Christoph Butterwege gibt im Interview mit Karl-Heinz Behr im “Freitag” einige Wahrheiten zu Portokoll, deren notwendige Erwähnung schon recht traurig ist. Im Kern dessen steht die Aussage:
“Armut erfasst aber nicht bloß immer mehr Bevölkerungsschichten, sondern zerstört auch die sozialpolitische Kultur unseres Landes. Hartz IV wirkt ja nicht nur deprimierend für diejenigen, die davon betroffen sind, sondern macht auch jenen Angst, die fürchten, arbeitslos zu werden und nach kurzer Zeit auf das Sozialhilfeniveau abzusinken.”
Das stimmt zunächst einmal und weist auf ein Problem hin, das kaum diskutiert wird: Der Umgang mit Arbeitslosen und Arbeitnehmern, wie er durch die Hartz-Gesetze und die begleitende Propaganda forciert wird, macht Angst. Ich mag gar nicht diskutieren, inwiefern dieser Effekt beabsichtigt ist, ich will vielmehr darauf zu sprechen kommen, was daraus folgt.
Dazu ist es notwendig, den Fokus nicht auf Hatz IV zu richten, sondern auf Lohnarbeit, Arbeitslosigkeit und Zwang. Dazu bietet es sich an – zumal ich dazu Berichte aus erster Hand liefern kann – sich mit dem “ALG I” zu befassen.
Das Arbeitslosengeld, das im SGB III geregelt ist, ist eine Versicherungsleistung. Lohnabhängige sind ab einem halbwegs existenzsichernden Lohnniveau dazu verpflichtet, in die Arbeitslosenversicherung einzuzahlen. Wenn sie arbeitslos werden, haben sie Anspruch auf die Auszahlung der Versicherungsleistung. Niemand kann ihnen vorwerfen, sie seien Schmarotzer – nicht einmal diejenigen, die sich nicht schämen, Arbeitslose zweiter Klasse derart zu diffarmieren.
Die Herabwürdigung Lohnabhängiger und die Wirkung des Zwangs beginnt bereits im Arbeitsverhältnis, das sie nicht kündigen können, wenn ihnen die Mittel fehlen, in den darauf folgenden zwölf Wochen ihren Lebensunterhalt ohne Einkommen zu bestreiten. Jedenfalls steht ihnen die Versicherungsleistung in dieser Zeit nicht zu. Ich halte diese Regelung schon für verfassungswidrig. Wie auch immer aber Arbeitslosigkeit eintritt, die Betroffenen werden per Gesetz dazu gezwungen, “zumutbare” Tätigkeiten aufzunehmen und ihre Beschäftigungslosigkeit durch “Eigenbemühungen” so schnell wie möglich zu beenden.
Diese Eigenbemühungen werden in der Praxis in der Regel willkürlich festgelegt und eingefordert. Arbeitslose haben de facto nicht das Recht, sich in Ruhe über ihre Situation zu orientieren, ihre Möglichkeiten zu überdenken und ihre Zukunft zu planen. Sie haben nicht das Recht, Beschäftigungen abzulehnen, die ihren Neigungen nicht entsprechen. Sie haben nicht einmal das Recht, das Angebot eines Arbeitgebers abzulehnen, der ihnen den Eindruck vermittelt, bei ihnen schlecht aufgehoben zu sein.
Die Liste der Rechte, die ihnen nicht gewährt werden, läßt sich meterlang fortsetzen. Jeder ALG I – Empfänger muß minutiös nachweisen, das es Gründe gibt, die ein völlig starres Gesetz für “wichtig” erachtet, wenn ihm das von ihm erarbeitete Geld nicht gekürzt werden soll. Das heißt konkret, daß er es hinnehmen muß, von einem um 30% gekürtzten Hartz IV-Satz zu leben, wenn er sich nicht untertänigst fügt. Obendrein muß er das ALG II dann erst einmal beantragen, mit allen Schikanen. Mit einer “Versicherungsleistung” hat diese Gängelung nichts zu tun.
Diese systematische Einschüchterung wirkt. Der Gang zum Briefkasten wird für viele zur Tortur, die Formulare und “Vermittlungsvorschläge”, mit der sich der fleißige Ex-Einzahler herumzuschlagen hat, sind Waffen im Krieg für den Terror, gegen den es kein rechtes Mittel gibt, wenn man keine Reserven hat, mit denen man seine Würde finanzieren kann. Es gibt keine Atempause vor dem Gang zum Psychiater. Arbeitslosigkeit macht krank und abhängig – fangen Sie erst gar nicht damit an, vermeiden Sie möglichst schon die Lohnabhängigkeit, die sie in eine solche Situation bringen kann!
Ich werde diesen Artikel in Kürze fortsetzen.
