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Mai 2010


Als ich zum 1. Mai von “Arbeitern” sprach, meinte ich alle, die nicht von ihrem Eigentum leben können. Das bezieht also folgerichtig Selbständige mit ein. Diese Gruppe, die bei der letzten BuTaWa zu 26% FPD gewählt haben soll, ist ein ganz besonderes Völkchen.
Ich kenne die klassischen Kleinunternehmer als professionelle Steuerabsetzer, und bei manchen habe ich den Eindruck, daß sie mehr als die Hälfte ihrer Zeit damit verbringen, Quittungen zu sammeln.
Der selbständige Packan ist per se ein Leistungsträger, der für “seinen” Laden “verantwortlich” ist, und sei es nur ein Bauchladen. Soviel stimmt zumindest: Es ist seine Pleite, wenn es schiefgeht, und ggf. droht dann ebenfalls Hartz IV.

Neben den Spesenrittern, die gern auch Zuarbeiter hundsmiserabel bezahlen, weil sie sich eigentlich keine leisten können, gibt es zunehmend und staatlich gewollt Zwangsabenteurer, die vor sich hinwurschteln, weil sie den letzen Ausweg in einer Scheinselbständigkeit suchen. Damit ist nicht nur die gesetzlich definierte Spielart gemeint, sondern darüber hinaus ein Bemühen um ein Auskommen, das mangels Kompetenz zum Scheitern verurteilt ist.

Der Gipfel der Eigenverantwortung

Schließlich gibt es mehr oder minder erfolgreiche Selbständige oder Freiberufler, deren Schaffen eben nicht das des klassischen Arbeitnehmers ist, die ihr eigener Chef sind und eine klare Vorstellung davon in die Tat umsetzen.

Kaum einer von all diesen wird sich als “Arbeiter” verstehen. Wer nicht noch unterhalb des Standes der Lohnabhängigen von ausbeuterischen “Kunden” herumgeschubst wird, empfindet sich halt als etwas Besseres. Für sie gibt es nicht einmal schlechte Gewerkschaften, sie stehen außerhalb der Gruppe der Werktätigen. Was hätten sie davon, sich mit Menschen zu solidarisieren, deren Erwerbstätigkeit die Stürme auf dem Gipfel der Eigenverantwortung nicht kennt?

Politisch gedacht, ist es eine grobe Dummheit, sich derart von den Mitmenschen separieren zu lassen, die unter denselben Verhältnissen leben und leiden. Ökonomisch gedacht liegt es in ihrem vitalen Interesse, daß es den anderen Arbeitern möglichst gut geht, denn leere Haushaltskassen und andauernde Zukunftsangst bis hin zur Depression kosten sie massenhaft Aufträge.

Nun ist es nicht so einfach, Kunden wahrzunehmen, die keine sind. Es gibt auch offenbar große Hemmnisse, sich klar zu machen, daß es am Ende keinen Unterschied macht, wem es zuerst schlecht geht. Der Reflex, der einsetzt, wenn es nicht läuft, ist meist die Suche nach Schuldigen, mit der man freilich in Gefilden sucht, die einem möglichst fern sind.

Eine Viertelstunde nachdenken

Die gegenwärtige Lage, geprägt durch Jahrzehnte der Einsparungen auch und gerade bei den Löhnen, trifft alle gleichermaßen. Alle, die ihr Auskommen durch Arbeit gleich welcher Art besorgen müssen, sind die Verlierer der Entwicklung. Profitiert haben davon ebensowenig selbständige wie lohnabhängige Arbeiter. Durch die Hartz-Gesetze droht obendrein Konkurrenz und Kostendruck von Seiten der oben genannten Scheinselbständigen, die jeden Preis akzeptieren, um irgendwie über die Runden zu kommen.

Die freiberuflichen und selbständigen Arbeiter sollten sich also einmal ein paar Minuten Zeit zum Nachdenken gönnen. Darüber, worin ihre Interessen eigentlich bestehen, wer diese Interessen vertritt und wessen Interessen wiederum diejenigen vertreten, die sich so gern als ihre Schutzmacht aufführen. Wenn sie dann immer noch lieber als anerkannte “Leistungsträger” im Dienst der Rendite anderer untergehen wollen, als sich mit denen zu solidarisieren, die eigentlich auf ihrer Seite stehen, ist ihnen nicht zu helfen. Versuchen könnten sie es dennoch. Es dürfte sich auszahlen.

