Ausgehend vom gestrigen Artikel stellt sich die Frage, wie es aussieht, das Versprechen der Demokratie im Jahr 2010. Vordergründig gar nicht schlecht. Artikel 1 GG hat nach wie vor ‘ewige’ Gültigkeit, alle Staatsgewalt geht vom Volke aus (Art. 20), das nach demselben Paragraphen gar ein Recht auf Widerstand hat. Man glaubt es kaum, auch Art. 14 ist noch in Kraft und besagt: “Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“.

Diese Rahmenbedingungen und weitere gute und richtige Festlegungen im Grundgesetz umgrenzen ein Gemeinwesen, dem ich mich jederzeit verschreiben kann. Die Demokratie, die hier skizziert ist, ist der Staat, in dem ich gern leben will. Einen besseren brauche ich nicht.
Wie kommt es nur zu dem Mißverständnis, daß das tatsächlich die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ist und ich in der wirklich echten Wirklichkeit kaum etwas davon wiederfinde?

Grundgesetz? Was ist das denn?

Die ‘Sozialbindung des Eigentums’ muß ich nicht lange kommentieren. Aus dem Wort “soll” wird traditionell “kann”, also “muß nicht”, ergo “bloß nicht” interpretiert. Spätestens seit der sogenannten “Bankenrettung” wissen wir, daß die Allgemeinheit dem Eigentum dient. Es ist, als existiere Art. 14 (2) GG überhaupt nicht.

Aus Artikel 1 leiten sich vor allem die Rechte auf körperliche Unversehrtheit, Leben und Freiheit der Person ab. Immerhin gibt es keine Todesstrafe, rechtliche Regelungen zum Umgang mit Gefangenen, die Folter u.ä. verbieten und grundsätzliche Freizügigkeit. Der Lack blättert allerdings gewaltig, wenn man den Kreis etwas weiter zieht. Aus dem Verbot von Angriffskriegen in Kombination mit der Beschränkung des Einsatzes der Bundeswehr auf den Verteidigungsfall etwa wird die Legitimation zu einem Krieg im Afghanistan abgeleitet – unter quasi rotierenden Begründungen.

Ursprung der Aktion war dabei die Zusage der “uneingeschränkten Solidarität” mit einem Land, das aus demselben Anlaß gefoltert und gemordet sowie Angriffskriege geführt hat. Hier purzeln die grundgesetzlichen Vorgaben wie die Dominosteine.

Was interessiert mich unser Programm?

Man kann das beinahe beliebig fortsetzen. Das Brechen der Versprechungen, die in Form verbindlicher Verfassungsgrundsätze noch viel mehr sind als solche, wird flankiert von einer Erosion programmatischer Grundsatztreue bei den Parteien, insbesondere derjenigen, von denen einmal Widerspruch zu erwarten war. Die CDU ist noch ganz in ihrem Element, wenn sie Oberschichtspolitik macht. Die guten Christen kriegen als protestantische ohnehin, was sie verdienen und richten als katholische ihren Blick ganz konsequent auf ein Leben nach der letzten Wahl. Die FDP ist Klientelpartei und macht alles richtig – bis der Ast halt durchgesägt ist.

Genug wurde hier bereits über Grüne und “Sozialdemokraten” gesagt. Die basisdemokratischen Pazifisten folgen stets den Kriegsaufrufen der Fraktionsvorsitzenden. Einmütig mit der SPD haben sie für den komplettesten Sozialabbau in der Geschichte der BRD gesorgt und sind nach wie vor der Ansicht, dieser Weg sei der richtige. Ein Irrenhaus.

Die eizige Partei, die keine marktradikal-konservative Politik macht, heißt “Linke”. Obwohl sie seit der “Wiedervereinigung” dem Dauerfeuer der bürgerlich-antikommunistischen Propaganda ausgesetzt ist (ohne auch nur im zartesten Ansatz kommunistisch zu sein) und sich in weiten Bereichen dilettantisch bis desaströs verhält, wächst der Zuspruch bei den Wählern immens.

Wieso, weshalb, warum?

Was ist hier los? Dazu möchte ich nur einen winzigen Ausschnitt besprechen, der sich eben mit den Versprechungen der ‘Politik’ befaßt. Denen, die gemacht werden und denen, die sich die Menschen machen. Ganz offenbar ist der Umgang mit den Glaubensfragen in einer Phase stiller, aber verheerender Desorientierung. Rapide sinkende Wahlbeteilungen, Wählerwanderung im Überschallgeschwindigkeit (siehe FDP) und ein beinahe totaler Vertrauensverlust in die Eliten sind die Symptome. Davon ausgenommen sind nur Bataillone von Rentern, deren Unflexibilität noch Stabilität suggeriert.
Das Verhältnis der Bevölkerung zu den Eliten ist nicht mehr nur schlecht. Es existiert beiderseits nicht mehr. Ein Bezug politischer Entscheidungen zu den Lebenswelten der Bürger und umgekehrt findet nicht statt.

Die Abgehobenheit der Entscheider und deren Motive sind in diesem Blog regelmäßig Thema. Da ist vorläufig keine Änderung zu erwarten, bevor der Laden nicht für jedermann sichtbar zusammenbricht. Was aber ist mit der Unzufriedenheit, der Angst und dem Druck, den die große Mehrheit der Bevölkerung empfindet? Warum ist Depression die einzige spürbare Reaktion? Warum verweigern sich die Massen diesem Unfug nicht und fordern nicht einmal die Erfüllung der zentralen Versprechen in Form der Einhaltung grundgesetzlich festgeschriebener Rechte und Pflichten ein?

Warum wird nicht einmal öffentlich diskutiert und hinterfragt, wie es dazu kommen konnte? Welche Möglichkeiten gibt es, diese Diskussion endlich zu führen und damit Politik überhaupt wieder möglich zu machen? Vor allem: Wo ist die Hoffnung auf eine Änderung in dem Sinne, daß die konstitutiven Versprechungen dieses ursprünglich als Demokratie angelegten Staatswesens sich erfüllen? Dies werde ich im abschließenden dritten Artikel anreißen.