Zur Psychologie des Neoliberalismus
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11. Feb 2009 2:35
In der gegenöffentlichen Debatte spielt der Begriff des “Neoliberalismus” eine zentrale Rolle. Er bezeichnet die Ideologie der westlichen Marktwirtschaft, des zeitgenössichen Kapitalismus. Protoptypisch ist diese Ideologie in Deutschland formuliert und institutionalisiert worden. Dafür stehen Think Tanks wie die “INSM”, politische Großprojekte wie die “Agenda 2010″ und das Grundkonzept des deutschen Neoliberalismus, das Lambsdorff-Papier. Seit dem Ende der sozialliberalen Koalition hat sich ein Konzept etabliert, das auf einigen simplen Grundannahmen beruht und ebenso effizient wie aggressiv umgesetzt wurde. Ein wichtiger Aspekt der Umsetzung des Konzepts ist schon in diesem selbst angelegt: Der Zwang zum Optimismus, die Rede vom “Aufschwung”. Zunächst aber zu den Grundpfeilern des Konzepts. Diese sind:
- Niedrige Löhne
- Niedrige Kosten der Sozialabgaben für Arbeitgeber, Senkung der Lohnersatzleistungen
- Niedrige Steuern, insbesondere für Unternehmen
- Niedrige Staatsausgaben, “Konsolidierung” der öffentlichen Haushalte
- Deregulierung
- Privatisierung
- Bindung des Freiheitsbegriffs ans Privateigentum, Unantastbarkeit des letzteren
- Ausschließlich positive Kommunikation der wirtschaftlichen Lage.
Kurze Geschichte einer Ideologie
Begleitet wurde dieses Grundkonzept von einer äußerst differenzierten und forcierten öffentlichen Kommunikation. So gelang es, die Inanspruchnahme von Lohnersatzleistungen mit der Vokabel “(Sozial-)Mißbrauch” zu konnotieren, die Bezieher hoher Einkommen als “Leistungträger” zu kommunizieren und Arbeitslosigkeit mit “Eigenverantwortung” zu verbinden. Letzteres ist eine besonders gelungene Kombination, die sowohl die Möglichkeit bietet, Arbeitslosen allerlei zuzumuten unter dem Vorwand, ihre “Eigenverantwortung” zu aktivieren, als auch die Möglichkeit, sie selbst für ihre Lage verantwortlich zu machen. Strukturelle Bedingungen der Arbeitslosigkeit oder massenhafter Stellenabbau trotz exorbitanter Gewinne geraten so in den Hintergrund.
Die “Agenda 2010″, die im Grunde aus den “Hartz”-Gesetzen, der Liberalisiserung des Börsenhandels, Steuerbegünstigungen für Aktiengesellschaften und weiterer Privatisierungen besteht, ist eine 1:1-Umsetzung des Lambsdorff-Papiers. Was die Regierungen Kohl sich in dieser Radikalität nicht zugetraut haben, durfte eine Rot-Grüne durchsetzen, weil ihr Wählerklientel diejenigen waren, die dagegen hätten aufbegehren müssen. Da Schröder aber ein Arbeitsmarktwunder versprochen hatte und auch sonst allerlei Nebelmaschinen anwarf, gab es keinen großen Widerstand. Die parlamentarische Opposition besteht seitdem in einer einzigen Partei, die als linke mit Vergangenheit problemlos als Schmuddelkind diktatorischer Herkunft denunziert werden konnte.
Eine aufklärersiche Presse, die dagegen gehalten hätte, gab und gibt es nicht in relevanter Verbreitung. Es zeigt sich, daß die Demokratie aufhört zu funktionieren, wenn zwischen den Leitlinien der etablierten Parteien kein kritischer Widerspruch besteht. Die “freie Presse” erweist sich als Konglomerat von Parteigängern mit fester Anbindung ans Establishment. Es findet sich kein großer Printverlag, der sich mit diesem anlegt. Im Gegenteil werden einerseits Informationen nur in esoterischen Zirkeln von der Politik an die Medien weitergegeben, andererseits sind aus den Verlagen Konzerne geworden, die sich am Gewinn orientieren und diesem ihre aufklärersiche Funktion strikt unterordnen.
In diese Struktur sickern die vorbereiteten mundgerechten “Informationen” der neoliberalen Think-Tanks ein wie warmes Öl. Nahtlos passen sich “Erhebungen” und “Studien” von “Instituten” ein, deren Organisation straff auf Tendenz abgestellt ist. Als trauriges Beispiel sei hier Forsa erwähnt, das als “Demoskopie” verkauft, was tatsächlich die Meinung eines einzelnen verbreitet, nämlich des Institutschefs Güllner, einem stramm rechten SPDler schröderscher Prägung.