April 7th, 2010 at 00:01
eine erste anmerkung: ALG I ist eine Versicherungsleistung, ALG II nicht.
April 7th, 2010 at 00:06
Der Gang zum Briefkasten wird für viele zur Tortur
Und jedesmal, wenn das Telefon klingelt oder es an der Tür läutet zuckt man zusammen, als ob man grad nen Stromschlag bekommen hat.
Mein Psychologe gibt Dir im übrigen recht. Er sagte erst kürzlich zu mir, daß das, was mit Arbeitslosen und Arbeitern gemacht wird nicht anderes sei, als Terrorismus ohne Bomben.
April 7th, 2010 at 00:26
@hansklaus: Das steht doch aber da ;-)
April 7th, 2010 at 01:18
Ich glaub schon, dass diese Angst, ebenso wie der Aufbau von Zwang, Schikanen und neuen Hierarchien, denen man Gehorsam leisten muss, gewollt sind und von der selbsternannten Elite dieses Landes glorifiziert werden und gefeiert als “notwendige Härte” und mit ähnlichen Formulierungen, die ihre wahre Einstellung verraten, ihre Verachtung für alle Werte und für alle Menschlichkeit.
@ hans baum:
Naja, beide sind ja im Grund Versicherungsleistungen, aber anders strukturiert (einzahlungsabhängige versus pauschale Leistungen).
April 7th, 2010 at 05:47
in einem arbeitsgerichtsprozes hat die ba f arbeit schon in den 90ern behauptet und recht bekommen: die arbeitlosenversicherung ist keine versicherung im herkömmlichen sinne sondern ein instrument zur steuerung des arbeitsmarktes. leider ist mir das damalige urteil abhanden gekommen. aber das erklärt die seit den 80ern bestehenden represalien gegen die arbeitssuchenden.
April 7th, 2010 at 07:39
wenn ich die Fügungsbereitschaft und mangelnde Betroffenheit vieler erlebe, die betroffen sind so lindert dies zwar nicht meine Zweifel an der humanitären Richtigkeit der Gesetzgebung diesbezüglich macht mir aber die unerträgliche Leichtigkeit der Durchsetzung eben dieser Gesetze erklärlich.
Es ist noch weit zum Brotaufstand.
April 7th, 2010 at 07:52
Die Fügungsbereitschaft fängt schon bei denen an, die einen Job haben. Viele lassen sich von Blitzbirnen herumkommandieren, weil sie Angst vor dem Jobverlust haben und denen man privat bei einem solchen Verhalten den Allerwertesten zeigen würde (im günstigsten Fall:-)
Bei Arbeitslosikeit setzt sich das fort oder wird je nach Vorleben noch verstärkt.
Leider gibt es zur Zeit in dieser Gesellschaft keine Gruppierung die es schafft, solche Themen permanent in die Öffentlichkeit zu bringen, allein die Wettbewerbsfähigkeit rechtfertigt alles.
April 7th, 2010 at 08:51
“Die Würde des Menschen steht unter Finanzierungsvorhalt.”
https://www.arbeiterfotografie.com/sozialraub/index.html
April 7th, 2010 at 09:33
Dieser und andere Blogeinträge zeigen schon im Vorfeld ein unkooperatives Verhalten im Umgang mit der Agentur. Tz, tz – da werden wir wohl schon zu Beginn die Motivation mit einer 30%igen Kürzung des ALG I ein wenig befeuern.
April 7th, 2010 at 09:41
Die Geschäftsgrundlage des Kapitalismus: der ‘doppelt freie’ Lohnarbeiter… Die ‘Freiheit’ von Mitteln zur Reproduktion aus eigener Kraft – seien es nun ‘Produktionsmittel’ oder auch nur Ersparnisse zur Überbrückung – ist ‘essentiell’.
April 7th, 2010 at 10:43
Gut auf den Punkt gebracht!
Was diese ganze “politisch gewollte Sozialabbau-und-Gängelungs-Kultur” in den letzten Jahren bei den Menschen angerichtet hat, ist schlimmer, als es auf den ersten Blick ersichtlich ist.
Eine zu großen Teilen seelenlose Gesellschaft der Angst und Depression sind wir mittlerweile geworden.
April 7th, 2010 at 11:30
Vergessen wir aber nicht, dass dieses “Schlachten an der Arbeitsfront” den “Oberen Zehntausend” Jahr für Jahr “Lohn”- Pardon: -Gewinnzuwächse in Milliardenhöhe beschert.(siehe hierzu Untersuchungen allein über die letzten 5 Jahre!)
Dieses “Schlachten” ist ein mit Hilfer einer gekauften Politik und gekaufter williger Gewerkschaftsbürokratien organisierter KLASSENKAMPF gegen alle Lohnsklaven, Lohnabhängigen von aller feinster Raffinesse, Klassenkampf vom Feinsten.
