Wie ich bereits Anfang April in zwei Artikeln erläutert habe, ist die Situation der Hartz IV – Empfänger keine isolierte, die sie quasi als Schicksalsschlag aus der Gemeinschaft der Tüchtigen reißt. Der Übergang ist vielmehr fließend. Was viele nicht wissen, ist der Usus der “Eingliederungsvereinbarung” schon beim ALG I, womit Sanktionen verbunden sind, die genauso hart zuschlagen wie beim ALG II. Zwar ist der Katalog von Gesetzgeber festgelegt, aber es hilft nicht viel. Wenn man sich etwa aus Unwissen auf Stellen nicht bewirbt, die die AA “vorschlägt”, tritt nach dem Gesetz ein sofortiger Ausfall der Zahlungen ein. Selbst wenn man sich als Maurer auf eine Stelle als Elektriker bewerben soll.

Zwei Schichten

Wer noch Arbeit hat, von der er leben kann, sollte Zweierlei wissen: Erstens ist sie ihm niemals sicher, zweitens gibt es Menschen, die noch mehr arbeiten und davon nicht leben können. Es sind darunter sogar viele mit einer guten Ausbildung.
Wer nicht wirklich ausgesorgt hat und ohne Erwerbslohn auskommt, hat Grund zur Angst. Es ist nicht sinnvoll, sich von ihr leiten zu lassen, aber sie sollte ein paar Gedanken wert sein.
Zum Beispiel über genau diese Zäsur: In der “Marktwirtschaft” verläuft die Grenze zwischen denjenigen, die von ihrem Eigentum leben können, bis sie kühles Gras von unten wachsen sehen, und eben den anderen. Zu welcher Gruppe gehörst du?

Eine der unerfreulichsten Entwicklungen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft (was durchaus auch auf andere Staaten zutrifft) ist die Aufspaltung in Statusgruppen. Dabei streben die allermeisten nach Höherem und führen sich auf, als sei es wichtig, sich stets von den vermeintlich tiefer stehenden abzugrenzen. Man identifiziert sich lieber mit denen, die “es geschafft haben” und befördert die unsoziale Mentalität, die einem jederzeit selbst zum Verhängnis werden kann. Der “soziale” Status, der ein rein wirtschaftlicher ist und sich jederzeit ändern kann, ist der Solidaritätskiller par exellence.

Das Verschwinden der Arbeiter

Der neoliberale Zeitgeist hat diese Pervertierung gesellschaftlichen Miteinanders in die passende Formel gepresst. Als “Soziale Marktwirtschaft” gilt heute das Gegeneinander konkurriender Statusstreber.
Dabei ist der Spaltungsmechanismus ausnahmsweise keine Erfindung der herrschenden Ideologie. Einen Wendepunkt stellt bereits die Unterscheidung in “Arbeiter” und “Angestellte” dar. Diese war noch annähernd rational, soweit sie Lohnabhängige (u.a. steuerlich) unterteilte in solche mit einem festen Monatsgehalt und solche, die stundenweise bezahlt wurden.

Damit einhergehend wurden grob Qualifikationsmuster differenziert. Arbeiter waren zumeist Angelernte, die sich gleichwohl in der Praxis bewähren und weiter qualifizieren konnten. Angestellte gingen erst nach einer vollendeten Ausbildung in den “Beruf”.
Die Entwicklung der Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft brachte es mit sich, daß “ungelernte” Arbeitskräfte kaum mehr gefragt waren und – durchaus in guter Absicht – möglichst alle eine Ausbildung absolvieren sollten.

Statusstreben vs. Solidarität

Was sich über die Jahrzehnte nach dem zweiten Weltkrieg derart vollzog, war ein vielschichtiger Prozeß, der den Aufstieg als Ideal wirksam beförderte. Vor allem die ehemalige Arbeiterpartei SPD und die Gewerkschaften setzten sich ein für eine Klientel, die nicht mehr wehrlos Abhängige reproduzieren sollte. Alle sollten möglichst gute Chancen haben, sich zumindest einen bescheidenen Wohlstand zu erarbeiten.

Die Kehrseite dieser Medaille ist jenes Statusstreben, das in Vergessenheit geraten ließ, daß es eben Chancen, d.h. Möglichkeiten sind, die sich im günstigen Fall ergeben, und daß es nach wie vor mit abhängiger Arbeit zu tun hat. Es wurde verdrängt, daß in dieser Abhängigkeit ein wirtschaftlicher Aufstieg erreichbar war, und stattdessen galt der individuelle Erfolg als “verdient”.
Dieser Wandel in der Wahrnehmung – vom abhängig erarbeiteten Wohlstand zum verdienten Status – ist der Sündenfall der Entsolidarisierung der Lohnabhängigen.

Wir sind Arbeiter

Das letzte Aufbäumen gegen diese zutiefst unsoziale Einstellung bestand in einem teils recht unreflektierten und banal romantischen Versuch der 68er Studentenbewegung, die Werktätigen für ihre Ideale zu erreichen. Dieser darf als verheerend gescheitert gelten.
Es kann heute sicher noch weniger Ziel einer intellektuellen Offensive sein, “Arbeiter” zu agitieren. Allerdings drängt die neoliberale Eroberung der Definitionsmacht dazu, eine der wenigen Lücken zu nutzen, die der gängige Zwiesprech gelassen hat.

Gibt es keine Arbeiter mehr? Das Gegenteil ist der Fall. Arbeiter sind nämlich alle die oben Genannten, die nicht angstfrei fröhlich zu Hause bleiben können, wenn ihnen ein Job nicht paßt. Wir sind beinahe alle Arbeiter. Es gebietet sich von daher, dies endlich wieder zu erkennen und auszusprechen. Das wäre der erste Schritt zurück zu einer Solidarität, die völlig unter die Räder gekommen ist.