hasimondBei Al Jazeera findet sich ein höchst interessanter Artikel zu den Aufständen in Nordafrika, der von einer “Revolution gegen den Neoliberalismus” spricht. Als ich von einem “islamischen Sozialismus” fabulierte, hielt ich das eher für eine fixe Idee, tatsächlich aber gibt es wohl Anzeichen für eine Opposition zum Kapitalismus aktueller Prägung, die eine wichtige Rolle spielt im Kampf gegen die Despoten.

Der unter dem Namen “Abu Atris” firmierende Autor stellt fest, dass in Tunesien und Ägypten neoliberale Regime weggefegt worden sind und kommt zu dem Schluss:
Soziale Medien mögen geholfen haben, den Kern der Bewegung zu organisieren, die letztendlich Mubarak gestürzt hat, aber ein gewichtiger Teil dessen, was genügend Leute auf die Straße brachte, um schließlich die staatlichen Sicherheitskräfte zu überwältigen, waren wirtschaftliche Mißstände, die dem Neoliberalismus zueigen sind.”

Er beschreibt die Beschaffenheit der ägyptischen Ökonomie, die nicht allein Mubarak die Möglichkeit gegeben hat, sich zu bereichern. Es werden Vorgänge beschrieben, die wir auch hier kennen: Einerseits gibt es “private” Profiteure, die zu ungeheurem Reichtum kommen, andererseits werden ‘Staatsdiener’, in dem Fall Spitzenkräfte der Armee, nach kurzer Dienstzeit auf lukrativere Posten verschoben.

Spielarten des Unrechts

Die Grenze zwischen Staat und Wirtschaft verschwimmt. In Ägypten hält das Militär offenbar selbst zivile Wirtschaftsbetriebe. (Um den IWF-Vorgaben zu genügen, die eine Begrenzung des zivilen Öffentlichen Sektors verlangen, wurden sie halt dem Militär zugerechnet.) Es zirkulieren aber auch verdiente ‘Experten’ des Militärs in privaten Firmen, die nicht zuletzt dafür sorgen, dass amerikanische Subventionen und Investitionen wiederum der US-Wirtschaft zugute kommen. Staatseigentum wurde privatisiert und den bereits gut betuchten Eliten weit unter Marktwert verkauft. Die ‘Staatsquote’ wurde nicht verringert, aber immer weniger davon kommt den Armen zugute.

Dies alles ist völlig legal und gilt keineswegs als “Korruption”, und wen das an gewisse Verstrickungen westlicher Politiker mit Rüstungs- Energie- und Finanzkonzernen erinnert, der ist wohl auf dem richtigen Weg.
Die Revolten Nordafrikas zeigen, dass “Marktwirtschaft” weder Frieden, noch Demokratie oder Freiheit bringt. Sie hilft nicht gegen Zensur, Folter oder Mord. Im Gegenteil ist sie in ihrer neoliberalen Ausprägung obendrein dazu geeignet, die sozialen Unterschiede rapide zu vergrößern und den bestehenden Spielarten des Unrechts eine weitere hinzu zu fügen.

Die Ungerechtigkeit besteht dabei nicht zuletzt darin, dass die Radikalität, mit der ein sich überlassender “Markt” gepredigt wird, sich so nirgends einstellt. Die Armen werden tatsächlich einem Markt überlassen, zu dem sie keinen Zutritt haben. Das heißt: Der Staat lässt sie im Stich und zieht sich sogar noch aus der notwendigen Herstellung der Infrastruktur zurück. Selbst das Nötigste muss man sich leisten können. Schlank macht es ihn dabei freilich nicht: Um die Machtstrukturen zu erhalten, wird fleißig alimentiert, wer sich dem System andient.

Wenn woanders alles schiefgeht, werden Schulden in Billionenhöhe aufgenommen, um ein irrsinniges Bankensystem aufrecht zu erhalten – während die Sozialversicherungen ebtweder gar nicht vorhanden sind, ausgetrocknet oder privaten Kapitalsgesellschaften überlassen werden, gerät der Staat selbst zur Gratis-Versicherung der Großkonzerne.

Blutspuren

Die Strukturen sind vergleichbar, allerdings bedeutet Armut in Ägypten, dass ein Fünftel der Bevölkerung weniger als 2$ täglich zur Verfügung hat. Da müssen hierzulande die Lebensmittelpreise noch kräftig steigen, um dieselben Verhältnisse auch gefühlt zu etablieren. Eine allerdings nicht völlig unrealistische Vorstellung.

Ich habe schon in den bisherigen Artikeln zum Thema angedeutet, wie lächerlich angesichts dessen das Schreckgespenst des “Sozialismus” wirkt, dessen “Blutspur” hier ernsthaft in die Debatte gebracht wird. Guido Westerwelle ist dabei einer derjenigen, die nie ohne den Spuk des “Kommunismus” auskommen, um die brutale Wirklichkeit des Neoliberalismus alternativlos wirken zu lassen. So oft sieht sonst nur einer diesen Spuk: Silvio Berlusconi. Ein Feindbild muss her, egal woher. Revolutionsopfer Ghaddafi beschwört derweil Al Qaida, die an allem Schuld sei. Dies ist nicht ganz zufällig die Gesellschaft, die derzeit den Anschluss an die Realität gänzlich verpasst und sich in Ammenmärchen flüchtet.

Das weitreichende Schweigen über die politischen Zustände in Nordafrika, die Ratlosigkeit und die hilflos-rituellen Reaktionen zeigen noch keine Anzeichen von der Angst, es könnte denselben woanders – nämlich hier – genauso gehen. Dass niemand das hat kommen sehen, sich keine Erklärung für den Flächenband finden will und nicht einmal ein passables Feindbild zur Hand ist, deutet allerdings darauf hin: Die sind genau wie wir. Einige wenige sind oben, die anderen sind unten und ein paar als Kitt dazwischen. Allmählich spricht sich herum, dass das nicht gottgegeben ist.