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Mai 2008


Ein Taktiskpiel für die ganze Familie. Regieren kann so schön sein, und sogar ein Staatsoberhaupt kann man küren. Die Spieler treten mit Einstellungen an, die so betonfest sind wie die Frisur von Gesine Schwan. Die hehren Werte sind durchzusetzen, auch wenn es einmal schwierig wird: Der blöde Wähler hat mal wieder sein Kreuzchen an der falschen Stelle gemacht. Jetzt heißt es schachern, taktieren, intrigieren. Das Erweiterungsset “Linkspartei”, jetzt aktuell im Handel, macht die Sache noch spannender. Überall sitzen die Roten herum, keiner darf ihnen aber zu nahe kommen. Koalition? Undenkbar, dann lieber gar keine Mehrheit! Tolerierung? Ist doch fast eine Koalition. Neben einem Sitzen, gar mit ihm sprechen? Ist so gut wie toleriert.
Nichts geht mehr in der Demokratie. Die Variante für Anfänger: Sie sind CDU-Vorsitzende und müssen zusehen, daß sie an der Macht bleiben. Eine lösbare Aufgabe, wenngleich ihr Lieblingskoalitionspartner so abschmiert, daß sie doch wieder um die Mehrheit fürchten müssen. Oder Sie sind ein Linker. Hier kommt es ganz auf das Ziel an: Unregierbarkeit? Kein Problem. Aber wie wollen Sie je mitregieren? Eine Variante für Profis. Schließlich: Retten Sie die SPD! Die wohl größte Herausforderung für echte Zocker. Sie haben nichts zu verlieren, aber was machen Sie? Den nächsten Vorsitzenden schassen? Ganz auf neoliberal machen? Oder alles auf eine karte setzen und mit dem roten Oskar in die Einheitspartei? Finden Sie den dritten Weg!
Ganz großes Unterhaltungskino auf dem politischen Reißbrett, vorgestellt bei SpiegelOnline.

Die Supermarktkette REWE darf in ihren Filialen keine Versicherungen mehr verkaufen. Das Landgericht Wiesbaden hat der deutschen Wirtschaft mit dieser Willkürentscheidung großen Schaden zugefügt. Der ALDI-Konzern hat ebenfalls bereits einen Rückzieher gemacht, nachdem die Finanzaufsicht Bedenken geäußert hatte. Hand in Hand zerstören Gerichte und Behörden den Finanzstandort Deutschland. Führende Vetreter von Banken und Versicherungen schlagen Alarm. Ein Schweizer Chef einer deutschen Großbank, der nicht genannt werden möchte, ist den Tränen Nahe, als er warnt: “Wo sollen wir unsere Produkte dann noch an den Mann bringen? Wenn wir jetzt noch die Optionsscheine von den Wühltischen nehmen müssen, geht eine ganze Branche den Bach runter!”
Der Linksruck ist überall spürbar, Lafontaine kurz vor der Machtübernahme. Ist das noch eine Demokratie, in der Unternehmen derart gegängelt werden?

 
 

‘Eigentum verpflichtet’ steht im Grundgesetz, und “sein Gebrauch (soll) zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen”. Es ist schön, dass man das wieder zitieren darf, ohne für einen Kommunisten gehalten zu werden.


