Lambsdorff – Schröder – Westerwelle
Posted by flatter under Best of , Politik[20] Comments
30. Jun 2010 14:17
Es ist mir einmal mehr das Bedürfnis, mich mit dem Begriff “liberal” zu beschäftigen, nicht zuletzt angesichts des anhaltend furchtbaren Zustands sogenannter “liberaler” Parteien in Europa. Wo sich noch nicht hinter dem finalen Etikettenschwindel intolerantes bis braunes Gesindel versammelt, beschränkt sich der Freiheitsbegriff auf die Freiheit des Marktes, die unmittelbar in die Unfreiheit der Menschen umschlägt. Ehe ich in einem weiteren Artikel auf Grundsätzliches zum Begriff komme, möchte ich noch einmal einen Blick auf die Geschichte der vergangenen 30 Jahre werfen, der Ära des Neoliberalismus.
Am Anfang stand das Lambsdorff-Papier, das in Verlängerung der “neokonservativen” Politik Reagans in den USA und dem Thatcherismus in England das Programm auf den Punkt brachte:
- Niedrige Löhne
- Niedrige Kosten der Sozialabgaben für Arbeitgeber, Senkung der Lohnersatzleistungen
- Niedrige Steuern, insbesondere für Unternehmen
- Niedrige Staatsausgaben, “Konsolidierung” der öffentlichen Haushalte
- Deregulierung
- Privatisierung
- Bindung des Freiheitsbegriffs ans Privateigentum, Unantastbarkeit des letzteren
- Ausschließlich positive Kommunikation der wirtschaftlichen Lage.
Im Juni 1999 stellten dann die “Sozialdemokraten” Schröder und Blair ihr Konzept vor, in dem es hieß:
“Die beiden vergangenen Jahrzehnte des neoliberalen Laisser-faire sind vorüber“.
Wahr ist, daß die seinerzeit vergangenen Jahrzehnte vorüber waren. Was aber sollte sich wirklich ändern? Ein Blick in die Leitsätze:
“Flexible Märkte sind ein modernes sozialdemokratisches Ziel.”
Was bis dahin “Deregulierung” hieß, wurde umgetauft. Die Finanzmärkte wurden dereguliert wie niemals zuvor, Arbeitnehmerrechte abgebaut. Wogegen Sozialdemokraten jahrzehntelang gekämpft hatten, das wurde jetzt einfach selbst “sozialdemokratisch”. Die “Public Private Partnership” – Projekte schossen nur so aus dem Boden, es wurde privatisiert auf Teufel-komm-raus, denn auf dem Programm stand:
“Der Staat soll nicht rudern, sondern steuern“.
Der schlanke Staat wurde weiter auf strenge Diät gesetzt, Unternehmen entlastet:
“Sozialdemokraten dürfen deshalb exzessive Staatsverschuldung nicht tolerieren” und “Die Steuerbelastung von harter Arbeit und Unternehmertum sollte reduziert werden”.
Hiermit war nicht zuletzt der Spitzensteuersatz gemeint. Die am häufigsten erwähnte Forderung des Papiers ist die “Senkung der gesetzlichen Lohnnebenkosten“, die den Arbeitnehmern als “höheres Netto” schmackhaft gemacht wurde. Das Motto “Mehr Netto vom Brutto” ist so neu also nicht. Daß tatsächlich damit nur die Arbeitgeber entlastet wurden, weil die Kosten der Sozialhaushalte ja weiterhin bezahlt werden müssen, hat freilich niemand verraten. Aus der paritätischen Finanzierung waren die Betriebe raus, ihre Steuern wurden gesenkt. Diese doppelte Entlastung zahlt am Ende der Bürger, zum größten Teil die Arbeitnehmer. Diese sind seitdem kein Ansprechpartner mehr für “Sozialdemokraten”, geschweige denn die Arbeitslosen. Die “Sozialdemokratie” war aufgestiegen:
“Moderne Sozialdemokraten müssen die Anwälte des Mittelstands sein“.
Da steht nicht einmal “Mittelschicht”. Produktionseigentum sollte schon vorhanden sein.