Daß Rotgrün erst verwirklichte, wovon Schwarzgelb unter Kohl nur träumte, war der Anfang. Die Große Koalition forciert diesen Kurs mit aller verfassungsgebenden Macht.
Der wahrscheinlich ernst gemeinte ökonomische Kern dieser Ideologie besteht in dem Glauben, daß die optimalen Bedingungen für die Erwirtschaftung von Gewinnen in einer globalen Wirttschaft zum “Wohlstand für alle” führt. “Alle” sind in diesem Fall allerdings nur die Deutschen, denn es wurde wieder einmal hier so gnadenlos wie nirgends sonst darauf gesetzt, daß die Welt uns diene. Wir schickten Waren statt Truppen und sind abonnierter “Exportweltmeister”. Tatsächlich hat das in den vergangenen gut 25 Jahren trotz der “Kosten der Wiedervereinigung” zu gigantischen Wirtschaftsleistungen geführt.
Zwei maßgebliche ökonomische Aspekte sind aber außer Acht gelassen worden, größtenteils bewußt, teils, weil das Konzept eben nicht aufgeht: Der “Wohlstand” kommt nur den wenigsten zugute, was unmittelbar zu einer dauerhaften Lähmung des Binnenmarktes geführt hat, und die Deregulierung hat zu einer fatalen Aufblähung des Finanzsektors geführt. Dies führt zunächst zu einer enormen Beschleunigung der Schieflage bei Einkommen und Vermögen. Dem Kreislauf der Warenwirtschaft, Produktion und Konsum, wurde das Geld massiv entzogen, weil sich mit Spekulation viel höhere Gewinne erzielen ließen. Diese Gewinne kommen nur denen zugute, die das Geld dafür zur Verfügung haben.
Da sich aber dauerhaft nur Gewinne erzielen lassen, wenn solvente Kunden etwas kaufen, mußte dieses System zwangsläufig zusammenbrechen, weil zuletzt die hohen Gewinnerwartungen nur noch durch windige Geschäfte zu befriedigen waren. Die Kredite, die amerikanischen Häuslebauern angedreht wurden, welche mit Verstand betrachtet von vornherein insolvent waren, sind das finale Symptom dieses Irrsinns.
Der Niedergang und seine Ursachen
Nun rächt sich jedes Detail der neoliberalen Plünderung. Eine Wirtschaft, die sich selbst überlassen ist, die niedrige Löhne etabliert hat, private Haushalte mit hohen Kosten für Sozialversicherungen und Energie belastet und dann von den Zinsen profitieren will, die diese Haushalte aufbringen sollen, kann nur kollabieren. Zuerst kam diese Erkenntnis bei den Banken an, dann bei der Realwirtschaft. Nichts geht mehr, das Geld ist weg. Diejenigen, die kaufen wollen und müßten, haben keins mehr. Diejenigen, die es haben, können dafür nichts kaufen, was sie brauchen. Und sie können es auch nicht mehr ausgeben, um mehr daraus zu machen.
Symptomatisch für die Zwangsneurose der Gewinnmaximierung sind die Beschwörung des “Aufschwungs”, die Blindheit gegen die schiere Möglichkeit einer Rezession und die schon 1982 im Lambsdorff-Papier zementierte Ablehnung jeder Form vom Kritik am Zwangsoptimismus:
“Eine Hauptursache für die seit Jahren anhaltende Labilität der deutschen Wirtschaft liegt zweifellos in der weitverbreiteten und eher noch wachsenden Skepsis im eigenen Lande. Die seit über zwei Jahren andauernde Stagnation, die immer neu hervortretenden Strukturprobleme, die wachsende Arbeitslosigkeit, die große Zahl von Insolvenzen, das Bewußtwerden internationaler Zinsabhängigkeit sowie nicht zuletzt die Auseinandersetzungen und die Unklarheit über den weiteren Kurs der Wirtschafts-, Finanz- und Gesellschaftspolitik haben in weiten Bereichen der deutschen Wirtschaft zu Resignation und Zukunftspessimismus geführt.”