Heribert Prantl

bykovfetisov
Es geschieht ja durchaus häufiger, daß Journalisten nicht nur voneinander abschreiben, sondern daß es offenbar nur fünf Agenturmeldungen gibt, die an einem Tag einen Artikel wert sind. Heute ist so ein Tag, da könnte man auf die Idee kommen, es gäbe eine nationale Zentralredaktion, deren Ergüsse eben in allen Zeitungen zu erscheinen hätten. Als Zeichen journalistischer Freiheit allerdings in unterschiedlichem Wortlaut. Ich frage mich, ob sich denn niemand findet, der aus tausenden Meldungen etwas Interessanteres filtern kann oder sein Standardmenü wenigstens mit ein bißchen Schmackes servieren.
Wenn nämlich nicht, dann geht auch der Sport von gestern. Allemal spannender und hintergründiger als der Einheitsbrei aus der Agenturdose. Und das geht so:
Gestern berichtete die NZZ vom “Kontrollrausch der UEFA”: Diese will es sich vorbehalten, bei der anstehenden Fußball-WM nicht nur eine Gesichtskontrolle durchzuführen, sondern auch eine des Outfits. Sollten sich etwa größere Gruppen von Menschen einfinden, die Trikotwerbung eines nicht offiziellen Sponsors zur Schau tragen, droht ihnen Ungemach. Sie sollen ggf. ihre Accessoirs abgeben müssen. “Zieht euch aus, wenn ihr keine Sponsoren seid”, schallt es arhytmisch von den Rängen. Noch besser aber ist die Geschichte rund ums “Public Viewing”:
Die Uefa sieht die Uefa Euro 08 TM als ihr Produkt und Eigentum. Daher verlangt sie von kommerziellen EM-Bar-Betreibern eine Urheberrechtsgebühr, wenn diese die Spiele auf einer Grossleinwand von über drei Metern Diagonale zeigen. Als Sport aber ist Fussball ein Gut der Allgemeinheit. Wäre dem nicht so, dann müsste die Uefa ihren auf eine Milliarde geschätzten Gewinn an der Euro 08 versteuern. Als gemeinnütziger Verein nämlich ist sie nur dann steuerbefreit, wenn ihre Arbeit dem Allgemeinwohl dient“.
Ja, das Allgemeinwohl! Dem ist die UEFA feste verpflichtet, und nur dem. Mag das Public Viewing in Gefahr sein – für Public Wiehern ist gesorgt.
Wie man es fast richtig macht, demonstrierte dagegen Karlheinz Rummenigge, der seinen Regierenden Oberbürgermeister Ude zur Meisterfeier einbestellt hatte. Ude war aber nicht gekommen, also hat der Vorstandsvorsitzende des ehemaligen FC Bayern München “e.V.”, heute “AG”, mal klar gemacht, wie die Bayern einen Titel feiern. Da wird sich nicht gefreut und gesoffen, nein. Meistertitel ist normal. Nicht normal ist, daß die Politik sich nicht zu Füßen der Aktiengesellschaft krümmt und ihrem Vorstand huldigt. Fur Feier des Tages wird folgerichtig der OB zur Sau gemacht. So ist’s zünftig. Nächstes Jahr ist dann die Kanzlerin dran.
Erfreulicher, jedenfalls für Anhänger echten Mannschaftssports, war das gestrige Finale der Eishockey-WM. Unfaßbar schnelles Hockey, virtuose Techniker, faszinierende kanadische Stürmerstars und am Ende der Sieg einer Mannschaft, die einfach eine war. Und was für eine! Die Kombinationen erinnerten teilweise an die große Zeit der Sbornaja. Und sie haben es nach all den Jahren auch einfach mal verdient. Herzlichen Glückwunsch, Rußland!

Darf man als Deutscher noch Brot essen? Wie die Nachrichtenagentur Tasskaff herausgefunden hat, soll sich die linkssozialistische Kommunistin Sahra Wagenknecht von Brot ernähren. Damit hat sie geschafft, was selbst islamistischen Terroristen nicht gelungen ist: 78% der Deutschen schmeckt ihr Brot nicht mehr. Dies hat das Institut Demaskop in einer präsidialen Umfrage festgestellt.
Außerdem beschimpft die Nachfolgerin der stalinistischen Honeckerpartei die Bundeskanzlerin als Nachfolgerin der Hitler-Unterstützer. Diese Verdrehung freiheitlich demokratischer Geschichtsklitterung hat die Sueddeutsche hellwach dem Volkszorn überantwortet. Man kann nicht dankbar genug zur Kenntnis nehmen, daß Frau Wagenknecht und ihre Kolonne keinen Furz lassen können, ohne daß dieser sofort den Vergleich mit “Common Sense” anzutreten hat, dem Parfum der Einigkeit, des Rechts und der Freiheit.