Die journalistischen Krähen krächzen es aus den Kellern: Der SPD-Vorsitzende kann sich einen Kanzlerkandidaten Steinbrück gut vorstellen. “Am Ende muss der kandidieren, der die größten Chancen zum Gewinnen hat”, wird er zitiert, was angeblich auf ein Interview mit der Neuen Westfälischen Zeitung zurückgeht, die diesen Teil in der Online-Ausgabe aber nicht publiziert.

Gabriel ist allerdings sehr überzeugt, daß die Wähler der Linken zukünftig wieder SPD wählen werden und hat über die linke Konkurrenz recherchiert:
Die wollen ein Recht auf Rausch und alles verstaatlichen, was größer ist als eine Currywurst-Bude.”
Das wird wohl nicht bedeuten, daß er sich einer “Linkskoalition” annähert, weil seine rhetorischen Tiefschläge sich dem Niveau der dümmsten Splittergruppen der “Regierungsunfähigen” anpassen.

Festzuhalten ist vielmehr, daß ihm an einer von Verstand beeinflußten Auseinandersetzung mit zukünftigen Strategien nichts nicht liegt und er an die desaströsen Vorstellungen seiner Vorgänger anknüpfen will:
Steinbrück habe als Finanzminister gezeigt, wie man in schwierigen Situationen Führung zeigt. ‘Er ist ein Mensch und Politiker, auf den die SPD besonders stolz ist’, sagte Gabriel. ‘Und ich füge hinzu: dem ich jedes politische Amt in Deutschland sofort zutraue.’ ”

In schwierigen Zeiten hat der Stolz der SPD nämlich immer etwas zu schwätzen, das seine fatale Inkompetenz in ungeteilte Begeisterung des Präsidiums verzaubert. Daß der Mann als SPD-Ministerpräsident die einstige SPD-Domäne bei seiner ersten und einzigen Wahl verloren hat, und zwar wegen genau der Politik, für die er steht, macht ihn für jedes Amt zum geeigneten Kandidaten.

Der SPD ist ergo auch unter Gabriel furzegal, wie es ihren möglichen Wählern geht und wo sie dann ihr Kreuzchen machen. Rückwärts vorwärts, alles vergessen, nach oben buckeln, nach unten treten und auf dem rechten Weg bleiben. Nur nicht nach links rutschen. Zu fragen, “warum”, hat sich erübrigt. Für wen, das ist der entscheidende Aspekt. Es bleiben die alten Seilschaften.

Wie ich bereits Anfang April in zwei Artikeln erläutert habe, ist die Situation der Hartz IV – Empfänger keine isolierte, die sie quasi als Schicksalsschlag aus der Gemeinschaft der Tüchtigen reißt. Der Übergang ist vielmehr fließend. Was viele nicht wissen, ist der Usus der “Eingliederungsvereinbarung” schon beim ALG I, womit Sanktionen verbunden sind, die genauso hart zuschlagen wie beim ALG II. Zwar ist der Katalog von Gesetzgeber festgelegt, aber es hilft nicht viel. Wenn man sich etwa aus Unwissen auf Stellen nicht bewirbt, die die AA “vorschlägt”, tritt nach dem Gesetz ein sofortiger Ausfall der Zahlungen ein. Selbst wenn man sich als Maurer auf eine Stelle als Elektriker bewerben soll.

Zwei Schichten

Wer noch Arbeit hat, von der er leben kann, sollte Zweierlei wissen: Erstens ist sie ihm niemals sicher, zweitens gibt es Menschen, die noch mehr arbeiten und davon nicht leben können. Es sind darunter sogar viele mit einer guten Ausbildung.
Wer nicht wirklich ausgesorgt hat und ohne Erwerbslohn auskommt, hat Grund zur Angst. Es ist nicht sinnvoll, sich von ihr leiten zu lassen, aber sie sollte ein paar Gedanken wert sein.
Zum Beispiel über genau diese Zäsur: In der “Marktwirtschaft” verläuft die Grenze zwischen denjenigen, die von ihrem Eigentum leben können, bis sie kühles Gras von unten wachsen sehen, und eben den anderen. Zu welcher Gruppe gehörst du?