Und dieser ist gewollt, beabsichtigt, bestens staatlich-gewerkschaftsbürokratisch ORGANISIERT, keinesfalls nur “so nebenbei”.
Was daraus folgt, müsste jedem Klar sein, so denn er wirklich erkennen und KÄMPFEN(!) — WILL!
April 7th, 2010 at 12:12
“Das heißt konkret,
daß er es hinnehmen muß, von einem um 30% gekürtzten Hartz IV-Satz zu leben, wenn er sich nicht untertänigst fügt.”
Mich hatte dieser Satz irritiert, den ich auf die Regelungen von ALG-I bezogen habe.
Mir war bisher auch unbekannt, dass es im Rahmen einer Versicherungsleistung schon Sanktionen gibt. Das wäre ja so, als ob die Firma Siemens mich zwingen könnte, innerhalb der Garantiezeit mir eine andere Waschmaschine suchen zu müssen, die billiger ist, als die Garantieleistung. Entweder bin ich versichert und mir steht die Versicherungsleistung zu oder ich bin nicht versichert. Sanktionen innerhalb der ALG-I-Zeit wären meinem Verständnis nach rechtswidrig.
Die Erfahrung aber, die du wohl machen wirst, besteht darin, dass Angestellte der Agentur, die geringer qualifiziert sind als du, geringer qualifiziert in beruflicher als auch in moralischer Hinsicht, meinen Dich vor allem moralisch gängeln zu müssen. Man regrediert im Büro des Arbeitsvermittlers, der Arbeitsvermittlerin.
April 7th, 2010 at 14:10
Hallo Hans Baum, zur Erinnerung: Sanktionen, bzw. Sperrzeiten oder Kürzungen sind keine Neuheit seit 2005, sie gab es auch schon beim alten ALG, und natürlich auch bei der alten Alhi, wurden auch immer wieder angewendet.
Nur weniger regide als heute. Nur: Daraus entstehende besondere soziale Härten wurden unverzüglich durch den in solchen Fällen unverzüglich wirkenden Anspruch auf SOFORTIGE Sozialhilfe plus SOFORTIGER Übernahme der TASÄCHLICHEN Wohnkosten einschließlich der Stromkosten v e r h i n d e r t.
S O wurde d a m a l s, d.h. v o r Hartz 4 verhindert, dass “Sanktionen” der Arbeitsämter zu unmittelbarer sozialer Not für den einzelnen Betroffenen als auch aller weiteren Familienmitglieder führte.
Diese Ausweichmöglichkeit, dieser SOZIALE SCHUTZ wurde den arbeitslosen Arbeitnehmern mit HARTZ 4 genommen, wurden sie dem absoluten DIKTAT der “Argen” unterworfen, bis hin zum “Santionieren auf NULL”, dem Ausgeben von Lebensmittelgutscheinen, auch nun viel schneller möglicher Obdachlosigkeit.(Ohne ALG II Bescheid auch keine Übernahme der Wohnkosten!)
Die pure ANGST vieler Noch-Beschäftigter vor einem Abrutschen in Hartz 4 hat folglich einen sehr brutalen reellen Hintergrund.
Und genau s o war es von Anbeginn geplant und wurde es auch durchgezogen.
Dass sich PRAKTISCH alle Hartz 4 – Parteien von CDU/CSU/SPD/FDP/”GRÜNEN” GEGEN substanzielle Verbesserungen bei Hartz 4 wenden, g e g e n die Abschaffung polemisieren, liegt völlig in der Logik dieser Gesetze, deren wahrer Intention.
Die Reallohnentwicklung in Deutschland einerseits und die gigantischen Vermögenszuwächse auf der “anderen Seiten” haben Hartz 4 bereits heute als ein gewaltiges “Erfolgsprojekt” für unsere “Eliten” ausgewiesen.
Die seither gestiegenden Mehrausgaben im “sozialen Bereich” werden einfach durch mehr indirekte Steuern ausgeglichen, also von denen, gegen welche diese ganze Veranstaltung ohnehin gerichtet ist….
Noch Fragen?
April 7th, 2010 at 15:56
Hat nichts mit diesem konkreten Artikel zu tun, muss aber trotzdem jetzt mal raus:
Vielen Dank für deine Einsichten, deine Schreibe und deine Ausdauer. Es ist regelmäßig wieder ein Genuß, dich zu lesen.
April 7th, 2010 at 16:07
Hach, Bakunin! Die Sprache und der Ton gefällt mir! Is so recht nach meinem Geschmack!
April 7th, 2010 at 16:54
Zitat Flatter: Ich werde diesen Artikel in Kürze fortsetzen. Zitat Ende
Und das ist gut so. Flatter, lass Dich mal virtuell drücken !