Ich war für einige Minuten geneigt, diese Albernheit zu löschen (meine, nicht die der Sueddeutschen), dann fiel mir aber auf, daß auch ein äußerst mäßiger Text eine akzeptable Replik auf auf einen äußerst überflüssigen Text sein kann. Was ich sagen will: Wen interessiert Sahra Wagenknecht? Sie ist noch Mitglied des Europäischen Parlaments, wo sie sich keine nennenswerte Blöße gegeben hat. Sie wird nich einmal als Stellvertretende Vorsitzende der “Linken” kandidieren. Sie ist als Politikerin irrelevant. Sie eignet sich hingegen hervorragend zum Hervorrufen von Reflexen, die dem Spektrum von konservativ über neoliberal bis rechtsradikal den Schaum vor den Mund treibt, insofern ist sie mehrheitsfähig dämonisch. Das ist alles, und das ist alles, was sich als staatstragend verstehende Journalisten und ihre politischen Spesenritter in der Auseinandersetzung mit der “Linken” aufzubieten haben. Wo sind die Argumente? Die “Linke” ist eine Partei des politischen Mittelmaßes. Niemand will so etwas in einem Parlament haben. Gebt mir überzeugende Argumente! Sagt irgendetwas, das mich davon abhält, sie zu wählen!

Die RP weiß es:
Die deutsche Wirtschaft wächst derzeit so stark wie seit zwölf Jahren nicht mehr. Auch die Finanzkrise ändert daran nichts. Die Krise kommt auf dem Arbeitsmarkt an. Sogar junge Menschen ohne Abschluss haben wieder Chancen.”
Das Zitat ist nicht aus dem verlinkten Artikel, sondern aus dessen Einleitung auf der Startseite. Der Titel dort:
Warum es unserer Wirtschaft so gut geht“.
“Unserer” Wirtschaft geht es gut, weil die Finanzkrise auf dem Arbeitsmarkt ankommt, aber die Umsätze nicht schmälert. Herrlich ehrlich – oder doch ein Fauxpas?
Für letzteres spricht der anders lautende Auftakt des Artikels.
Wachstum überrascht” ist dort die Headline, weiter heißt es:
Die deutsche Wirtschaft wächst so stark wie zuletzt vor zwölf Jahren, die Finanzkrise kann ihr nichts anhaben. Auch Geisteswissenschaftler und Schulabgänger ohne Abschluss sind zunehmend gefragt.
Ein nicht minder gelungenes Bonmot. “Geisteswissenschaftler und Schulabgänger ohne Abschluss”, in einem Atemzug stehen sie stramm vor dem geistigen Auge des amüsierten Lesers, die Überschüssigen und Überflüssigen des hiesigen Marktgeschehens. Wenn sogar diese gebraucht werden, muß der Laden wohl brummen.
Die gesammelten Fragen und nicht wirklich lehrreichen Antwortfloskeln, die dann folgen, sind offenbar die Staffage für ein weiteres ironisches Kleinod, das ich vergnügt dokumentiere:

helmfried

Hier entstehen also Arbeitsplätze. Die Interpretation dieses Glanzstücks bildender Kunst überlasse ich der Redaktion des Quotenhits “100 journalistische Meisterwerke”. Man darf konzedieren: Unserer Wirtschaft geht es gut. Und wenn selbst die Rheinische Post solch feinsinnigen Humor entwickelt, dann geht es uns allen gut – wer immer “wir” auch sein mögen.

