reagthatch

Ich übersetze das Zitat von Margaret Thatcher, das R@iner in den Kommentaren hinterlassen hat; das Original ist aus “Women’s Own magazine”, vom 31.Oktober 1987:

Und wissen Sie, es gibt keine “Gesellschaft”. Es gibt Individuen, Männer und Frauen, und es gibt Familien. Keine Regierung kann etwas tun, es sein denn durch die Menschen, und die Menschen müssen zuerst für sich selbst sorgen. Es ist unsere Pflicht, uns zuerst um uns selbst zu kümmern und dann erst um unseren Nächsten. Die Leute haben eine Anspruchshaltung ohne die Verpflichtungen zu bedenken, aber es gibt keine Ansprüche, bevor jemand seine Verpflichtungen erfüllt.

Dieser Satz spricht Bände. Bevor ich näher darauf eingehe, möchte ich einen kurzen Ausflug unternehmen in die Etymologie des Begriffs Solidarität. Diese beruht ursprünglich auf dem lateinischen Wort “solidus”, was sowohl “fest, unerschütterlich” bedeutet als auch “ganz, vollständig”. “Solidarität” nahm dabei einen Umweg über das Französische, wo sich der Begriff im 19. Jahrhundert etablierte als “solidaire”, als Rechtsbegriff, der auf gegenseitige, gemeinsame Haftung für das Ganze verwies. Der Begriff “solidus”, heute noch in “solide” aufgehoben, verwies darauf, dass nur das ineinandergreifende Ganze wirklich fest ist. Ein Stein hält den anderen und ein Mensch stützt den anderen. Was vereinzelt ist, wird schwach und zerfällt.

Schuld und Erbe

Dem gegenüber der Thatcherismus: Es soll kein Anspruch bestehen auf die Unterstützung durch das Ganze, es sei denn durch Anerkennung der Schuld und Pflicht – beides bedeutet “obligation”. Wer Solidarität erfährt, hat sich zu verschulden. Mit dieser Geisteshaltung ist die Ökonomisierung der menschlichen Beziehungen auf den Punkt gebracht. Dabei bedient sich Thatcher einer Rhetorik, die zustimmungsfähig erscheint, weil sie die Doppelbedeutungen so kaschiert und verschleiert, dass mit dem scheinbar plausiblen Teil auch ein ungemein brutaler transportiert wird.

Natürlich soll jemand, der Ansprüche stellt, auch Pflichten übernehmen, wenn er damit einen Beitrag zum gemeinsamen Ganzen leisten kann. Das ist aber exakt da selbstverständlich, wo eben ein menschliches Geben und Nehmen davon zehrt, dass man sich gegenseitig hilft – ohne dafür Schuldscheine auszustellen. Dieses Ganze, “society”, leugnen die religiösen Kapitalisten und ersetzen es durch eine Ökonomie von Schuld und Leistungsanspruch. Jedes Geben ist ein Anspruch auf Vermögen, jedes Nehmen eine Zahlungsverpflichtung. Woher das Guthaben kommt, danach wird nicht gefragt. Ausgeschlossen von dieser Ökonomie ist nur die “Familie”, die Erbengemeinschaft oder Dynastie. Ansonsten führt jeder sein eigenes Konto.

Gerade dieser Kniff zerstört endgültig jede solidarische Gemeinschaft. Es gibt nicht nur keinen Anspruch auf Solidarität, es gibt auch keinen Anspruch an die Gewinner, sich zu legitimieren. Es gibt nur noch eine Form des Anspruchs: Das Einfordern von Schulden. Die “Pflicht” ist die, dafür Sorge zu tragen, dass andere sich verschulden, nicht man selbst. Was vordergründig so aussieht als sei es eine berechtigte Kritik an Menschen, die mehr nehmen wollen als geben, ist also das exakte Gegenteil: Es ist der Putsch einer Ethik, die rücksichtslosen Erwerb fordert und im Recht des Reicheren mündet.