“Bisher ist es jedoch dadurch nicht gelungen, die pessimistische Grundstimmung zu überwinden und die wirtschaftlichen Zukunftserwartungen zu verbessern. [...]Eine die Wirtschaft nicht überzeugende Konsolidierungspolitik kann aber keine neuen Unternehmensinitiativen wecken; sie kann sogar durch das Zusammentreffen von staatlicher Nachfragekürzung ansteckendem Pessimismus in der Privatwirtschaft einen noch gefährlicheren circulus vitiosus in Richtung Depression auslösen”
Die Farce zum Finale
Wer in den vergangenen Monaten die Reden von Steinbrück verfolgt hat, hat dieses Schauspiel noch einmal in seiner ganzen Erbärmlichkeit miterlebt. Von “Crisis-what Crisis?” über “Nur nicht die Rezession beschwören” bis hin zum “tiefsten Abgrund” waren es nur einige wenige Schritte. Ohne jede (Selbst)-Kritik manifestiert sich da das “Weiter so” ohne ein “Weiter” und ohne ein “So”, um in einem bräsigen “oder so” zu verhallen.
Die letzte Schlacht einer realitätsblinden Strategie ist ebenso konsequent wie tragisch. Diese war von vornherein darauf angelegt, sich gegen jede Kritik abzuschotten und jedes Opfer hinzunehmen. Der Neoliberalismus kann sich nicht anders denken als alternativlos. Die Verhöhnung und Beschuldigung der Verlierer, das Zusammenrücken derer, die sich als “Elite” betrachten, das Hinnehmen jeder schreienden Ungerechtigkeit auf dem Weg in den Abgrund waren Programm. Die Gleichsetzung von “Privateigentum” mit Freiheit hat die Frage gar nicht zugelassen, wie denn die Menschen ohne Vermögen zu ihrer “Freiheit” kämen. Daraus folgt unmittelbar die Notwendigkeit, sie für ihr Los persönlich verantwortlich zu machen.
Ganz selbstverständlich ist den Ideologen auch der Untergang nur ein dummer kleiner Unfall und die Verantwortung bei anderen zu suchen – am Ende beim Schicksal und bösen Einzeltätern.
Eines aber ist heute und für alle Zeiten klar: Es gab und gibt keine Alternative.
Februar 11th, 2009 at 05:47
Schön, die aktuelle Misere und deren Zustandekommen samt der dafür Verantwortlichen auf diese Weise mal kurz und knapp zusammengefasst zu bekommen. ;-)
Februar 11th, 2009 at 09:56
Ein ausgezeichneter Artikel, den eigentlich jeder in Deutschland lesen sollte. Viele Verlinkungen werden Dir hoffentlich sicher sein. Warum findet sich da draußen nicht ein reicher, links-liberaler Gönner, der einen Text wie diesen zeitgleich als vollseitige Anzeige in Süddeutscher, Welt, Zeit und FTD schaltet?
Weil es keine reichen, Links-liberalen gibt? Korrumpiert Geld derart?
Februar 11th, 2009 at 10:50
@demokratie-ist-wichtig.de
Das könnte damit zusammen hängen, dass in der heutigen Gesellschaft nur derjenige Erfolg zu haben glaubt, der sich den oben genannten Spielregeln unterwirft. Soll heißen, wer links-liberal ist, wird nicht versuchen, nach den marktradikalen Spielregeln zu spielen und demnach keinen Erfolg im monetären Sinn haben.
Alleine deshalb wirst du nach dem reichen links-liberalen Gönner mit der Lupe suchen müssen…
Februar 11th, 2009 at 13:27
Oder wie die Amerikaner sagen: Nice guys don’t win the ball game.
Ich plädiere schon lange für die Wiedereinführung der Sklaverei. Kost (Wasser, Brot, ggf. ein wenig Obst und Gemüse der Vitamine wegen!), Logis (Massenunterkünfte in Wellblechhütten) und zur Motivation die gute, alte Peitsche. Im Gegenzug muß sich der Sklave um seine Zukunft keine Sorgen mehr machen, mangels einer solchen.
Vermutlich ist das der ultimative, feuchte Traum der “Eliten”, wenn sie von “markträumenden Löhnen” faseln. Sie haben nur nicht den Mumm, das Kind beim Namen zu nennen.
Februar 11th, 2009 at 14:36
Mir wird’s immer warm ums Herzen, wenn ich “links-liberal” höre. Freue mich wie ein kleines Kind. Kann mir jemand erklären (bitte!, bitte!) was dies bedeutet.
Februar 11th, 2009 at 14:41
nicht zu vergessen die Steuergeschenke fuer Reiche und Erben. Weil ja vor allem das Erben eine der groessten “Leistungen” ist die Mensch vollbringen kann. Man beachte den Unterschied zum Ver-Erben.