In der Bewertung der sog. “Bürgerarbeit” habe nicht nur ich den NS-Slogan (wenn auch abgewandelt) zitiert, sondern er wird in vielen anderen, ebenfalls nicht unbedingt fanatisch “antifaschistischen” Blogs in Stellung gebracht. Einige erklärende Worte, was für mich dahinter steht:
In einer Arbeit zur “Dialektik der Aufklärung” stellte ich fest, daß die Idee, der Mensch müsse, um Subjekt zu werden, sich selbst und die Natur unterwerfen, ihre sehr realen Entsprechungen hat. Es fiel mir auf, daß dieser Vorgang im Holocaust seine konsequenteste Ausprägung erfuhr. Mir fehlt die Ahnung, wie die Nazis, sonst nicht eben poetisch veranlagt, ihr Werk derart treffend überschreiben konnten, aber “Arbeit macht frei” ist nicht nur unfaßbar zynisch, sondern es hat auch seine tiefe Wahrheit.
Die vollendete Hoheit des Produktionsprozesses über das Natürliche des Menschen, sein nacktes Leben, ist die industrielle Massenvernichtung. Der Prozeß der Umwandlung menschlichen Lebens in totale Arbeitskraft (bis zum Tod), Asche und Gebrauchsgüter ist beinahe ein Arbeitsprozeß wie jeder andere auch. Das Substrat ist freilich ein anderes, und eine Besonderheit bringt dieser Prozeß hervor: Es ist das Substrat selbst, das an der Umwandlung auf beiden Seiten beiteiligt ist: Als Arbeiter und als Produkt. Der Arbeiter vernichtet, das Produkt ist der vernichtete Arbeiter. Nur, wer noch arbeitet, ist “frei”. Diese “Freiheit” ist nichts anderes als das immer bedrohte Überleben.
Arbeit in diesem Sinne war unter der Herrschaft der Nazis für alle dasselbe: Beteiligung an der Vernichtung. Wer sich weigerte, kam auf die andere Seite. Nicht alle hatten die Wahl, das unterschied etwa Juden von “Nichtjuden”.