Kurzes “Outing” meiner Person. Schon lange erwerbslos (durch Insolvenz des Brötchengebers) und Hartz IV von Anfang an “erlebt”. Erlebnisse ArGe: Von Dienst- und Fachaufsichtsbeschwerde, Strafanzeige gegen Sachbearbeiter, 2 Sozialgerichtsprozesse war in den letzten Jahren eigentlich alles dabei.
Heute: Seit Jahren in psychiatrischer Behandlung und die ArGe will mich in die Rente schicken. Die Rentenversicherung will mich auch nicht und so werde ich gerade zwischen Erwerbsminderungsrente und ALG II-Bezug hin und hergereicht. Nun soll ich erst einmal ne Rehabilitations-Maßnahme zur Wiederherstellung meiner Arbeitskraft machen.
Leute, das macht alles keinen Spaß…
April 7th, 2010 at 18:07
[...] https://archiv.feynsinn.org/?p=2969 [...]
April 7th, 2010 at 21:32
Auch bei einer irgendwie gearteten Kündigung wegen Selbstverschulden, sieht man gleichfalls 3 Monate in die Rohre!
April 7th, 2010 at 22:25
Danke flatter und Ihr Anderen!
Ich versuche gerade eine erlittene Sanktion von vor drei Jahren mit Eilantrag beim Sozialgericht zu “begleichen”, aufbauend zum Urteil vom 9. Feb.
Anleitung habe ich mir von der Seite:
http://www.hartz4-plattform.de
geholt und auch telefonische Unterstützung.
@ Julie
Nicht unterkriegen lassen!
April 8th, 2010 at 06:22
@ Juliane: ich werd’s versuchen…
Folgendes passiert ja auch = Beispiel: Ein Ehepaar. Die Frau ist erwerbslos und ALG II Leistungsbezieherin. Der Mann ist in Arbeit, verdient aber nicht viel. Der Mann wird von der ArGe aufgefordert sich eine neue Stelle zu suchen, bei der er mehr verdient und seine Frau dann keinen Leistungsanspruch mehr hätte.
Das ist doch grotesk, oder ?
April 8th, 2010 at 09:16
Ich kenne solche Grotesken die Sippenhaft, die Schikanen, den Zynismus, die Lügen…
Mein Mann hat sich mit Hilfe einer Psychotherapie stärken lassen, um nicht daran kaputt zu gehen.
Zum Glück kann man sich noch die Personen seines Vertrauens dabei aussuchen, dazu muss man das aber erstmal wissen; auch wissen nicht alle Seelenklempner, dass eigentlich unser System krank ist.
Obwohl ich einer Tätigkeit nachgehe, bin ich auch gehalten, einen besser bezahlten Job zu finden oder einen Zweitjob. Das darf ich mit vier Bewerbungen pro Monat belegen. Die dazugehörige Eingliederungsvereinbarung habe ich allerdings nicht unterschrieben, muss mich aber trotzdem dran halten (das Ding mit der genehmigten Ortsabwesenheit ist umgewandelt worden – nach dem ich mich an “vielen” Stellen beschwert hatte- in meinem Fall genügt es nun, den Urlaub anzuzeigen).
Übrigens läuft z.Z. eine Petition beim Bundestag zur Abschaffung der Eingliederungsvereinbarung. Das Einloggen geht im Moment besonders schwer…
Zum Glück frühlingt es!
April 8th, 2010 at 10:52
Hallo Julie, ich wünsche dir ganz viel Erfolg beim Sozialgericht, natürlich auch viel Ausdauer und Mut!
AAABer: “grotesk” ist das alles leider nicht seit dieser “Agenda 2010″, es ist staatlich organisierter SOZIALTERROR, SOZIALFASCHISMUS, für mehr zart-besaitete: Hartz 4!
Dass dieses Unrecht schon heute seit 2005 mehr Menschenleben gekostet hat als die einstige “Berliner Mauer” in fast 30 Jahren, welche Statistiker, welche Politiker, welche Gaucks oder Birthlers werden uns davon wohl berichten?
Wer wird einmal die für diese TOTEN Verantwortlichen vor Gericht stellen?
April 8th, 2010 at 12:38
Danke für den Artikel, der mir aus dem Herzen spricht, hier regiert nur noch das Geld und was zählt da noch Menschlichkeit oder eigener Broterwerb, der kleine Mann/Frau bezahlt am Ende eh die Zeche, egal wie hoch diese auch ausfällt!
Beste Grüße
Teja
Mai 1st, 2010 at 00:44
[...] ich bereits Anfang April in zwei Artikeln erläutert habe, ist die Situation der Hartz IV – Empfänger keine [...]