Gregor Gysi ist immer der Lektüre wert. Man kann über den Mann sagen, was man will, aber er hat sehr klare Vorstellungen und weiß sie zu vermitteln. Dazu gehört im aktuellen Interview ein recht pointierter Hinweis auf die Stellung der Linken im politischen Machtgefüge. Er ist der Ansicht, dass ein starkes Abschneiden seiner Partei bei Wahlen die anderen dazu animiert, ihren Programminhalten näher zu kommen, um die Linke klein zu halten. Wer von der Revolution träumt, sollte also weiter FDP wählen, wer auf soziale Reformen hofft, wählt die Linke.

MontesquieuDass das dlr die Aussage hervorhebt, Gysi kenne bislang keinen Sozialismus, der wirklich demokratisch gewesen wäre, ist betrüblich, zumal die Wirklichkeit in Deutschland, der Zustand dessen, was sich “demokratisch” nennt, wieder keiner kritischen Betrachtung unterzogen wird. Der allgemeine Ausverkauf der Menschenrechte in den kapitalistischen Ländern ist jedenfalls kein Anlass dazu, Kapitalismus und Demokratie für eine irgend natürliche Verbindung zu halten. Im Gegenteil fallen ja gerade die bürgerlich-demokratischen Säulen “Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit” der Macht des Geldes zuerst zum Opfer. Konkurrenz statt Solidarität, Klassenbildung statt Gleichheit und Freiheit, die man sich leisten können muss – das ist nicht einmal das, was die Philosophen des 18. Jahrhunderts sich unter den Idealen der französischen Revolutionen dachten.

Das Wesen der Demokratie

Eine Weiterentwicklung solchen demokratischen Aufbruchs wird derzeit von Seiten der organisierten Politik auf jede denkbare Weise blockiert. Es ist wohl Geschmackssache, ob man die westliche Interpretation ihrer Rechtststaaten noch als Stellvertreterdemokratie betrachtet, als korruptes Übergangsstadium oder schon als Oligarchie. Allein die theoretische Durchlässigkeit, ein ‘Pluralismus’, der von Rechts wegen niemanden von der Macht ausschließt, unterscheidet dieses Modell noch von anderen, in denen die Macht ebenfalls faktisch für die Mehrheit der Menschen unzugänglich ist.

Das Wort von der “Diktatur des Proletariats” hemmt den Gedanken an Sozialismus, als sei der weniger demokratisch als eine reine ‘Marktwirtschaft’. Dass jene “Diktatur” eine abstrakte Umkehr ungerechter Verhältnisse war, sticht nicht, denn diese Reaktion auf die Herrschaft der Eigentümer etablierte in der historisch kurzen Phase sogenannter “kommunistischer” Herrschaft unerhört reaktionäre Strukturen, die mit Recht “Diktatur” genannt werden. Gysi weiß das. Ob seine Rezipienten das auch kapiert haben, bezweifle ich.

Was fehlt, ist nach wie vor ein Bewusstsein – leider in erheblicher Weise auch bei der “Linken” – für das Wesen der Demokratie: Die Beschneidung von Macht. Die Revolutionen des Bürgertums und der ‘Arbeiter und Bauern’, die Entwürfe von Montesquieu und Marx sind im Kern erzdemokratisch, sie wurden und werden freilich stets von denen in den Boden getrampelt, die sich auf sie berufen. Demokratie bedeutet stete Veränderung und Ausgleich. Im Kontext des neoliberalen Neusprech verlangt sie nach periodisch herzustellender ‘Ergebnisgerechtigkeit’. Das darf gern einmal offensiv diskutiert werden, und vielleicht finden ja auch die kleinen Machtpolitiker der Linken diesen und andere Schlüssel für die Öffnung einer Debatte, die dem Begriff “Demokratie” neues Leben einhaucht.