trittinManchmal möchte ich ihn am Ohr ziehen. Franz Walter kommt der Sache häufig recht nahe, tritt überzeugt analytisch auf, dann aber liegt er mit seinen Einschätzungen doch meist daneben. Das liegt vor allem daran, dass er ein recht schlichter Journalist ist, wo ein wenig mehr Wissenschaft durchaus gewagt werden dürfte. Er ist Kategorien verhaftet, die schon auf das Niveau der vermeintlich laienhaften Leserschaft heruntergebrochen sind und verzichtet auf einen tieferen Einstieg in die Materie, sobald ihm ein Gedanke überzeugend erscheint. Das klingt dann oft plausibel in bezug auf aktuelle Ereignisse, hält aber keiner langfristigen Überprüfung stand.

Zum Erfolg der Grünen liefert er eine solche Erklärung, die in dieser Weise markante Fehlintepretationen enthält. Zunächst und ganz ersichtlich ist da die merkwürdige Einschätzung, die Grünen seien so etwas wie eine politische Konstante. Walter sagt:
Bei den Grünen hingegen hat man das Gefühl, die sagen seit 35 Jahren das Gleiche“. Nun kann man das so sehen wollen, weil sich die Perspektive in diesen Wochen auf die Atomkraft-Debatte verengt. Dann muss man aber von einem Politikwissenschaftler verlangen, dass er hier deutlich macht, wo das “Gefühl” trügt.

Grundsatz über Bord

Die Grünen haben alle ihre Grundsätze inzwischen negiert, bis auf eine gewisse ökologische Attitüde. Man stelle sich bitte vor, es gäbe Ereignisse, die eine Diskussion um Militäreinsätze zum Alarmthema machten. Was würden wir dann über die Grünen sagen? Cem Özdemir, der Parteichef, ist ein aggressiver Bellizist, der jedem, der Bedenken gegen Einsätze der Bundeswehr vorträgt, mit Auschwitz, Srebrenica und Ruanda kommt. Pazifismus ist ein Killerthema für die Grünen, daran sieht man sofort, dass sie alle paar Jahre einen Grundsatz über Bord werfen.

Der Hinweis auf Kretschmanns Vergangenheit beim KBW tut ein übriges: Der Exkommunist ist also jetzt konservatives Aushängeschild der Mittelstandspartei, die für Hartz IV mitverantwortlich ist. Walter nennt das in einem intellektuellen Salto mortale gleichwohl “Kontinuität”, weil die Wähler der Grünen ja mitgealtert sind und daher alle inzwischen von linksradikal auf reaktionär umgepolt sein müssen. Aua.
Noch mehr Schmerzen bereitet allerdings die Ansicht:
Dagegen kann die SPD mit ihrem uralten Thema punkten, der sozialen Gerechtigkeit“. Wo war Herr Walter in den letzten Jahren? Ist er wirklich so naiv, solche Zuordnungen aus Blitzumfragen wörtlich zu nehmen?

Die große Vereinigung

Und dann dieser Satz: “Nicht das Volk ist volatil, wie immer gern behauptet wird, sondern die Parteien“. Volatil, veränderlich, sind die Parteien? Soll das heißen, dass sie uns ständig mit neuen Ideen überraschen? Tatsächlich geht doch die Veränderung der etablierten Parteien (die Linke ausgenommen) seit Jahrzehnten in dieselbe, neoliberale Richtung. Wenn jetzt aus Gründen der Opportunität plötzlich auch noch alle gegen Kernkraft sind, ist endgültig die große Vereinigung fällig.

Das Volk sei nicht so volatil. Was heißt das? Die Wähler springen zwischen Schwarzgelb und Rotgrün hin und her und bemerken allmählich, dass das keine Alternativen sind. Dann gehen sie halt nicht mehr wählen. Im Osten wählen sie links und zum Teil die Nazis – wobei dort die Wahlbeteiligung am niedrigsten ist. Wie sollen sie so etwas wie „Volatilität“ denn anzeigen? Höchstens, indem sie Führerfiguren anbeten, was wir auch längst erleben. Höchstens, indem sie auf die Straße gehen, was sie auch zunehmend tun, und zwar die aus der Mittelschicht.

Das wäre das Minimum an Demokratie, die Bürger wenigstens wahrzunehmen, welche sich nicht völlig abwenden von der Demokratie, die ihnen versprochen wurde. Es wäre das Minimum an politischer Wissenschaft, den Zusammenhang herzustellen zwischen dem Angebot an politischen Inhalten und der Nachfrage nach dem Sinn der Veranstaltung – und den eklatanten Widerspruch dazwischen wenigstens zu benennen.