Eigentum ist Landraub
Posted by flatter under Best of , PolitikKommentare deaktiviert
16. Jun 2009 0:14
“Ist’n schönes Land, aber sie haben’s gestohlen, schon vor langer Zeit. Wenn ihr die Wüste hinter euch habt, kommt ihr in das Land, was um Bakersfield ‘rum liegt. Und ihr habt noch nie so’n schönes Land gesehn. Lauter Weingärten und überall Obst – wirklich das schönste Land, was ihr euch denken könnt. Und ihr fahrt an guten, fetten Feldern vorbei, und die Felder liegen brach. Aber ihr könnt nichts haben von den Feldern. Die gehören der Land-und Vieh-Gesellschaft. Und wenn sie die Felder nicht bearbeiten wollen, dann lassen sie’s eben bleiben. Aber wenn ihr auf die Felder geht und euch da ‘n bißchen was anbaut, stecken sie euch ins Gefängnis.”
[John Steinbeck, "Früchte des Zorns" (1939) ]
Im gestrigen Artikel zu Sloterdijks merkwürdigen Thesen habe ich eine Stellungnahme zur Frage des “Landraubs” ausgespart, weil sie den Rahmen gesprengt hätte. Sloterdijk verengt die Perspektive auf einen “ursprünglichen” Landraub. Das ist mir schon im Zusammenhang mit seinem Text nicht nachvollziehbar, vor allem verhindert dies den Blick auf einen Kern der Kapitalismuskritik, der deshalb als “links” gelten dürfte, weil er sagt, was ist.
Zu jeder Zeit wurde Land genommen, und noch heute ist Grundbesitz vielleicht der Hauptindikator für Wohlstand. Die Tragweite des Prinzips “Landnahme” geht aber viel weiter. Wie der oben zitierte Abschnitt zeigt, geht es um Verfügungsgewalt, im Zweifel zählt diese in Form purer Willkür mehr als der Hunger, das Überleben der Besitzlosen. Soziale Unruhen drohen überall dort, wo das Verhältnis der Verfügungsgewalt Weniger zu den unbefriedigten Bedürfnissen Vieler nicht mehr austariert werden kann. Hungerrevolten sind durch das stärkste Militär nicht zu verhindern, Ungerechtigkeit und Unfreiheit können zu ähnlichen Aufständen führen. Wer nichts zu verlieren hat, vergreift sich an denen, bei denen die Gewinne landen.
Unfriede herrscht nicht erst bei Ausbruch der Krawalle, und Unfreiheit ist nicht erst gegeben, wenn die Handschellen klicken. Wer freilich glaubt, “Freiheit” sei das Recht auf Privatbesitz, kann so etwas nicht verstehen.
Ungerechtigkeit ist vor allem dann erträglich, wenn für die Betrogenen noch so viel übrigbleibt, daß sie sich damit einrichten können. Ein solches System funktioniert dann am besten, wenn die wirklich Elenden mit Kriegen beschäftigt werden und der Rest der Welt sich in Profiteure und geduldig Abhängige einteilen läßt. Ähnlichkeiten mit der Realität sind in der Theorie nicht immer zu vermeiden.
Es sind nicht alle Aneignungen Folge eines ursprünglichen Landraubs, warum auch? Aber ein solcher findet immer wieder statt, in immer sublimeren Formen.
Das Feudalsystem, die Industrialisierung, Rationalisierung, auch stalinistische Agrarreformen sind Orgien der Machtkonzentration, die jeder demokratischen, humanistischen oder freiheitlichen Gesinnung Hohn sprechen. Es ist purer Herrenmenschenzynismus, der ein Maßloses Mißverhältnis von Mächtigen und Nicht-Mächtigen intellektuell rechtfertigt.
Die postmoderne Variante dieses Zynismus behauptet entweder, das Mißverhältnis sei das Optimum gesellschaftlicher Wirklichkeit, oder er bringt gleich alles Gemeinschaftliche als solches in Mißkredit. Wer “sozialistisch” ist, weil er mehr Verteilungsgerechtigkeit fordert, gilt als romantischer Spinner oder Freund von Schmarotzern, die nichts Besseres verdient hätten. Dabei zeigt alle Geschichte, daß Tüchtigkeit noch nie ausgereicht hat, um auch nur zur Mittelschicht zu gehören. Geschweige denn könnte noch so viel Fleiß immensen Reichtum im Angesicht des Elends sanktionieren.