Jenseits dieser wahnhaft konsequenten Auslegung des Produktionsprozesses gilt es durchaus nicht als fragwürdig, daß die “Arbeitskraft” der Menschen auf dem “Markt” als “Ware” angeboten und gehandelt wird. Es gilt nicht etwa als skandalös, daß die menschliche Tüchtigkeit und Kreativität mit anderen “Waren” quasi konkurrieren muß. Ich möchte an dieser Stelle gar nicht diskutieren, ob das hinnehmbar ist, geschweige denn Alternativen dazu ins Spiel bringen. Es soll hier nur festgestellt werden, daß in einer “Marktwirtschaft” eben Arbeit gegen Geld verrichtet wird, und daß man diesen Vorgang unterschiedlich betrachten kann.
Es wird dabei äußerst unappetitlich, wenn diese martkwirtschaftliche Wirklichkeit mit einer Ideologie verbunden wird, die den Menschen als eine Arbeitskraft betrachtet, die sich durch Teilnahme an jenem Marktgeschehen ihr Leben zu “verdienen” hätte. Es wird unerträglich, wenn dies die herrschende Ideologie ist und deren Vetreter glauben, sie dürften den Menschen, die nicht Teil des Marktgeschehens sind, Zwang und Entwürdigung auferlegen. Es mag verzeihlich sein, daß in Zeiten des Neoliberalismus viele Diskutanten und Entscheidungsträger nicht das intellektuelle Vermögen aufbringen, die genannten Zusammenhänge zu erkennen oder zu hinterfragen. Wenn aber der Dynamik einer nicht eben menschenfreundlichen Ideenlehre derart blind gefolgt wird, daß wieder Menschen pauschal beschuldigt werden, an ihrem Elend selbst schuld zu sein und sie mit dieser Begründung zu Arbeiten gezwungen werden, ist es nicht mehr allzuweit bis zur letzten Konsequenz. Der “Bürger” ist der freie Mensch, diesen Anspruch haben die demokratischen Revolutionen aufgebracht, und er wurde in den vergangenen Jahrhunderten gegen viele Vergewaltigungen verteidigt. Dies übrigens auch gegen die Faschisten, was ein Grund ist, warum ich nicht von “Wirtschaftsfaschismus” sprechen mag. Inwiefern dies bürgerliche Ideal je erfüllt wurde, darüber mag man auch vortrefflich streiten.
Die “Bürgerarbeit” ist als Begriff wie als Realität aus dieser Sicht eine Chimäre, die den Bürger, seine Freiheit und Würde nicht mehr nur negiert. Sie ist dem Überbau des nationalsozialistischen Terrors deutlich näher als jeder noch demokratischen Haltung. Der “Bürger”, der damit bezeichnet wird, ist nicht einmal mehr Ware auf dem Arbeitsmarkt. Er ist Delinquent, der zur Strafe seiner marktwirtschaftlich erfolglosen Existenz gehetzt wird: “Keine Zeit, zu Hause zu bleiben” soll er mehr haben. Er wird dem Markt sogar entzogen, denn wer mit unbezahlter Zwangsarbeit beschäftigt wird, hat auch keine Gelegenheit mehr, sich wenigstens zu einer Ware zu machen, die einer Bezahlung würdig wäre. Er ist Ausschuß, Marktmüll.
Das ist nicht “faschistisch”, es ist viel gnädiger, denn jeder kann das Glück haben, daß er nicht so endet, selbst Marktmüll hat das Recht, an Wahlen teilzunehmen, und niemand wird hingerichtet.
“Arbeit macht frei” heißt in diesen Zeiten nicht mehr, daß man Leben vernichten muß, um nicht ermordet zu werden. Es heißt heute, daß man am Prozeß der Warenproduktion und Vermögensverteilung teilhat, um sich als “wertvoller” Mensch fühlen zu dürfen. Es heißt, daß man als “wertlos” zu gelten hat, wenn man dieser Teilhabe entzogen ist, mit durchaus physischen und (anti-)bürgerrechtlichen Konsequenzen.
Läßt man diesen Schritt zu, erlaubt man also einer Gesellschaft, so mit ihren “Bürgern”, welcher Klasse auch immer, umzugehen, dann darf man sich auf den nächsten Schritt ebenso gefaßt machen. Dazu bedarf es nicht einmal eines Feindbildes, sei es der Jude oder der Moslem. Die sogenannte “Bürgerarbeit” ist die Verletzung eines Tabus, die auch und gerade bürgerlich geprägte Menschen auf die Barrikaden treiben muß.

Das Zwiesprech der besserverdienenden Politeska wird immer ekelhafter: “Bürgerarbeit” ist der aktuelle Hit, der für Vollbeschäftigung bei voller Arbeitslosigkeit sorgen soll. Eigentlich als freiwillige Leistung angedacht, finden sich sogleich Verächter des Prekariats, die eine Zwangsarbeit daraus machen wollen.
Die “Welt” bejubelt diese Groteske und freut sich,
dass durch die Umsetzung des Bürgerarbeit-Modells ein Beschäftigungseffekt von bis zu 1,4 Millionen Arbeitsplätzen ausgelöst werden könnte.”
Verstand man in erträglichen Zeiten unter “Arbeitsplatz” noch das, was der Begriff aussagt, ist heute “Beschäftigungseffekt” das Gebot der Stunde, will heißen: Verfälschung der Statistik unter besonderem Vergnügen am Zwang. Wer nicht will oder einen Termin verpennt, dem wird das Existenzminimum zusammengestrichen. Soll er sich doch von der “Tafel” ernähren oder ehrlich klauen gehen. Welt.de ist ist eingangs offener als eigentlich gewollt und benennt klar und deutlich, worum es geht:
die Daumenschrauben für Langzeitarbeitslose anziehen“.
Schönes Bild. Es paßt. Um nichts anderes geht es nämlich: Daumenschrauben oder Bürgerarbeit – Nur Arbeit macht frei.
Mit dem Konzept sei „keine Arbeitspflicht“ verbunden, wohl aber eine „Pflicht zur Mitwirkung“. Kein Arbeitsloser solle Zeit haben, schwarz zu arbeiten oder einfach zu Hause zu bleiben.
Nein, es gibt keine Pflicht, alles ist “freiwillig”. Kann man es noch provokativer formulieren? “Zwangsarbeit” heißt jetzt “Mitwirkung”. Was bedeutet es denn, “keine Zeit” zu haben, “zu Hause zu bleiben”? Liest man diesen Satz so, wie er da steht, muß jeder verhaftet werden, der sich weigert. Sprachlich unübertroffen perfide ist das Bild der “Daumenschrauben”, das vor der nackten Wirklichkeit seine Symbolhaftigkeit verliert. Ich weiß nicht, was mich mehr auf die Palme bringt – die Unterjochung der Arbeitslosen oder die begleitende Propaganda durch die Journaille. Mit Verlaub, ich könnte kotzen.

