wird. Die Fetten winken uns aus den Rettungsbooten unter den Rettungsschirmen zu. Wir werden zusehen, wie man sie geordnet und sanft zu Wasser lässt.

 
wiwa

Es ist schon erstaunlich: Für die FAZ frotzelt Patrick Bernau über “vier Ökonomen” mit “fünf Meinungen”, um dann festzustellen, sie seien sich doch einig, übersieht aber das Wichtigste: Die verbotene sechste Meinung. Das äußert sich schon in seinem Fazit, als er es fertigbringt, die selbst aufgeworfene Frage zu ignorieren: Wie kann man das Geld “einsammeln”, von dem es “zu viel” gibt? Eine Frage, für die man nichts studiert haben muss und die auch noch keinen Marxismus auf den Plan ruft. Man muss es eigentlich nur lesen: “Geld einsammeln”. Seit der Antike kennt man diesen Vorgang als “Steuern erheben”. Der Neoliberaal darf aber das nasse Zeugs, das im Winter gefriert, nicht “Wasser” nennen. Putzig.

Natürlich hätten wir’s gern auch einmal tiefgründiger und täten wissen wollen – Steuern hin oder her, wieso überhaupt hie die Wirtschaft nichts zu tun hat und dort die Kohle Halden bildet. Wieso obendrein bei einer Arbeitslosigkeit in Europa, die auf die 20% zugeht und längst die kommende Generation abgehängt hat, von “Vollbeschäftigung” geschwafelt wird und die Ursache der Arbeitslosigkeit bei den Arbeitslosen gesucht.

Immer mehr Faulheit

Kurzum: Es wäre dann vielleicht doch an der Zeit, über den tendenziellen Fall der Profitrate im Kapitalismus zu sprechen? Die ihren empirischen Nachweis findet, wohin man auch schaut? Darf man also diskutieren, was zu tun ist, wenn das Kapital sich unter sinnvollen und zweckdienlichen Bedingungen nicht mehr vermehren kann und was dann passiert? Was macht also der Privateigentümer, wenn all sein Geld in der Produktion und den Dienstleistungen keine Rendite mehr abwirft? Wenn die Löhne zu Boden gedrückt, die Produktivität nicht mehr zu überbieten ist und schon alles, was einmal der Allgemeinheit gehörte, an die Privatiers verscherbelt wurde?

Er hält an seinem Glauben an “Wachstum” fest, wo es längst keines mehr geben kann. Er erfindet Geschäfte, die es gar nicht gibt, schließt Wetten auf alles und jedes ab und sieht zu, dass er am Ende die lebensnotwendigen Ressourcen an sich bringt: Immobilien, Energie, Nahrung, Wasser. Dann wird der Rest aus dieser Welt rausgequetscht. Danach wird er versuchen, das Universum zu verkaufen: Sonne, Mond, Sterne, die Wörter der Sprache und die Luft zum Atmen. Ähnlichkeiten mit der tatsächlichen Entwicklung sollen bereits erkennbar sein.

Dabei wird er stets behaupten, das alles sei notwendig, um Arbeit zu schaffen. Arbeit, die trotz aller Produktion für die Tonne und der skurrilsten Geschäfte nicht mehr entsteht.
Der leider nicht mehr ganz profitabel produzierte Zeitgeist hat auch dafür eine Erklärung: Weil es immer mehr faule Leute gibt. Die muss man nur bestrafen und im Elend allein lassen, dann hat es eine Eigenverantwortung und alles wird besser. Und der Mond ist aus grünem Käse, das Kilo jetzt für unerhört günstige zwölf Euro neunundneunzig.

Legalität, internationales Recht, nationales Recht, Menschenrechte, ja selbst Kriegsrecht und die Genfer Konventionen – das alles zählt nicht, wo die totalitäre Weltmacht agiert.
Nils Minkmar erinnert.

Barbra Streisand auch nicht.

 
Edit: Ich habe das Video entfernt, weil es mich nervt, dass es jedesmal lädt, wenn man die Seite aktualisiert. Guxtu bei arte.

Vor einem Jahr schrub ich:

Wenn eine Firma wie Goldman Sachs existieren darf, ist Demokratie vollkommen unmöglich, und wenn eine solche Firma auf die von ihr praktizierte Weise weltweit agieren darf, dann gilt das weltweit. Dies sind keine “Auswüchse” des Kapitalismus, sondern das Resultat perennierender Korruption, die der Macht des Eigentums innewohnt. Man kann das eine nicht ohne das andere haben. [...]
Wer der Ansicht ist, es sei nicht richtig, die Investmentbanken und ihre Teilhaber zu enteignen, ist folgerichtig für die Entmachtung der Politik. Er vertraut sich voll und ganz der Plutokratie an.

