Nicht gar so geifernd wie seine Kollegen, aber auch herzlich desorientiert über die Wirklichkeiten läßt sich Jens Jessen über das Internet und seine gehässigen ‘Bewohner’ aus. So beklagt er etwa
die von allen sozialen und intellektuellen Zugangsschranken befreite Öffentlichkeit“.
Jeder trifft dort jeden, auch solche, die sich sonst aus dem Wege gehen, und so würden Konflikte geschürt und ausgetragen, die sonst nicht stattfänden. Eine Ursache dessen sieht Jessen in dem Umstand, daß man ja nichts zahlen muß:
Das ist im Prinzip auch mit den Druckerzeugnissen nicht anders, die in einem Kiosk ausliegen; jedoch muss man sie kaufen, und diese kleine finanzielle Zumutung ist offenbar eine zuverlässige Sperre, sich von dem fernzuhalten, was einen nichts angeht.[...] Das ist ein bedeutender Umstand. Der publizistische Frieden bleibt bewahrt durch die Segmentierung des Publikums.
Dem entgegen steht “das alltägliche Grauen des Netzes“.
Dies Grauen sei real, denn:
Das Internet als virtuellen Raum zu denken war nichts als ein Irrtum, der durch die Möglichkeit zu Maskeraden, zu Schein- und Tarnidentitäten inspiriert wurde.”
Zu einer solchen Bewertung der virtuellen Realität kommt man freilich, wenn man die Welt im allgemeinen und das Netz im besonderen mit seiner gemütlichen Redaktionswirklichkeit vergleicht, die einem der Nabel der Welt ist. Das “Netz” ist aber unbestreitbar ein Raum. Und er ist virtuell, insofern er körperlos ist. Der virtuelle Raum als solcher ist also einer der Begegnung ohne physische Anwesenheit. Ansonsten spielt sich hier ab, was in der physikalischen Welt auch stattfindet, mit dem Unterschied, daß hier keine Zähne gespuckt werden und niemand tot umfällt. Dazu bedarf es noch einer Begegnung im Real Life. Vergleicht man nun sinnvollerweise das Netz mit anderen Räumen der Begegnung, wird es ganz und gar undramatisch. Herr Jessen sei der Besuch einiger Kneipen und ähnlicher Etablissements empfohlen. Dort wird er Einseitigkeit, Provokation, Extremismus und Hass reichlich finden, ganz wie im Internet. Und auch dort muß man meist keinen Eintritt zahlen. Auch dort gibt es friedlichere und weniger friedliche Ecken. Auch dieser Raum ist nur bedingt segmentiert, und das ist begrüßenswert, auch und gerade für Journalisten. Im Kontext mit dem schönen Thema “Integration” ist das Gejammer immer groß, daß sich da welche friedlich abspalten. C’est la vie, was will er denn?
Ich unterstelle Jessen nicht, daß er mit seiner Einlassung Zeitungskunden gewinnen will oder gar eine böse kapitalistische Gesinnung entäußert. Nein, er ist einer jender Simpel seines Standes, für die Journalismus eben gut und freie Kommunikation im Netz böse ist. Die Betriebsblindheit, mit der er zu Werke geht, ist nur deshalb nicht erschütternd, weil man sich bereits daran gewöhnt hat. Er meint:
Auf nichts anderem beruht der strategische Einsatz von Videos (auf YouTube beispielsweise), um Politiker zu diskreditieren oder zu promovieren oder auch nur, wie jüngst geschehen, eine private Scheidungsgeschichte öffentlich zu machen. Die Mobilisierung von öffentlichem Hass auf den Ehemann soll sich selbstverständlich nicht auf das Netz beschränken, sie soll in der realen Welt den Prozessausgang beeinflussen.
Private Scheidungsgeschichten von Politikern oder anderen Promis öffentlich zu machen, ist also das Grauen des Netzes, vor dem der gute Journalismus schützt? Herr, laß Hirn vom Himmel fallen!
Die Konsequenz, die Jessen fordert, ist dieselbe, die Leute wie Jörges und Konken in einem Mix von Anhnungslosigkeit und der Sehnsucht nach der Diktatur beschreien:
Verhindert werden kann dies nur, wenn das Internet nicht weiterhin als nahezu rechtsfreier Schonraum behandelt wird, sondern die Gesetze, die für andere Medien gelten, auch dort systematisch zur Geltung gebracht werden. Insbesondere Anonymität darf nicht geduldet werden, wenn man nicht zulassen will, dass ein namenloser Pöbel marodierend durchs Netz zieht.”
Wie oft man es ihnen ins Ohr träufeln, vor die Stirn hämmern, geduldig vorbeten, daß das Netz nicht kontrollierbar ist? Es sei denn, man macht es wie China, Nordkorea und andere Staaten, die nicht nur ihr eigenes Volk unterjochen, sondern auch dafür sorgen, daß von draußen nichts Mißliebiges eindringt? Soll er doch deutlich sagen, wie er sich das vorstellt: “Gesetze” “systematisch zur Geltung” zu bringen! Ist er intellektuell dazu nicht in der Lage, oder bringt er den Mut nicht auf? Wie dem auch sei, es bleibt trostlos.