Nicht gar so geifernd wie seine Kollegen, aber auch herzlich desorientiert über die Wirklichkeiten läßt sich Jens Jessen über das Internet und seine gehässigen ‘Bewohner’ aus. So beklagt er etwa
die von allen sozialen und intellektuellen Zugangsschranken befreite Öffentlichkeit“.
Jeder trifft dort jeden, auch solche, die sich sonst aus dem Wege gehen, und so würden Konflikte geschürt und ausgetragen, die sonst nicht stattfänden. Eine Ursache dessen sieht Jessen in dem Umstand, daß man ja nichts zahlen muß:
Das ist im Prinzip auch mit den Druckerzeugnissen nicht anders, die in einem Kiosk ausliegen; jedoch muss man sie kaufen, und diese kleine finanzielle Zumutung ist offenbar eine zuverlässige Sperre, sich von dem fernzuhalten, was einen nichts angeht.[...] Das ist ein bedeutender Umstand. Der publizistische Frieden bleibt bewahrt durch die Segmentierung des Publikums.
Dem entgegen steht “das alltägliche Grauen des Netzes“.
Dies Grauen sei real, denn:
Das Internet als virtuellen Raum zu denken war nichts als ein Irrtum, der durch die Möglichkeit zu Maskeraden, zu Schein- und Tarnidentitäten inspiriert wurde.”
Zu einer solchen Bewertung der virtuellen Realität kommt man freilich, wenn man die Welt im allgemeinen und das Netz im besonderen mit seiner gemütlichen Redaktionswirklichkeit vergleicht, die einem der Nabel der Welt ist. Das “Netz” ist aber unbestreitbar ein Raum. Und er ist virtuell, insofern er körperlos ist. Der virtuelle Raum als solcher ist also einer der Begegnung ohne physische Anwesenheit. Ansonsten spielt sich hier ab, was in der physikalischen Welt auch stattfindet, mit dem Unterschied, daß hier keine Zähne gespuckt werden und niemand tot umfällt. Dazu bedarf es noch einer Begegnung im Real Life. Vergleicht man nun sinnvollerweise das Netz mit anderen Räumen der Begegnung, wird es ganz und gar undramatisch. Herr Jessen sei der Besuch einiger Kneipen und ähnlicher Etablissements empfohlen. Dort wird er Einseitigkeit, Provokation, Extremismus und Hass reichlich finden, ganz wie im Internet. Und auch dort muß man meist keinen Eintritt zahlen. Auch dort gibt es friedlichere und weniger friedliche Ecken. Auch dieser Raum ist nur bedingt segmentiert, und das ist begrüßenswert, auch und gerade für Journalisten. Im Kontext mit dem schönen Thema “Integration” ist das Gejammer immer groß, daß sich da welche friedlich abspalten. C’est la vie, was will er denn?
Ich unterstelle Jessen nicht, daß er mit seiner Einlassung Zeitungskunden gewinnen will oder gar eine böse kapitalistische Gesinnung entäußert. Nein, er ist einer jender Simpel seines Standes, für die Journalismus eben gut und freie Kommunikation im Netz böse ist. Die Betriebsblindheit, mit der er zu Werke geht, ist nur deshalb nicht erschütternd, weil man sich bereits daran gewöhnt hat. Er meint:
Auf nichts anderem beruht der strategische Einsatz von Videos (auf YouTube beispielsweise), um Politiker zu diskreditieren oder zu promovieren oder auch nur, wie jüngst geschehen, eine private Scheidungsgeschichte öffentlich zu machen. Die Mobilisierung von öffentlichem Hass auf den Ehemann soll sich selbstverständlich nicht auf das Netz beschränken, sie soll in der realen Welt den Prozessausgang beeinflussen.
Private Scheidungsgeschichten von Politikern oder anderen Promis öffentlich zu machen, ist also das Grauen des Netzes, vor dem der gute Journalismus schützt? Herr, laß Hirn vom Himmel fallen!
Die Konsequenz, die Jessen fordert, ist dieselbe, die Leute wie Jörges und Konken in einem Mix von Anhnungslosigkeit und der Sehnsucht nach der Diktatur beschreien:
Verhindert werden kann dies nur, wenn das Internet nicht weiterhin als nahezu rechtsfreier Schonraum behandelt wird, sondern die Gesetze, die für andere Medien gelten, auch dort systematisch zur Geltung gebracht werden. Insbesondere Anonymität darf nicht geduldet werden, wenn man nicht zulassen will, dass ein namenloser Pöbel marodierend durchs Netz zieht.”
Wie oft man es ihnen ins Ohr träufeln, vor die Stirn hämmern, geduldig vorbeten, daß das Netz nicht kontrollierbar ist? Es sei denn, man macht es wie China, Nordkorea und andere Staaten, die nicht nur ihr eigenes Volk unterjochen, sondern auch dafür sorgen, daß von draußen nichts Mißliebiges eindringt? Soll er doch deutlich sagen, wie er sich das vorstellt: “Gesetze” “systematisch zur Geltung” zu bringen! Ist er intellektuell dazu nicht in der Lage, oder bringt er den Mut nicht auf? Wie dem auch sei, es bleibt trostlos.