Anlässlich des jüngsten Erfolges vor dem US-Justizministerium, das Goldman Sachs vor einer Strafverfolgung bewahrt, möchte ich die Firma feiern und einen ihr zu Ehren produzierten Film empfehlen, der mir zugespielt wurde (Danke, Ludger). Bei dieser Gelegenheit habe ich zu widerrufen, was ich oben zitiere. Es ist zu respektlos. Meine neue Linie, die auch eher dem Untertitel des Blogs entspricht, ist eine andere: Leistung muss anerkannt werden. So wie ich gestern also die neoliberale Rentenpolitik gewürdigt habe, will ich es heute mit der mächtigsten weltweit operierenden Organisation tun.

Blow Job

Goldman Sachs besticht keine Politiker. Es hält sich welche. Sie schaden auch nicht ihrer Konkurrenz. Sie vernichten sie nach allen Regeln der Zunft – und natürlich gern auch außerhalb derselben. Dabei wird keine Demokratie zerstört, vielmehr wird deutlich, dass es dort, wo GS agiert, nie eine gegeben hat und auch kein allzu großes Interesse daran vorherrscht. Somit komme ich zu dem unwiderlegbaren Urteil, dass Goldman Sachs der demokratischen Bewegung Vorschub leistet wie selten ein anderes Phänomen in der Geschichte der Menschheit. Das größte weltweite Sammelbecken für gierige Geldhaie ist ein untrüglicher Indikator für Mängel und ein Ansporn für die demokratische Bewegung, nicht nachzulassen.

“Demokratische Bewegung?”, werdet ihr jetzt fragen, “Welche demokratische Bewegung?”. Eben. Hätten wir nicht diesen großartigen Wassereimer der Machtpolitik, wir könnten die ganzen Löcher in den Schläuchen der politischen Radfahrer gar nicht sehen. So aber sprudelt es aus tausend Quellen, und wir erkennen auf einen Blick: Flicken ist hier absolut sinnlos. Wir brauchen etwas völlig Neues. Was wir hingegen am wenigsten brauchen, sind Leute, die uns weiter Luft pumpen lassen, weil das so schön blubbert.

Erwischt: Er hat “wir” gesagt. “Wer ist ‘wir’”, werdet ihr also fragen und ich erröte wie die Jungfrau vor dem ersten Porno. Ich meine diejenigen, die von alledem noch etwas wissen wollen. Die Wenigen. Die vielleicht zehn Prozent. Die anderen sind die Vielen, ich weiß. Die mindestens siebzig Prozent. Die keine Zeit haben für solche Filme, weil sie so müde sind vom vielen Luft Pumpen.

 
fenster

Im folgenden wird es nicht um die hiesigen Kommentarregeln gehen, auch wenn es aktuell Anlass dazu gäbe. Möglicherweise wäre das gar kein schlechtes Beispiel für das zu schildernde Problem, ich fürchte allerdings, es führte die Sache in eine falsche Richtung.
Es geht um die Grenzen dessen, was private Regelungen leisten können. Und damit auch wieder um jenen ‘Staat’, der eingreift, wenn er eine Gefahr für die Allgemeinheit sieht. Im Grunde ist dieses Problem jenseits des Kampfes Kapital vs. Menschen das zentrale politische Thema auch dieser Zeit. Es wird jeden beschäftigen müssen, der sich mit dem Aufbau von Gesellschaften befasst.

Wo endet das Hausrecht? Welche Mittel stehen ihm zur Verfügung? Ist es denkbar, dass eine Gesellschaft sich ausschließlich um Hausrechte formiert oder ist ein öffentliches Recht, ein Staatsrecht, grundsätzlich notwendig? Letztere Frage kann ich aus meiner Sicht klar beantworten: Ohne ein übergeordnetes Recht möchte ich nicht leben. In meinen Träumen und schönsten Utopien schon, aber nicht mit dem Menschen, den ich kennengelernt habe.

