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Es gibt Unpersonen, die aus dem Diskurs verbannt werden, es gibt Schweigen und Vertuschung und es gibt den Umgang des politisch-medialen Komplexes mit Karl Marx. Dem angeschlossen ist auch die Wissenschaft, die aber immerhin noch wissen darf, wer der Mann war. Ich habe auch nichts gegen Stéphane Hessel, nicht einmal dagegen, dass er von einer Gazette als Väterchen verbrämt wird, aber “Vater der Kapitalismuskritik” ist dann doch ein Schuss Richtung Eckfahne. Rechte Eckfahne.

Ich bin selber immer bemüht, so wenig wie möglich mit Marx zu argumentieren. Das liegt zunächst daran, dass ich gern im Kontext bleibe und nicht immer das Besserwissen von außen her holen will. Dann liegt es bekanntermaßen daran, dass mir zu viele Marxisten zu sehr auf die Murmeln gegangen sind und schließlich daran, dass es ja reicht ihn zu zitieren, wenn es nicht mehr anders geht. Diese Gelegenheit wiederum findet sich allzu häufig in den Scheindebatten um die Rettung des Kapitalismus. Warum übrigens nennt man Herrn Hessel nicht dessen “Retter”, wo er ihn nur an der Oberfläche ‘kritisiert’, um ihn gegen alle Wirklichkeit zu verteidigen? Was ist das für eine “Kritik”, die sich keinen Schritt über die gegebenen Verhältnisse hinaus wagt?

Die gute alte Zeit

Hessel spricht von einer guten alten Zeit nach dem II. Weltkrieg, als “die Wirtschaft stabil war und die Grundbedürfnisse der Europäer befriedigte, eben weil die Märkte reguliert wurden“. Aha, so einfach ist das. Eine Ursache, eine Folge. Wo ist dann die Erklärung für das, was folgte? Plötzlicher Gierausbruch? Gottgewollter Wertewandel? Verführung durch den Antichristen? Oder warum wurde “der Markt” nicht mehr “durch den Dialog zwischen Gewerkschaften, Arbeitgebern und Staat reguliert“, die “vernünftige Begrenzung der Bereicherung” aufgehoben? Womöglich durch die plötzlich einbrechende “Globalisierung”?

Letzteres ist die neoliberale ‘Erklärung’, die Marx bekanntlich schon 1848 zurückgewiesen hat. Warum wurden die Gewerkschaften so geschwächt, alles korrumpiert, was sich der Entwicklung hätte in den Weg stellen sollen, wieso erodierte die staatliche Regulierung der ‘Märkte’ in solchem Ausmaß? Wer Marx gelesen und verstanden hat, kennt das Problem des Kapitals, langfristig Profite zu erzeugen. Es stößt in der realen Wirtschaft auf Grenzen, ab denen die Profitraten marginal werden. So marginal, dass sich Investitionen nicht lohnen und Zinsen nicht mehr erwirtschaften lassen. Sobald also mehr oder weniger zufällige technische Neuerungen, die Produktion und Konsum erheblich steigern, ausbleiben, kollabiert das System zwangsläufig.

The Show must go on

Der Ausweg in die sogenannten “Kapitalmärkte” und die mittelfristige Steigerung der Renditen durch globalen Lohnabbau war der einzige und letzte Weg. Das ist eine Erklärung, und eine bessere habe ich bis heute nicht gehört oder gelesen. Geschweige denn hätte jemand eine Idee, was denn mit dem ganzen Kapital passieren soll, wenn man die “Märkte reguliert”. Ebenso wenig hat jemand eine Erklärung, wie eine Marktwirtschaft aussehen soll, die von Staats wegen so kontrolliert wird, dass unabhängig von den möglichen Profiten vorgegebene Grenzen eingehalten werden. Das wäre nämlich tatsächlich der Staatssozialismus, vor dem die FDP solche Angst hat. Dann lasst uns bitte darüber reden, ob wir den wollen. Er scheint ja immerhin besser zu sein als der Kapitalismus je werden könnte.

Aber nein, die Show muss weitergehen. Es soll und muss und darf nur eine “Marktwirtschaft” sein, eine “soziale”, in der die Sonne im Westen aufgeht. So sieht sie aus, die ‘Kapitalismuskritik’, die diskutiert werden darf. Ihre Väter, Kinder und Enkel sind allesamt Kapitalisten.