Es gibt zwei Möglichkeiten, nach Weisheit im Neoliberalismus zu suchen, nach Wahrheiten, die in seinen Konzepten stecken: Entweder man hat sehr viel Geduld und interpretiert so lange herum, bis etwas Brauchbares herauskommt, oder man erstellt ein Negativ. Wenn man alle Kernaussagen umkehrt, kommt man der Wirklichkeit sehr nahe.

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Zum Beispiel die Forderung nach “Entbürokratisierung”, die Teil des Konzeptes “schlanker Staat” ist. Zur ‘Verschlankung’ – Drücken der ‘Kosten’ und Privatisierung von Staatseigentum – ist an anderer Stelle bereits viel gesagt worden. Was nun die Entbürokratisierung angeht, so mag man ja jedem zustimmen, der gegen Papierkrieg und einen Dschungel sinnarmer Vorschriften ist. Allerdings sind die Segnungen der Bürokratie häufig das Resultat der Arbeit eben jener neoliberalen Lobby, die öffentlich so vehement dagegen spricht. Dazu nur zwei Beispiele:

Dem Amtsschimmel die Sporen geben

Wer sich einmal mit den Sozialgesetzbüchern befasst hat und der daraus resultierenden Praxis für die Antragsteller von Leistungen, wer also die Hartz-Gesetze kennt und den Alltag von Arbeitslosen, kann nur müde kichern, wenn von Entbürokratisierung die Rede ist. Hartz, McKinsey und Roland Berger haben eine Bürokratie in eine kontrollwütige Bürokratie umgewandelt.

Schaut man sich auf der anderen Seite das Marken- Patent- und Urheberrecht an, kann man nur verzweifeln angesichts der völlig unsinnigen Rechts- und Anspruchspraxis, des behördlichen und gerichtlichen Wütens auf Veranlassung durch private Unternehmen. Das Beispiel der Kartoffelsorte Linda ist da nur eines von tausenden. Es sind nicht die Bürger und der Staat, die hier dem Amtsschimmel die Sporen geben, es sind private Interessenvertreter.

Das ist ein weiteres Detail, anhand dessen sich belegen lässt, dass die Konzepte, Behauptungen und Slogans neoliberaler Weltanschauung einer Überprüfung in der Praxis nicht standhalten. Sie entpuppen sich vielmehr als Zerrbilder, als Karikatur einer politisch-wirtschaftlichen Wirklichkeit. Schlimmer wird es allerdings noch, wenn man sich mit den Leitmotiven befasst, vor allem mit der offensiven Lobpreisung sozialer Ungerechtigkeit. Auf die Spitze getrieben hat dies die glühende Antikommuistin und CDU-Politikerin Lengsfeld mit ihrem Motto “Freiheit statt Gerechtigkeit”.

Lob der Ungerechtigkeit

Der Popanz eines “Kommunismus” dient hier der Etablierung angeblicher Alternativlosigkeit: Die oder wir, so oder Schießbefehl. Dabei offenbart sich längst die Notwendigkeit (aus dieser Sicht) sozialistischer Elemente im Staatsgefüge, ohne die eine demokratische Gesellschaft ebenso wenig existieren kann wie eine Wirtschaft, die nicht offen in Sklavenhaltung übergeht. Eine bizarre Ironie, dass der Sozialismus aus den Ruinen des Neoliberalismus aufersteht.

Die vollständige Entsolidarisierung, der totale Wettbewerb, “Freiheit” in Form maximaler Ungleichheit, dieses Konzept ist nicht nur aus sozialer Perspektive eine Katastrophe, sondern ebenso aus wirtschaftlicher. Dass diese Ideologie nicht nur antisozialistisch ist, sondern ebenso anti-bürgerlich, können auch die semantischen Kunststückchen nicht kaschieren, die noch irgendwie von “Gerechtigkeit” oder “Gleichheit” als der von “Chancen” fabulieren. Das gleiche Recht, dem anderen auf den Kopf zu treten, ist nicht mehr gleich, wenn der Ameise ein Elefant gegenüber steht. Die Weigerung, den Wettbewerb als solchen zu beschränken und durch ausgleichende Elemente einzudämmen, ist der Untergang dieser Ideologie.

Chermany – ein fataler Erfolg

Sozial oder sozialistisch sind hingegen Konzepte, die auf solchen Ausgleich bedacht sind. Nur die allerdümmsten denken dabei an eine totale Gleichheit, und von Orwell wissen wir ohnehin, dass dann immer noch manche “gleicher” sind. Sinnvoll ist hingegen ein liberaler Sozialismus, der seinen Bürgern die Freiheit gibt, sich zu engagieren und nach ihrer Fasson zu leben, dabei aber stets eine Balance im Auge hat, die nicht ganze Bevölkerungsschichten oder gar Völker entmachtet. Dabei ist es unerheblich, ob diese Macht militärischer, politischer, wirtschaftlicher oder sonstiger Art ist. Sie gehört eingeschränkt.

Was hingegen geschieht, wenn Wettbewerb unausgeglichen stattfindet, zeigen nicht bloß Einkommenspyramiden oder Machtverhältnisse, in denen verschwindende Minderheiten auf Kosten der Mehrheiten leben. Gerade die ganz unskandalösen und vordergründig als ‘Erfolg’ betrachteten Phänomene zeigen deutlich auf, dass die Idee vom Guten des Wettbewerbs grandioser Unfug ist.

Was China und Deutschland sich erlauben, wird zunehmend selbst von erzkapitalistischen Wettbewerbsanhängern als fatal erkannt. Deren Außenhandelsbilanzen sind ein toller Erfolg, das wird ja vor allem uns Deutschen nach wie vor so präsentiert. Ausgerechnet dieser “Erfolg” aber ist ein Sargnagel jenes globalen Wettbewerbs, von dem “Chermany” derzeit so profitiert.
Ich wünschte, ich lebte in dem Jahrhundert, in dem die Menschheit aus solchen Prozessen endlich etwas lernt.