Nicht erst das scheinbare Desinteresse bezüglich der Totalberwachung oder die absurden Umfragewerte für Merkel (angeblich 2/3 Zustimmung) und ihre Regierung (angeblich 2/3 Ablehnung) machen deutlich, dass der wichtigste Teil der Demokratisierung in Deutschland nie stattgefunden hat. Das Volk, die Bürger, interessieren sich eigentlich nicht für Politik. Sie ordnen sich lieber Führern unter. Nie hätten sie den Anspruch, dass die Politik, der Staat, die Regierung, die Abgeordneten sich vor ihnen rechtfertigen. Ganz im Gegenteil ist eine mindestens latente Untertanenmentalität nach wie vor weit verbreitet. Demnach hätte sich jederzeit der Bürger vor der Obrigkeit zu verantworten, diese aber nicht vor dem Bürger. Das ist die elementare Verkehrung der demokratischen Gesellschaft zum autoritären Staat.

Die Deutschen haben nie auch nur ansatzweise die Fähigkeit entwickelt, sich um ihre eigene Gesellschaft zu kümmern, sie sind nie Demokraten geworden, egal ob im staatssozialistischen Osten oder im kapitalistischen Westen. In letzterem haben sie sich mit einer vorläufigen monetären Beteiligung abspeisen lassen. Vom Wirtschaftswachstum floss ein wenig in die Haushaltskassen, das genügte soweit. Dafür durfte man zwischen zwei bis drei Parteien auswählen, die das Ganze organisierten. Im Osten gingen sie 1989 auf die Straße, um ihr verkalktes Regime gegen D-Mark und Konsumanschluss einzutauschen. Die große Mehrheit der Ossis hat sich mit demselben doofen Trick einlullen lassen wie zuvor die Wessis.

Teilhabe ist Konsum

In anderen Staaten sah und sieht es nicht viel besser aus. Fast überall, wo bis in die 80er Jahre vielleicht noch eine rege Streit- und Streikkultur herrschte (z.B. Großbritannien), hat sich der ‘Konsens’ durchgesetzt, was nichts anderes ist als das zumeist von korrumpierten Sozialdemokraten durchgesetzte Interesse des Kapitals. Dieses kann spätestens in der ‘Krise’ sowieso am besten mit Diktatoren, was es inzwischen auch freimütig sagt:

Jedoch wurde mit zunehmender Entfaltung der Krise offensichtlich, dass es in der Peripherie (i.e. den europäischen Krisenländern) tief verwurzelte Probleme gibt, die aus unserer Sicht abgeschafft gehören [...] Die politischen System der Peripherie wurden in einer Zeit beendigter Diktaturen etabliert und waren von dieser Erfahrung (der diktatorischen Regimes) definiert. [...] Politische Systeme in der Peripherie tragen typischerweise die folgenden Merkmale: schwache Führungskräfte; schwache Zentralregierungen im Verhältnis zu den Regionen; verfassungsmäßig geschützte Arbeitsrechte; auf Konsens gestützte Systeme, die politischen Klientilismus begünstigen; sowie das Recht auf Protest, falls am politischen Status quo unwillkommene Veränderungen vorgenommen werden.” (J.P. Morgan)
Es wird aber auch noch deutlicher, ganz anschaulich und am Beispiel:

Die Ägypter hätten Glück, wenn ihre neuen herrschenden Generäle sich als aus demselben Holz geschnitzte Führungsfiguren erweisen würden wie Chiles Augusto Pinochet, der seinerzeit inmitten von Chaos die Macht übernahm und Reformkräfte anheuerte, die dem freien Markt verpflichtet waren, und so zum Geburtshelfer eines Überganges zur Demokratie wurde“.
(Wall Street Journal)

Kapital und Diktatur

Das ist zwar immer noch dämlichster Zwiesprech der Sorte “Diktatur ist Demokratie”, aber es beinhaltet immerhin ein deutliches Bekenntnis zum Faschismus. Woher soll also der Widerstand gegen die notwendigen autoritären Maßnahmen des kapitalistischen Staates kommen? Die depperte Behauptung, “Marktwirtschaft” sei quasi an sich “demokratisch”, wird gerade ersichtlich nach Strich und Faden widerlegt, ist aber nach wie vor gängige Erzählung. Die Massen sind darauf trainiert, statt jeglicher Beteiligung an Politik lieber Geld zu fordern und lassen sich obendrein noch mit immer weniger abspeisen. Der Zugang zu politischer Macht ist derweil für jegliche Alternativen versperrt, weil alle Ressourcen in der Hand von Anhängern der sog. “Marktwirtschaft” liegen.

Es stellt sich daher die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, auf Emanzipation zu hoffen, zu setzen, hinzuarbeiten oder ob es nicht besser wäre, den Pöbel zu führen. Man muss in diesen Tagen schon gesotten linksradikal sein, um dieser Versuchung nicht zu erliegen.

Es ist aber auch Licht am Ende des Tunnels: Wo die großen Themen, sobald es ein wenig abstrakter oder gar global wird, auf Lethargie treffen, ist das Handfeste, Regionale durchaus zu Besserem tauglich, das zeigt mustergültig etwa der Rumble um “Stuttgart21″. Deshalb sind den Freunden des Kapitaldiktats auch ausdrücklich “schwache Zentralregierungen im Verhältnis zu den Regionen” ein Dorn im Auge. Wenn die Demokratie eine Chance haben soll, ist diese Baustelle vermutlich die wichtigste: Wie schaffen wir es, überregional vernetzt Konzepte und Theorien zu entwickeln, die dann regional umgesetzt werden? Das kann der Schlüssel sein.