Es ist mir einmal mehr das Bedürfnis, mich mit dem Begriff “liberal” zu beschäftigen, nicht zuletzt angesichts des anhaltend furchtbaren Zustands sogenannter “liberaler” Parteien in Europa. Wo sich noch nicht hinter dem finalen Etikettenschwindel intolerantes bis braunes Gesindel versammelt, beschränkt sich der Freiheitsbegriff auf die Freiheit des Marktes, die unmittelbar in die Unfreiheit der Menschen umschlägt. Ehe ich in einem weiteren Artikel auf Grundsätzliches zum Begriff komme, möchte ich noch einmal einen Blick auf die Geschichte der vergangenen 30 Jahre werfen, der Ära des Neoliberalismus.

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Am Anfang stand das Lambsdorff-Papier, das in Verlängerung der “neokonservativen” Politik Reagans in den USA und dem Thatcherismus in England das Programm auf den Punkt brachte:

- Niedrige Löhne
- Niedrige Kosten der Sozialabgaben für Arbeitgeber, Senkung der Lohnersatzleistungen
- Niedrige Steuern, insbesondere für Unternehmen
- Niedrige Staatsausgaben, “Konsolidierung” der öffentlichen Haushalte
- Deregulierung
- Privatisierung
- Bindung des Freiheitsbegriffs ans Privateigentum, Unantastbarkeit des letzteren
- Ausschließlich positive Kommunikation der wirtschaftlichen Lage.

Im Juni 1999 stellten dann die “Sozialdemokraten” Schröder und Blair ihr Konzept vor, in dem es hieß:

Die beiden vergangenen Jahrzehnte des neoliberalen Laisser-faire sind vorüber“.

Wahr ist, daß die seinerzeit vergangenen Jahrzehnte vorüber waren. Was aber sollte sich wirklich ändern? Ein Blick in die Leitsätze:

Flexible Märkte sind ein modernes sozialdemokratisches Ziel.

Was bis dahin “Deregulierung” hieß, wurde umgetauft. Die Finanzmärkte wurden dereguliert wie niemals zuvor, Arbeitnehmerrechte abgebaut. Wogegen Sozialdemokraten jahrzehntelang gekämpft hatten, das wurde jetzt einfach selbst “sozialdemokratisch”. Die “Public Private Partnership” – Projekte schossen nur so aus dem Boden, es wurde privatisiert auf Teufel-komm-raus, denn auf dem Programm stand:

Der Staat soll nicht rudern, sondern steuern“.

Der schlanke Staat wurde weiter auf strenge Diät gesetzt, Unternehmen entlastet:

“Sozialdemokraten dürfen deshalb exzessive Staatsverschuldung nicht tolerieren” und “Die Steuerbelastung von harter Arbeit und Unternehmertum sollte reduziert werden”.

ausbsrg Hiermit war nicht zuletzt der Spitzensteuersatz gemeint. Die am häufigsten erwähnte Forderung des Papiers ist die “Senkung der gesetzlichen Lohnnebenkosten“, die den Arbeitnehmern als “höheres Netto” schmackhaft gemacht wurde. Das Motto “Mehr Netto vom Brutto” ist so neu also nicht. Daß tatsächlich damit nur die Arbeitgeber entlastet wurden, weil die Kosten der Sozialhaushalte ja weiterhin bezahlt werden müssen, hat freilich niemand verraten. Aus der paritätischen Finanzierung waren die Betriebe raus, ihre Steuern wurden gesenkt. Diese doppelte Entlastung zahlt am Ende der Bürger, zum größten Teil die Arbeitnehmer. Diese sind seitdem kein Ansprechpartner mehr für “Sozialdemokraten”, geschweige denn die Arbeitslosen. Die “Sozialdemokratie” war aufgestiegen:

Moderne Sozialdemokraten müssen die Anwälte des Mittelstands sein“.
Da steht nicht einmal “Mittelschicht”. Produktionseigentum sollte schon vorhanden sein.

Wer die Resultate dieser Politik auslöffeln sollte, wurde gar nicht verschwiegen:

Teilzeitarbeit und geringfügige Arbeit sind besser als gar keine Arbeit, denn sie erleichtern den Übergang von Arbeitslosigkeit in Beschäftigung.”

Letzteres mußte als Alibi herhalten. Die Praxis sieht völlig anders aus. Es fehlt dann noch der Hinweis auf sinkende Löhne und Arbeitszwang. Dies alles wurde unter der Formel “Eigenverantwortung” verkauft und in die Hartz-Gesetze gegossen. Soziale Gerechtigkeit verschwand ganz von der Agenda, indem das Karriereschicksal zum gerechten Los umgedeutet wurde. Jeder kriegt halt, was er verdient:

In der Vergangenheit wurde die Förderung der sozialen Gerechtigkeit manchmal mit der Forderung nach Gleichheit im Ergebnis verwechselt. Letztlich wurde damit die Bedeutung von eigener Anstrengung und Verantwortung ignoriert und nicht belohnt.

Die Zynische Formel “Gleichheit im Ergebnis”, die in etwa das Gegenteil der sozialen Realität darstellt, war die Abkehr von jedem Gleichheitsideal. Fortan galt “Chancengleichheit”, die nicht nur der maroden Bildungslandschaft Hohn spricht, sondern eben vor allem jede Ungerechtigkeit mit persönlichem Versagen in Verbindung bringt. Fortan wird jenen, die es zu nichts gebracht haben, Beschäftigung ohne Möglichkeit des Einspruchs “zugemutet”. Dem kann sich nur entziehen, wer das Glück eines besseren Jobs hat oder so viel Eigentum, daß er davon leben kann.

Diese Umdeutung sozialer Gerechtigkeit ist mehr als deprimierend, darum galt es, sie möglichst bunt zu verpacken, etwa mit dem Versprechen Millionen neuer Arbeitsplätze, denn:

Wenn die neue Politik gelingen soll, muß sie eine Aufbruchstimmung und einen neuen Unternehmergeist auf allen Ebenen der Gesellschaft fördern“.

Womit endgültig jeder einzelne Punkt des Lambsdorff-Papiers wiederholt und auf die “neue” Agenda gesetzt worden wäre. Dies also war das Ende “des neoliberalen Laisser-faire”. Für Arbeitnehmer und solche, die es gern wieder wären, hieß das schlicht, daß man sie nicht mehr “lassen” würde. Sie wurden zum Prekariat oder zum potentiellen Prekariat, ständig unter Druck und dem Zwang, ihre Existenz zu rechtfertigen. “Laisser-faire” gab es nicht mehr, der Neoliberalismus aber kam jetzt erst richtig in Fahrt.