Februar 11th, 2009 at 17:03
Eine Kritik für einen interessanten Artikel: von der Psychologie habe ich jetzt nichts gelesen.
@Flying Circus:
Sklaverei lohnt sich nicht. Ein Argumentationsstrang bei der Abschaffung der Sklaverei im 18. und 19. Jh. war gerade die mangelnde Effizienz der Sklaverei. Hume, Smith, Marx, Mill u.a. kamen darin überein. Wens interessiert: Elisabeth Hermann-Otto hat unlängst ein Buch zur Geschichte der unfreien Arbeitsverhältnisse herausgegeben.
Februar 11th, 2009 at 17:07
@ 5
reicht es ganz kurz?
Bürgerechte und gesellschaftliche Liberalität + Keynes ;-)
Februar 11th, 2009 at 17:23
[...] Zur Psychologie des Neoliberalismus In der gegenöffentlichen Debatte spielt der Begriff des “Neoliberalismus” eine zentrale Rolle. Er bezeichnet die Ideologie der westlichen Marktwirtschaft, des zeitgenössichen Kapitalismus. Protoptypisch ist diese Ideologie in Deutschland formuliert und institutionalisiert worden. Dafür stehen Think Tanks wie die “INSM”, politische Großprojekte wie die “Agenda 2010″ und das Grundkonzept des deutschen Neoliberalismus, das Lambsdorff-Papier. Seit dem Ende der sozialliberalen Koalition hat sich ein Konzept etabliert, das auf einigen simplen Grundannahmen beruht und ebenso effizient wie aggressiv umgesetzt wurde. Ein wichtiger Aspekt der Umsetzung des Konzepts ist schon in diesem selbst angelegt: Der Zwang zum Optimismus, die Rede vom “Aufschwung”. Zunächst aber zu den Grundpfeilern des Konzepts. [...]
Februar 11th, 2009 at 20:08
Neu an Neoliberalen ist, dass sie inzwischen sehr alt aussehen.
Solche Seemannnsgarn verzapfenden Klabautermänner sind von der ihr angehimmelten neoliberalen Krake mit Haut und Haaren verschlungen worden. Was da hinten herauskommt ist offensichtlich.
Die geamte Menschheit hat nun an den Exkrementen dieser neoliberalen Schädlinge zu leiden.
Dem sollte ein für allemal ein Ende gemacht werden.
Februar 11th, 2009 at 22:15
@ 7:
Allerdings war die Sklaverei zum Zeitpunkt, an dem sie abgeschafft wurde, extrem profitabel. Die Überlegenheit der freien Lohnarbeit war ideologisch begründet.
Februar 11th, 2009 at 22:20
In der simplen, aber eingängigen bei jedem einzelnen ansetzenden Rhetorik des Neoliberalismus dürfte auch ein Grund für dessen überaus zähes und lang anhaltendes Dominieren im öffentlichen Diskurs liegen:
Wer möchte schon nicht frei von “staatlicher Bevormundung” sein, wer mag schon die “ausufernde Bürokratie” und wer zahlt gerne Steuern? Frei und ungebunden möchten sie sein, die “Leistungsträger” der Marktwirtschaft, und sich nicht reinreden lassen vom “gefräßigen Staat”. Und die, die es nicht geschafft haben, sind eben selber schuld und haben deshalb auch kein Anrecht auf übermäßige Unterstützung durch die Gemeinschaft der “Leistungsträger”.
Februar 11th, 2009 at 23:38
ich sach jetzt mal nix und verlinke nur.
Februar 11th, 2009 at 23:43
[...] https://archiv.feynsinn.org/?p=1042#comment-5478 [...]
Februar 12th, 2009 at 00:46
Das mit dem Begriff ‘links-liberal’ (trotz der sicher treffenden Erklärung weiter unten, merci) kann ich nachvollziehen. Ich selbst sehe mich eher als links-konservativ, aber mir ist diese Bezeichnung nicht geläufig, und sie klingt ein wenig nach schwarzer Socke (wenn auch selbst gestrickt).
Februar 12th, 2009 at 03:30
[...] flatter – Die Psychologie des Neoliberalismus … eine etwas längere, dennoch als kompakt zu bezeichnende Zusammenfassung zum Thema Neoliberalismus bei gleichzeitig angebrachter Fokussierung auf dessen finale Perfektionierung „made by Lambsdorff and in Germany“ … der Artikel beschreibt umfänglicher und zusammenfassend, was bspw. auch ich bei „jeder sich aufdrängenden Gelegenheit“ darzustellen und als Kern „unseres Problems“ zu entlarven versuche. [...]