Eine der unerfreulichsten Entwicklungen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft (was durchaus auch auf andere Staaten zutrifft) ist die Aufspaltung in Statusgruppen. Dabei streben die allermeisten nach Höherem und führen sich auf, als sei es wichtig, sich stets von den vermeintlich tiefer stehenden abzugrenzen. Man identifiziert sich lieber mit denen, die “es geschafft haben” und befördert die unsoziale Mentalität, die einem jederzeit selbst zum Verhängnis werden kann. Der “soziale” Status, der ein rein wirtschaftlicher ist und sich jederzeit ändern kann, ist der Solidaritätskiller par exellence.

Das Verschwinden der Arbeiter

Der neoliberale Zeitgeist hat diese Pervertierung gesellschaftlichen Miteinanders in die passende Formel gepresst. Als “Soziale Marktwirtschaft” gilt heute das Gegeneinander konkurriender Statusstreber.
Dabei ist der Spaltungsmechanismus ausnahmsweise keine Erfindung der herrschenden Ideologie. Einen Wendepunkt stellt bereits die Unterscheidung in “Arbeiter” und “Angestellte” dar. Diese war noch annähernd rational, soweit sie Lohnabhängige (u.a. steuerlich) unterteilte in solche mit einem festen Monatsgehalt und solche, die stundenweise bezahlt wurden.

Damit einhergehend wurden grob Qualifikationsmuster differenziert. Arbeiter waren zumeist Angelernte, die sich gleichwohl in der Praxis bewähren und weiter qualifizieren konnten. Angestellte gingen erst nach einer vollendeten Ausbildung in den “Beruf”.
Die Entwicklung der Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft brachte es mit sich, daß “ungelernte” Arbeitskräfte kaum mehr gefragt waren und – durchaus in guter Absicht – möglichst alle eine Ausbildung absolvieren sollten.

Statusstreben vs. Solidarität

Was sich über die Jahrzehnte nach dem zweiten Weltkrieg derart vollzog, war ein vielschichtiger Prozeß, der den Aufstieg als Ideal wirksam beförderte. Vor allem die ehemalige Arbeiterpartei SPD und die Gewerkschaften setzten sich ein für eine Klientel, die nicht mehr wehrlos Abhängige reproduzieren sollte. Alle sollten möglichst gute Chancen haben, sich zumindest einen bescheidenen Wohlstand zu erarbeiten.

Die Kehrseite dieser Medaille ist jenes Statusstreben, das in Vergessenheit geraten ließ, daß es eben Chancen, d.h. Möglichkeiten sind, die sich im günstigen Fall ergeben, und daß es nach wie vor mit abhängiger Arbeit zu tun hat. Es wurde verdrängt, daß in dieser Abhängigkeit ein wirtschaftlicher Aufstieg erreichbar war, und stattdessen galt der individuelle Erfolg als “verdient”.
Dieser Wandel in der Wahrnehmung – vom abhängig erarbeiteten Wohlstand zum verdienten Status – ist der Sündenfall der Entsolidarisierung der Lohnabhängigen.

Wir sind Arbeiter

Das letzte Aufbäumen gegen diese zutiefst unsoziale Einstellung bestand in einem teils recht unreflektierten und banal romantischen Versuch der 68er Studentenbewegung, die Werktätigen für ihre Ideale zu erreichen. Dieser darf als verheerend gescheitert gelten.
Es kann heute sicher noch weniger Ziel einer intellektuellen Offensive sein, “Arbeiter” zu agitieren. Allerdings drängt die neoliberale Eroberung der Definitionsmacht dazu, eine der wenigen Lücken zu nutzen, die der gängige Zwiesprech gelassen hat.

Gibt es keine Arbeiter mehr? Das Gegenteil ist der Fall. Arbeiter sind nämlich alle die oben Genannten, die nicht angstfrei fröhlich zu Hause bleiben können, wenn ihnen ein Job nicht paßt. Wir sind beinahe alle Arbeiter. Es gebietet sich von daher, dies endlich wieder zu erkennen und auszusprechen. Das wäre der erste Schritt zurück zu einer Solidarität, die völlig unter die Räder gekommen ist.

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