Die GdL hat noch nicht genug gestreikt. Nachdem allen Versprechungen zum Trotz – nicht zuletzt solchen des seinerzeitigen Transnet-Chefs Hansen – eine schleichende Vollprivatisierung ins Rollen gebracht wurde, sollen dem Konzern schon bald die ersten Scheiben abgeschnitten werden. Durch die Gründung von Tochtergesellschaften werden bestehende Tarifvereinbarungen unterwandert. Und das ist längst nicht alles: Die Regionalisierung wird mehr und weniger einträgliche Tochtergesellschaften hervorbringen. Die weniger einträglichen werden die auf dem Land (“in der Fläche”) sein. Selbige werden dann abgewickelt, Strecken stillgelegt. Die Bahn und ihre Aktionäre wollen Gewinne. Wie Menschen von A nach B kommen, ist in Zukunft wurscht. Soll die Oma sich doch ein Taxi in die nächste Stadt nehmen!
Nun schickt Mehdorn ausgerechnet den ausgewiesenen Verräter Hansen vor und läßt ihn erklären:
Es wird unter meiner Verantwortung keine Tarifflucht geben.“
Das ist dann wohl sein Ehrenwort. Rette sich, wer kann! Nicht jeder Charakterdäumling endet in einer Badewanne, und bei aller Friedfertigkeit kann man das in Einzelfällen durchaus bedauern.

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