Februar 12th, 2009 at 08:39
@romano:
Es ist volkswirtschaftlich betrachtet auch eine Katastrophe (== ineffizient), die Empfänger von ALG II dazu zu zwingen, das erste (nicht beste) Arbeitsangebot anzunehmen, natürlich zu Dumping-Löhnen. So arbeitet dann der hochqualifizierte Ingenieur mit etwas Pech irgendwo als Reinigungskraft.
In Anbetracht der Tatsache, daß obiges unsere Eliten einen Scheiß (Verzeihung) interessiert, meinst Du wirklich, daß es da drauf ankommt, ob Sklaverei “ineffizient” ist?
Februar 12th, 2009 at 14:18
Eine sehr einseitige und wenig objektive Analyse. Aber das zu sein gibt sie ja auch nicht vor.
Ersteinmal muss festgestellt werden, dass das Wort “Neoliberalismus” sehr viel älter ist, als du hier suggerierst. Der Neoliberalismus war als Neuauflage des gescheiterten klassischen (Wirtschafts-)liberalismus, auch als Laizess-Faire bekannt, gedacht. Er sollte ebendrum auch dem Staat eine erweiterte Rolle gegenüber dem Liberalismus alter Prägung geben. In Deutschland war auch der Erhardsche Ordoliberalismus eine Form des Neoliberalismus. Der Begriff ist also äußerst unscharf.
Korrekter müsste heutzutage eigentlich von einem Neo-Neoliberalismus gesprochen werden, aber dieser Begriff ist völlig unangebracht, deswegen spreche ich lieber von Marktradikalismus. Natürlich wollen alle Krititer des Marktradikalismus’ zeigen, dass die gegenwärtige Ideologie eine Neuauflage des (ur)-alten klassischen Wirtschaftsliberalismus’ ist. Insofern wäre die Kennzeichnung durch ein “Neo” bzw “Neu” vor dem Wort durchaus logisch. Leider ist der Begriff aber schon besetzt und bezeichnet eine andere Denkweise und auch ein anderes Handeln.
Eine wirklich ernsthafte wissenschaftliche Diskussion mit Verfechtern dieses zeitgenössischen Marktradikalismus’ werdet ihr nur führen können, wenn ihr anerkennt, dass das Wort “Neoliberalismus” falsch ist. Es ist historisch bereits besetzt.
Soviel zum Begriff. Ansonsten finde ich deine Aufzählung der Konzepte und die Folgen ziemlich zutreffend. Regelmäßig zum Würgen bringt mich die Betonung der “Leistungsträger” (die wahlweise der Mittelstand oder die Bezieher hoher Einkommen sind) und die Annahme, Leistungsempfänger wären Schmarotzer. Das ist für mich menschenverachtend. Vielmehr sollte die Gesellschaft stolz darauf sein, sich wirkliche Solidarität mit den weniger begüterten leisten zu können.
Die Frage bleibt, wer wirklich Schuld an dem Aufkommen dieser Ideologie ist. Es greift viel zu kurz, Schröder, die FDP oder den Amis die Schuld zu geben. Es ist einfach der Zeitgeist gewesen. Wir hier in Europa sahen, dass Amerika ein deutlich stärkeres Wirtschaftswachstum aufweist als Kontinentaleuropa und wir sahen, dass in Amerika eine andere Wirtschaftsphilosphie vorherscht als hier. In Amerika gab und gibt es “Hire and Fire”, Privatisierung im großen Stil, richtig dicke Managergehälter etc. Es wurde ein Zusammenhang zwischen diesen Anzeichen einer weit liberaleren Wirtschaftsphilosophie und dem hohen Wirtschaftswachstum in den USA konstruiert. Also hat man versucht, das gleiche hier zu kopieren. Ich glaube nicht, dass es dafür wirklich niedere Beweggründe oder gar einen “Komplott der Reichen” oder eine Verschörung der INSM gab – die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft haben wirklich daran geglaubt, dass die seit Jahren stagnierende Wirtschaft in Europa einen Schub kriegen würde wenn sie angelsächsischer wird. Und tatsächlich hat das teilweise auch funktioniert. Dass der “kleine Mann” davon kaum etwas gemerkt hat (was in Amerika kaum anders ist) ist eine andere Sache – rein statistisch gesehen haben die Agenda-Reformen die Wirtschaft befeuert. Leider bringt es real kaum etwas, wenn zwar auf dem Papier ein Prozent mehr Wachstum zu sehen ist, die Verteilung des erwirtschafteten Reichtums aber so konzipiert ist, dass nur wenige mittelbar wirklich davon profitieren. Kurzum: Der (historisch gesehen) relativ junge Ausflug der deutschen Marktwirtschaft in Richtung angelsächsischer Philiosophie war ein Irrtum, deren Erträge eine Illusion.