Wer die Resultate dieser Politik auslöffeln sollte, wurde gar nicht verschwiegen:
“Teilzeitarbeit und geringfügige Arbeit sind besser als gar keine Arbeit, denn sie erleichtern den Übergang von Arbeitslosigkeit in Beschäftigung.”
Letzteres mußte als Alibi herhalten. Die Praxis sieht völlig anders aus. Es fehlt dann noch der Hinweis auf sinkende Löhne und Arbeitszwang. Dies alles wurde unter der Formel “Eigenverantwortung” verkauft und in die Hartz-Gesetze gegossen. Soziale Gerechtigkeit verschwand ganz von der Agenda, indem das Karriereschicksal zum gerechten Los umgedeutet wurde. Jeder kriegt halt, was er verdient:
“In der Vergangenheit wurde die Förderung der sozialen Gerechtigkeit manchmal mit der Forderung nach Gleichheit im Ergebnis verwechselt. Letztlich wurde damit die Bedeutung von eigener Anstrengung und Verantwortung ignoriert und nicht belohnt.”
Die Zynische Formel “Gleichheit im Ergebnis”, die in etwa das Gegenteil der sozialen Realität darstellt, war die Abkehr von jedem Gleichheitsideal. Fortan galt “Chancengleichheit”, die nicht nur der maroden Bildungslandschaft Hohn spricht, sondern eben vor allem jede Ungerechtigkeit mit persönlichem Versagen in Verbindung bringt. Fortan wird jenen, die es zu nichts gebracht haben, Beschäftigung ohne Möglichkeit des Einspruchs “zugemutet”. Dem kann sich nur entziehen, wer das Glück eines besseren Jobs hat oder so viel Eigentum, daß er davon leben kann.
Diese Umdeutung sozialer Gerechtigkeit ist mehr als deprimierend, darum galt es, sie möglichst bunt zu verpacken, etwa mit dem Versprechen Millionen neuer Arbeitsplätze, denn:
“Wenn die neue Politik gelingen soll, muß sie eine Aufbruchstimmung und einen neuen Unternehmergeist auf allen Ebenen der Gesellschaft fördern“.
Womit endgültig jeder einzelne Punkt des Lambsdorff-Papiers wiederholt und auf die “neue” Agenda gesetzt worden wäre. Dies also war das Ende “des neoliberalen Laisser-faire”. Für Arbeitnehmer und solche, die es gern wieder wären, hieß das schlicht, daß man sie nicht mehr “lassen” würde. Sie wurden zum Prekariat oder zum potentiellen Prekariat, ständig unter Druck und dem Zwang, ihre Existenz zu rechtfertigen. “Laisser-faire” gab es nicht mehr, der Neoliberalismus aber kam jetzt erst richtig in Fahrt.
Juni 30th, 2010 at 14:56
Kannste schonmal auf deine best-of-Liste packen.
Juni 30th, 2010 at 15:00
Get rich, or die tryin’!!
Juni 30th, 2010 at 15:02
Passend dazu Artikel 12 GG:
(1) Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden.
(2) Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht.
(3) Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig.
Es darf gelacht werden…
Juni 30th, 2010 at 15:39
Treffer – aber diese Treffer versenken leider nicht das Unrecht. Schade.
Da müsste der Spruch – Arbeitnehmer (Arbeiter) aller Länder, vereinigt euch – wieder aus der Mottenkiste geholt werden.
Und dann – da ist und bleibt Gandhi mein Vorbild – Tage des Fasten und Beten – denn ein Generalstreik ist verboten. Nennen wir es eben anders.
Juni 30th, 2010 at 16:16
[...] Beitrag, über diese Umdeutung Sozialer Gerechtigkeit in ihr Gegenteil, brachte heute wieder mal flatter auf Feynsinn, woraus ich folgendes hier zitieren möchte: Am Anfang stand das Lambsdorff-Papier, das in [...]