Machtbalancen

Die Erklärung der Menschenrechte war vermutlich die größte Kulturleistung, zu der dieser dilettantisch programmierte Zweibeiner überhaupt in der Lage ist. Ich halte den Nachweis für empirisch erbracht, dass die Durchsetzung von Menschenrechten nur in einer Gesellschaft möglich ist, die allen Menschen die Möglichkeit gibt, auf die ‘politischen’ Vereinbarungen Einfluss zu nehmen, und zwar realen Einfluss und nicht bloß durch die rituelle Bestimmung von Stellvertretern. Wo es also mit den Menschenrechten nicht weit her ist, herrscht ein Demokratiedefizit, in der Regel durch Machtballung.

Eine Höchstschwierigkeit besteht daher andererseits in den Grenzen, in denen ‘politische’ Macht, also öffentliche Vereinbarungen, sich auf das jeweilige Hausrecht auswirken. Die Piratenpartei etwa hat sich um dieses Problem gebildet: Darf ich in meiner Privatsphäre kontrolliert werden? Was sind die Voraussetzungen, wie weit darf das gehen? In welchem Verhältnis steht das Recht der Öffentlichkeit/des Staates zur Privatsphäre, zum Hausrecht? Die radikale Lösung ist wie zumeist keine: “Ohne Staat gäbe es das Problem nicht”. Resultat wäre freilich, dass dann in den jeweiligen Herrschaftszonen irgendwer die Gewalt über Leben, Würde und Freiheit aller Anwesenden hätte.

Es ist nicht einmal sinnvoll, mit der Formel “so wenig staatlicher Einfluss wie möglich” zu operieren, denn das ist nicht ganz zufällig eine tragende Säule der neoliberalen Ideologie. Macht muss an allen relevanten Schnittstellen austariert werden. Die Grenzen des Hausrechts bilden eine dieser Schnittstellen. Es wird nicht einmal eine dauerhaft brauchbare Formulierung für entsprechende Regeln geben, denn sie müssen permanent neu verhandelt und an die Entwicklung der Gesellschaft angepasst werden. Auch für diesen Bereich gilt mein Ceterum Censeo: Macht muss möglichst breit verteilt sein und in ein System gegenseitiger Kontrolle eingebettet. Alles andere mündet früher oder später in Unterdrückung.

p.s.: Da das Ganze bis hierher abstrakt erscheint, versuche ich es mit einer Einstiegsfrage: Kann man nun alles irgendwie privat regeln oder gibt es die Notwendigkeit einer Gesetzgebung? Wo sind die Bereiche, in die kein Gesetz hineinregeln darf? Wie kann die Grenze zwischen privat und öffentlich, Hausrecht und Staatsrecht sinnvoll gezogen werden?

Eine Erbschaftssteuer, die endlich demokratische Zustände etablierte und statt die Dynastien der Superreichen zu schonen wenigstens posthum ein wenig Ausgleich schaffte, ist verpönt beim Gesetzgeber. Durch die Kombination aus Hartz-Gesetzen und Rentenkürzung hat er hingegen eine für diejenigen eingeführt, die noch ein bisschen persönliches Eigentum haben, aber im Alter von der Stütze abhängig werden. Implizit habe ich schon im letzten Posting darauf hingewiesen: Wer zum Beispiel von seinen Eltern eine kleine Immobilie erbt und selbst keine Altersvorsorge mehr hat, darf die Kate erst mal verkaufen, ehe der Staat einspringt. Und natürlich alle sonstigen Vermögenswerte. Erbschaftssteuer von unten nach oben. Sagt, was ihr wollt, aber das Konzept ist genial.

Ich zum Beispiel:

Es sind die anderen, auf die man setzen muss. Der demographische Wasserkopf, die Leute, die zigmillionenfach im Alter von der Stütze leben werden. Die Massen, denen man alles nehmen wird, was sie noch haben, ehe sie in die Sozialrente gehen. Die nicht einmal mehr viel Leben zu verlieren haben. Vor denen hätte ich zukünftig Angst.

Wenn ich aus dem Artikel von Judith Butler schlau werde, muss Antisemitismus eine Art Seinsgeschick sein. Etwas Ewiges und Unteilbares. Zwar spricht sie von “Rassismus und Antisemitismus“, aber dass dieser in jenem aufgehen könnte, scheint unmöglich sein zu müssen. Konsequent zitiert sie daher auch eine “antideutsche Linke”, eine Splittergruppe, an der ich nichts Linkes finden kann, die jeden Diskurs mit einer bräsigen Ideologie ruiniert.