Wie kann es jetzt weitergehen? Die alte Wirtschaftsweise der Bundesrepublik, die uns seit dem Wirtschaftswunder begleitet hat und das Soziale stark betont funktioniert in der globalisierten Weltwirtschaft nicht mehr so gut, wie das früher der Fall war. Wer, wie einige Vertreter der Linkspartei behauptet, man müsste nur die Wirtschaftsgesetze des letzten Jahrzehnts rückgängig machen und schon würde hier wieder das Paradis auf Erden herrschen, der verkennt die Lage. Das würde nur funktionieren, wenn wir unsere Volkswirtschaft wieder ein Stück weit schließen, schön exportieren, weniger importieren, auch Niedriglohnarbeit in Deutschland wirklich profitabel machen, Zölle auf Niedriglohnprodukte aus China erhöhen… Das will doch auch keiner wirklich, oder?
Es braucht mehr Solidarität in der Gesellschaft. Es sollte für Wohlhabende völlig Selbstverständlich sein, dass sie ärmere Menschen massiv unterstützen, dass Umverteilung keine “staatliche Bevormundung” oder gar ein “sozialistisches Verbrechen” ist, sondern dass es (übertrieben formuliert) fast eine Ehre ist, “sein” Geld anderen zur Verfügung zu stellen, die es bitter nötig haben. Die Löhne müssen nach oben gekappt werden – nicht so sehr weil das wirklich etwas ändern würde, sondern weil eine Begrenzung der extrem hohen Gehälter ein starkes Symbol an die Gesellschaft sind. Das Niedriglohnheer in der BRD kann nicht mehr in profitable Arbeitsplätze gebracht werden. Ihre Arbeit ist anderswo einfach sehr viel billiger zu kriegen. Deutschland ist nur im hochqualifizierten Bereich profitabel, äußerst profitabel. Das langfristige Ziel müsste es also sein, dass es in Deutschland keine niedrigqualifizierten Menschen mehr gibt. Die Skala müsste sich quasi verschieben. Das ist eine Zukunftsaufgabe und das begreifen immer mehr Menschen.
Was kann man mittelfristig machen? Da bleibt nur stärkere Subventionierung der niedrigqualifizierten Arbeit. So wie sie jetzt schon stattfindet, nur noch stärker.
Deutschland fehlt es nicht an Geld und Reichtum. Es müsste nur stärker umverteilt werden. Aber Umverteilung kommt naturgemäß bei denen, die geben müssen immer schlechter an als bei denen die empfangen. Das ist allerdings abhängig vom vorherrschenden Zeitgeist, das ist nichts fixes.
Februar 12th, 2009 at 14:33
@Kalle: Natürlich hast du recht, was den Ursprung des Begriffs anbetrifft. Ich beziehe mich aber auf die Begriffsverwendung in der aktuellen Debatte, der eben davon abweicht und versuche, ihn in den ebtsprechenden Kontext zu stellen. Neo-Neoliberalismus wäre womöglich treffender, aber es hat sich eben eine Bedeutungverschiebung in bezug auf den Begriff “Neoliberalismus”.
Februar 12th, 2009 at 15:23
Nein, Kalle hat gar NICHT RECHT!
INSM und viele andere Betrüger wollen der Theorie der Sozialen Marktwirtschaft die Etikett NEOLIBERAL geben. Eine reine Orwellsche Strategie. So wie es mit dem Wort Reform der Fall war. Dort war es ein riesiger Erfolg. Jetzt versucht die FDP dasselbe mit der „Sozialen Marktwirtschaft“ tun. So eine Dreistigkeit – unbegreifbar !!!!!!!!!
Diejenigen, die mit der Sozialen Marktwirtschaft etwas zu tun haben, nennt man Ordoliberale. Nur einer von ihnen wollte den Begriff n e o l i b e r al durchsetzen:
„Da mein verstorbener Freund Walter Eucken und ich im Jahre 1932 die Richtung des Neoliberalismus begründet haben, und da ich seitdem daran arbeite, dieses Konzept auszubauen und es abzugrenzen gegenüber dem Paläoliberalismus, auch gegenüber jenen Paläoliberalen, die sich fälschlich Neoliberale nennen, so glaube ich ein gewisses Recht zu haben, in dieser Sache mitzusprechen.” Alexander Rüstow, Rede und antwort, S. 132.