Juni 30th, 2010 at 16:38
Knapper und unmissverständlicher hat es noch keiner in Worte gepackt – das Dilemma der „geistig moralischen Wende“. Das für die großen „Reformen“ in Deutschland immer geistig Umnachtete oder Kriminelle mit ihrem „Guten Namen“ verantwortlich zeichnen, gehört dann schon in die Kategorie „Treppenwitze der deutschen Nachkriegsdemokratie“.
Leider habe ich auch keinen pragmatischen Ansatz, wie man diesen Saustall ausmisten könnte.
Bleiben Sie am Ball … äh… am Puls der Zeit! ;-)
Juni 30th, 2010 at 17:27
Sehr schöne Zusammenfassung.
Das einzige, was man Blair/ Schröder zu Gute halten kann, ist, dass sie das mit der Chancengleichheit durch Bildung wenigstens einigermaßen ernst meinen. Für neoliberale Parteien wäre das ein Fortschritt (und ist vielleicht noch das einzige, was den “Dritten Weg” und den reinen Neoliberalismus voneinander unterscheidet), mit Sozialdemokratie und deren Werten wie sozialer Gerechtigkeit (als Verteilungsgerechtigkeit) und Solidarität hat das aber nichts mehr zu tun.
Juni 30th, 2010 at 17:35
@unbequemer:
Nur verläuft die Spaltung nicht mehr unbedingt zwischen diesen formalen Fronten (auch Manager gehören zu den Arbeitnehmern …)
Juni 30th, 2010 at 18:42
“In der Vergangenheit wurde die Förderung der sozialen Gerechtigkeit manchmal mit der Forderung nach Gleichheit im Ergebnis verwechselt. Letztlich wurde damit die Bedeutung von eigener Anstrengung und Verantwortung ignoriert und nicht belohnt.”
Also
Zweckentfremdete Förderung sozialer Gerechtigkeit, d. h. solche, die zugleich noch Gerechtigkeit im Ergebnis fordert, führt dazu, dass “Letztlich (…) die Bedeutung von eigener Anstrengung und Verantwortung ignoriert und nicht belohnt” wird. Der wahre Zweck sozialer Gerechtigkeit ist somit die Förderung von Eigenverantwortung. und eigener Anstrengung.
Oder
Sowohl wenn man (1.) die Förderung sozialer Gerechtigkeit vernachlässigt, und jene falsch als Forderung nach Gleichheit im Ergebnis versteht, als auch wenn man (2.) soziale Gerechtigkeit fördert, jedoch vergisst, Gerechtigkeit im Ergebnis zu fordern dann führt das dazu, dass “Letztlich (…) die Bedeutung von eigener Anstrengung und Verantwortung ignoriert und nicht belohnt” wird.
D. h. (1.) u. (2.) sind hier unerlässliche, jedoch jeweils einzeln keine hinreichenden Bedingungen.
Will man also Eigenverantwortung und eigene Anstrengung fördern, müssen soziale Gerechtigkeit gefördert und Gleichheit im Ergebnis gefordert werden.
Ich sehe da eher eine kausale Beziehung zw. (1.) und (2.).
Juni 30th, 2010 at 21:11
@ Markus (8)
Ja, stimmt. Und ich denke, viele der Heute “leitenden Angestellten” wären sicher zu einer anderen Zeit als Kapos tätig gewesen.
Juni 30th, 2010 at 21:36
“Gott schütze unser Land.
Vielen Dank!”
(der neue Buprä)
Jetzt singen wir die Nationalhymne.
Was mir in der deutschen Debatte abgeht, ist der Begriff des Soziopathen.
Die unter anderem die schöne Eigenschaft haben, zu lügen, dass sich die Balken biegen, ohne rot zu werden, oder dass ein Lügendetektor anspricht.
Diese Spezies konzentriert sich die Hierarchieleiter hinauf.
Eine Augsburgerin hat zu Mixa gesagt:
“Ein guter Mann, und so schöne Predigten hat er gehalten!”
Da habe ich keine Zweifel.