Ich halte mich mit Äußerungen zu Israel und den Machenschaften seiner Regierung bekanntlich zurück, einfach weil es eben nur Reflexe auslöst, wenn ein nichtjüdischer deutscher Staatsbürger simple Kritik übt. Ich vertraue da auf kluge Menschen anderer Nationalitäten. die auch sehen, was nicht zu übersehen ist und sagen, was ist. Zum Antisemitismus in Deutschland muss ich Stellung beziehen, und da fällt mir auf, dass er längst ein Rassismus ist, der mit Juden und Judentum erkennbar nichts zu tun hat. Ich stelle ohne Häme fest, dass es schwer sein muss für die Nachkommen der Opfer des Holocaust, aber ihr Schicksal ist nicht frei von einer furchtbaren Beliebigkeit. Antisemitismus ist dementsprechend austauschbar.

Banales Grauen

Wer Opfer eines Verbrechens wird, ist meist nicht der einzige, dem dies widerfahren kann, es hat ihn bloß erwischt. Die Opfer werden von den Tätern nach Kriterien ausgesucht, die der Täter für sich definiert. Er hält sie in der Regel für leichte Beute, das Ziel muss ‘schwach’ sein. Der Übergang von Mobbing über den Rassismus, die Gewalt und den Krieg zur Massenvernichtung ist fließend. Das Grauen ist banal. Es hat nichts Mystisches oder Ontologisches.

Die Struktur dessen, was zynisch als “Islamkritik” verbrämt wird und dem Antisemitismus ist nicht bloß analog, sondern identisch. Die Horden hassbewegter Rassisten, die ‘den Moslems’ genetisch bedingte Dummheit und Gewaltbereitschaft andichten, sind dieselbe Charge, die den Juden das Streben nach Weltherrschaft nachsagen. Beide ‘Rassen’ sind demnach gefährlich und daher Feinde, im Kampf ums Überleben also Todgeweihte.

Der Herrenmensch und die Anderen

Der asymmetrische dritte Weltkrieg verklärt längst die halbzivilisierten Muselmanen zum Freiwild wie im zweiten das Judentum zum Ungeziefer degradiert wurde. Beide Varianten sind Konsequenzen kapitalistischer Verwertung, der ein passender Rassismus stets die letzten Mittel in die Hand gibt. Dass nur der heutige Exportweltmeister so gründlich war, gleich Millionen von Menschen zum Material des Prozesses zu machen und sie wie jedes andere in Produkte oder Asche zu transformieren, wird ein Wert für die Ewigkeit bleiben.

Daraus gelernt hat hier kaum wer. Das Hetzwerk Sarrazins trumpft mit demselben Rassismus auf wie einst ‘Mein Kampf’, ist dabei allerdings noch perfider. Die rassistische Diskriminierung von “Türken und Arabern” folgt dem bekannten Muster, Menschengruppen für minderwertig zu erklären und damit zum Feind, zum potentiellen selbstverschuldeten Opfer. Dass er aber im gleichen Atemzug die Juden diskriminiert, die “intelligenter” seien, ist der Diskussion weitgehend entgangen. Wo das drin steht, kann auch bald “verschlagener” stehen, “hinterhältig” oder sonst etwas. Die Zuschreibungen des Rassismus sind Variablen. Sie können mit beliebigen Werten gefüllt werden. Daher ist Sarrazins Machwerk nachgerade virtuos. Sein widerliches Herrenmenschenurteil über ‘die Juden’ kommt daher wie das Trojanische Pferd, als Schmeichelei.

Selber schuld

Antisemitismus ist kein Thema. Schon gar nicht von Deutschen, die schon glauben, sie seien keine Antisemiten, weil ihnen zu Juden nichts einfällt und sie eh keinen kennen. Die Rituale der geheuchelten Scham unserer Repräsentanten bei Gedenktagen machen es nicht besser. Zu viele von ihnen waren längst als Menschenhasser aufgefallen, Rassisten und Freunde von Rassisten, Parteifreunde von Nazis oder gleich selber welche, als sie ihre schlecht geübte Trauermiene aufsetzten. Das funktioniert nur leidlich und sagt nichts. Schlimmer kann man das Vergessen kaum organisieren.

Was zu tun ist, ist die Ächtung von Rassismus und Diskriminierung schlechthin. Man muss ihn und seine Ursachen erkennen, benennen und eindämmen. Dazu sind aber alle jene nicht bereit, die ihren Popanz brauchen. Und alle diejenigen, die im Konkurrenzkampf Munition für ihre Gnadenlosigkeit brauchen. Schließlich jene, die eine schale Rechtfertigung brauchen dafür, dass sie über Leichen gehen. “Selber schuld” ist das Motto der Rassisten. Wo das erklingt, wird zugeschlagen.

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