Das ist Rüstow NICHT GELUNGEN! War in der Tat falsch! Der Neolbieralismus ist die ideologische und politische Interpretation der sog. NEOKLASSIK (Walras, Pareto, Jevons, Menger, … ) Ich selber finde es richtig das Wort Neoliberalismus als Synonym für Neoklassik zu nehmen. (www.systemfrge21.de) Alles andere ist INHALTLICH falsch.
Februar 12th, 2009 at 16:56
Meiner unbequellten Erinnerung zufolge, gibt es schon einen Bedeutungsunterschied zwischen der historischen deutschen Bezeichnung “neoliberal” und der in diesem Beitrag und in der aktuellen deutschen Diskussion vorherrschenden angelsächsischen Verwendung des Wortes “neoliberal(ism)”, die auch in Frankreich seit jeher verwendet wird, um das zu beschreiben was wir hier (also nicht die INSM) damit meinen.
Ich will dem Vorposter aber nicht widersprechen, er kann ja zumindest Quellen nennen ;-)
Februar 12th, 2009 at 20:08
Vielleicht noch etwas von Rüstow. Was meinte er nämlich als er sagte, sich
“abzugrenzen gegenüber dem Paläoliberalismus, auch gegenüber jenen Paläoliberalen, die sich fälschlich Neoliberale nennen”
Wir wissen ganz genau, wer für ihn der falsche Neoliberale (der Rottweiler des Neoliberalismus) war. Sein Brief vom 21.02.1942 an Röpke:
„Diesen ewig Gestrigen frisst kein Hund mehr aus der Hand, und das mit Recht. Hayek und sein Meister Mises gehörte in Spiritus gesetzt ins Museum als eines der letzten überlebenden Exemplare jener sonst ausgestorbenen Gattung von Liberalen, die die gegenwärtige Katastrophe heraufbeschworen haben.“
Februar 12th, 2009 at 22:07
@flying circus & romano:
https://www.youtube.com/watch?v=Eo-1W_8otS4
Wen interessiert die Volkswirtschaft, die Frage ist doch was das jeweilige Unternehmen am wenigsten kostet. In einer ruinierten Volkswirtschaft lässt sich billiger produzieren als in einer gesunden.
Februar 12th, 2009 at 23:36
@ Kalle
Wie vorbildlich das angelsächsische Wirtschaftsmodell ist, kann man dieser Tage ja besonders gut erleben!
Auch ist es nicht richtig, daß die Wachstumsraten in den USA signifikant höher waren als in Europa. Richtig ist aber, daß die Wachstumsraten aller hochindustrialisierter Staaten seit etwa Mitte der siebziger Jahre merklich und dauerhaft zurückgingen. Dieses Faktum gab den Wirtschaftseliten die willkommene Gelegenheit, die im Zuge des Zweiten Weltkrieges und der darauf folgenden Nachkriegssystemkonkurrenz notgedrungen eingegangenen sozialen Kompromisse im Gewande von “Reformen” zur Revitalisierung der angeblich segensreichen Marktkräfte wieder einzukassieren. Der Kapitalismus konnte so wieder sein wahres unsoziales Gesicht zeigen.
Hinzu kam noch, daß der reformorientierte Keynesianismus der siebziger Jahre in gewisse Schwierigkeiten kam, weil mit den nachlassenden Wachstumszahlen und der nicht bewältigten neu auftretenden Massenarbeitslosigkeit samt ansteigender Staatsschulden dies nur Wasser auf die Mühlen der marktradikalen Schreihälse war.
Wir brauchen aber die “Keynessche Alternative”.
https://www.buchhandel.de/detailansicht.aspx?isbn=978-3-89965-323-6
Zinn, Karl G / Die Keynessche Alternative
Februar 13th, 2009 at 00:00
[...] es so schön in die laufende Sendung passt, nochmal ein prominenter Hinweis auf einen Aufsatz im Feynsinn. So gelang es, die Inanspruchnahme von Lohnersatzleistungen mit der Vokabel [...]
Februar 13th, 2009 at 00:36
[...] lehrt, daß Schulden machen sinnvoll sein kann, um Schlimmeres zu verhindern? In den letztenn Züge einer gescheiterten Ideologie soll diese noch im Grundgesetz verewigt werden. Wenigstens als schuldenfreier soll der [...]
Februar 14th, 2009 at 06:12
[...] Eines aber ist heute und für alle Zeiten klar: Es gab und gibt keine Alternative. Quelle: Feynsinn [...]