Juni 30th, 2010 at 22:10
Etwas oT,
ich verfolge nur meine Spur:
Wie kommt das:
Schröder: vierte Ehe
Fischer: fünfte Ehe, ehem. Rabauke
Westerwelle,: bekannt
Wulf: 2x verheiratet, Patchwork, ähem-halbevangelikal
Gauck: vier Kinder, getrennt lebend, Freundin, Pastor
Merkel: Pastorentochter, 2x verheiratet
Seehofer: Seitensprüngler; sonst sehr katholisch
Blair: konvertierter Katholik (und chronischer Lügner); Gattin Cherie esoterisch angehaucht
…
Liste beliebig erweiterbar.
Ich halte mich ja für einen toleranter Menschen, aber irgendwas gefällt mir da nicht.
Juli 1st, 2010 at 05:16
Schön zusammengefasst – aber Du weißt doch selbst, was mit dem Begriff “liberal” in unserer Welt gemeint ist, gelle? Das bedeutet “doppelplusgut”.
Wer Westerwelles Statement anlässlich der “Wahl” des Evangelikalen Wulff zum Bundespräsidenten verfolgt hat, weiß, was das bedeutet.
Dein Beitrag eignet sich übrigens gut dafür, um eine Verschwörungstheorie zu untermauern – und zwar eine, von der ich persönlich glaube, dass sie keine Theorie, sondern bittere Wahrheit ist. Oder gibt es andere, wahrscheinlichere Indizien dafür, wieso die ehemalige “Sozialdemokratie” zu einem Büttelverein des Kapitals mutiert ist?
Diese korrupte Sumpfbrühe stinkt zum Himmel. Es gibt Tage, an denen bedaure ich es, Pazifist zu sein.
Juli 1st, 2010 at 11:39
Darf ich das GIF “powered by …” verwenden (Homepage)?
Juli 1st, 2010 at 12:44
@Rubber Bot: Yes, you can.
Juli 1st, 2010 at 13:47
“Fortan wird jenen, die es zu nichts gebracht haben, Beschäftigung ohne Möglichkeit des Einspruchs “zugemutet”. Dem kann sich nur entziehen, wer das Glück eines besseren Jobs hat oder so viel Eigentum, daß er davon leben kann.”
Eine der grossen Lügen unserer Zeit: 1 Euro Jobs gabs schon längst vor Hartz4, aber ausschliesslich für Sozialhilfeempfänger.
Und dazu direkt noch was: die Linke hat vor das (alte System) genau so bei zu behalten. Für kranke, behinderte, alte und sonstige nicht vom Arbeitsmarkt “verwertbare” Menschen gibt es KEINE Alternative in D.
Im Zirkelschluss heisst das natürlich, das die Kohlregierung zum Grossteil aus Sozialisten bestand – na, da hamwa doch schon wieder was gelernt:
Trust no one!
Juli 5th, 2010 at 13:24
[...] dem Siegeszug des Lambsdorff-Papiers, den ausgerechnet eine sogenannte “linke” Regierung durchgesetzt [...]
Juli 6th, 2010 at 22:27
@Groo #12
Kann verstehen, was Du meinst: Wer sein “privaten Scheiß nich auf die Reihe kriegt iss auch sonst kein Schuss Pulver wert!” Ich bin da ‘n ganz komischer Vogel: Seit ’69 ein und die Selbe, seit 72 vh., 4 Kinder, Höhen und Tiefen … und trotzdem: Die von Dir Genannten repräsentieren den Normalzustand. Das ist nicht nur ein Zeitphänomen (wie ich im Umfeld meiner Kizz partiell beobachten kann) sondern auch geschichtlich nach vollziehbar.
August 19th, 2010 at 00:00
[...] wahren. Sie sind nachweisbar Hirngespinste, die dem Zwang zur Schönfärberei entspringen, wie er von Lambsdorff bis Schröder verordnet wurde. Was gibt es da zu diskutieren? Wenn ihr Umfragen startet, deren Resultat eurer [...]
August 23rd, 2010 at 15:34
[...] wem sie wirklich dienen. Tony Blair, der in Schulterschluß mit Schröder Europa den Heuschrecken zum Fraß vorgeworfen hat, gründet jetzt eine Bank für seine unverschämt reichen [...]