Februar 18th, 2009 at 10:06
[...] noch zwei passende Sichtweisen zus der Blogwelt – zum einen von Feynsinn, der die „Psychologie des Neoliberalismus“ sehr treffend analysiert und klar macht, dass eine der Krisenursachen eben auch in dieser [...]
Februar 22nd, 2009 at 14:00
[...] Eines aber ist heute und für alle Zeiten klar: Es gab und gibt keine Alternative. Quelle: Feynsinn [...]
März 3rd, 2009 at 13:34
Erst mal- ein guter Artikel, für jederman verständlich und nachvollziehbar.
Diese Begriffe wie -rechts -links- liberal und so weiter sagen jedoch am Ende nur noch wenig aus für den Menschen im Alltag.
Eines ist doch Fakt: Was braucht der Mensch-Nahrung Kleidung-Wohnung- existenzsichernde -lebensnotwendige Infrastruktur. Daran sollten sich mal wieder alle orientieren. Egal aus welcher Richtung sie kommen. Freiheit ohne Existenz ist nichts wert. Die Wirtschaftsmacht eines landes ist wenig wert, wenn die zu Hungerlöhnen-und durch Sklavenhalterei erwirtschaftet wird. Wenn die Vermehrung des Wohlstandes, durch Produktion nicht allen zugute kommt,sondern am Spekulationsmarkt landet, verliert sie an Wert. Wenn sie nur wenigen Spekulanten zukommt , wird es für den Normalbürger egal, unter welcher Regierung er sein tägliches Existenzminimum erhält. Das sollten die Abzocker und notorischen Polititlügner bedenken. Wir sind längst wieder da, wo wir schon öfter waren, der Mensch ist zum Sklaven der Produktionsmaschinerie geworden. Also ist es auch egal, wer das Kommando dazu gibt- ob rechts oder links-liberal- alles ist egal, Sozialist oder Kapitalist.
Alle dienen demselben Ziel. Dahinter steht die Macht und die Gier, die Feudalherren und die Wirtschaftskrieger, die Herrscher mit dem Merkmal: das Geld regiert die Welt, also muß man es bekommen ,um jeden Preis. Wie der aussieht, erleben wir derzeit. Die Menschen glaubten, “Markt radikal” macht jeden reich, was für ein Irrtum. Viele sind jetzt bettelarm, viele, die denen auf den Laim gegangen sind, ihr Geld diesen Verwaltern gegeben haben, werden es noch werden. Statt Gewinne von 25 % haben sie Minus 90%. Na ja, das ist doch was, eine Lektion, die viele so schnell nicht vergessen werden. Und die Kommunen-egal ob rechts oder links regiert, haben alles verscherbelt,Infrastruktur -sogar z.Teil das wasser – und sie dann zurückgemietet oder geliest von den Käufern- den Betreibergesellschaften- und so einen Schwachsinn. Jetzt sind abhängig von den – im Bankrott befindlichen- US Konzern. Ein Irrsinn jagt doch den anderen. Die sind doch alle verrückt.Für jeden Cent , den sie damit heute glauben einzusparen, zahlen sie morgen und übermorgen das Dreifache drauf.
Das heißt, am Ende sind alle gleich dumm. Wer alles ausverkauft-Realwerte gegen Bargeld, macht sich zur Geisel der Käufer. Da ist es egal wer regiert, er ist erpressbar. .
Wenn wir die “Soziale Marklwirtschaft” nicht wieder zu unserer Leitlinie machen, bleibt die Masse bettelarm. Sie war es, die uns zu Wohlstand brachte, nicht der “Radikale Kapitalismus”. Den zu beseitigen, daran haben sich alle beteiligt. Nur ,jeder hat es anders umschrieben.
Richtig dürfte auch sein, das Ziel, eine “Weltregierung” ist bei allen auf dem Programm. Damit ist die soziale Marktwirtschft am Ende. Die neue “Weltregierung” wird eine diktatorische sein, weil es anders als mit Diktat gar nicht ereichbar und auch nicht zu erhalten ist. Das läuft über den Weltgeldberug, den Wirtschaftskrieg,die Globalisierung, die verflechtung -jeder mit jedem, auch daran beteiligen sich alle, egal aus welcher Richtung.
Was uns die verfilzung bringt, erleben wir ebenfalls gerade. Fällt einer, fallen alle.
ob das so gewollt ist? fallen alle , kann man neu aufstelllen. Neue Regeln neues Glück. Fragt sich nur für wen? Die Weltregierung?
Dann viel Spaß!