Zu allen Zeiten sind vielmehr selbst die verzweifelt Engagierten trotz des Einsatzes all ihrer Fertigkeiten verhungert. Und wo sie überleben dürfen, womöglich sogar einen Fernseher haben, müssen sie die Schuld ihres Versagens tragen. In einer gut organisierten Gesellschaft flüchten sie sich Drogensucht, Depression und den Stolz des raffinierten Schnorrers.
Auf der anderen Seite steht heute eine Klasse, die sich dank ihrer Verfügungsgewalt schon die Errungenschaften der Zukunft sichert. Sie hält Patente, womöglich unter Verschluß, weil es die Gewinne schmälert, kauft aufstrebende Unternehmen auf, zerschlägt die Konkurrenz, nimmt Einfluß auf die Gesetzgebung, besticht, bespitzelt und manipuliert die Medien. All dies ist keine Folge der Erbsünde, sondern ein täglicher Landraub, der den Vielen die Chancen nimmt und den Wenigen und ihren Erben ihre Macht sichert.
Es geht schon lange nicht mehr um Sozialismus. Es geht auch nicht darum, ob jemand mehr haben darf als ein anderer. Es geht darum, ein menschliches Zusammenleben so zu organisieren, daß jemand, der geboren wird, die Chance auf ein Leben in Würde hat. Es geht darum, Prioritäen zu setzen. Der Erhalt der Lebensgrundlagen der Arten, von denen die Menschheit nur eine ist, darf keiner noch so wohlfeilen Ideologie oder vorgeblichen Notwendigkeit geopfert werden. Es gibt keine Rechtfertigung für die Zerstörung solcher Lebensgrundlagen, zu denen auch eine soziale Dimension gehört, soweit es die Menschen betrifft.
Bedarf es noch eines Beweises, daß die globalisierte Marktwirtschaft den Erhalt der Lebensgrundlagen nicht sichert, sondern in höchstem Maße gefährdet? Ist es klug oder auch nur erträglich, wenn die Kritik am falschen Zustand mit Formeln aus dem Kalten Krieg abgetan wird, als sei solche Kritik ein Akt stalinistischer Revanche?
Ist es liberal, das Streben nach Freiheit, das die Besitzlosen und ihre Fürsprecher an der Legitimität der Machtverhältnisse zweifeln läßt, als Neid der Faulpelze zu brandmarken?
Die Menschheit ist, statistisch betrachtet, unerhört reich. Dieser Reichtum muß organisiert werden. Ob einige reicher sind als andere, das interessiert nicht einmal die letzten Leninisten. Es ist aber nicht von der Hand zu weisen, daß die kapitalistische Organisation der Welt und ihrer extremistischen Kollateralerscheinungen zum globalen Horror avanciert. Die Menschheit ist besessen vom Eigentum. Die einen, weil sie glauben, ihnen gehörte ganz allein das Brot von Hunderttausenden, die anderen, weil sie glauben, wenn sie ihr Leben opferten, gehörte ihnen ein Land im Jenseits.
Was ist so schwer daran, eine menschliche Gesellschaft organisieren zu wollen, die weniger Eigen und mehr Miteinander kennt?
Juni 16th, 2009 at 00:37
Lieber Flatter
jetzt sind mir doch gerade ein paar Tränen die Wangen hinab gekullert, weil ich diesen deinen feynsinnigen Text gelesen und dabei so schöne Musik gehört habe….seufz…
One good old new Day we will learn to live together … in peace and dignity…
Juni 16th, 2009 at 00:43
War mir schon klar, daß das zu pathetisch war ;-)
Juni 16th, 2009 at 01:07
Kleine Kritik:
“Es geht darum, ein menschliches Zusammenleben so zu organisieren, daß jemand, der geboren wird, die Chance auf ein Leben in Würde hat.”
Es geht darum, ein menschliches Zusammenleben so zu organisieren, daß jemand, der geboren wird, eine Leben in Würde führen wird.
Von sozialer Gerechtigkeit die auschließlich (Bildungs-)Chancengerechtigkeit ist, habe ich die Nase voll.
Gruß
Juni 16th, 2009 at 01:27
Nein nein, War genau richtig…
Juni 16th, 2009 at 01:35
hab nicht geweint! stimmt mit mir was nicht?
(werd den text aber auswendig lernen!)
Juni 16th, 2009 at 01:36
@Harry Haller: Ich meinte eine echte Chance. Natürlich hast du recht, aber mir ist auch vollkommen klar, daß es immer solche geben wird, die anderen die Würde nehmen.
Juni 16th, 2009 at 01:38
@bojenberg: Ist es vielleicht die Musik? ;-)
Juni 16th, 2009 at 01:40
Kommentarverbot hab ich ja schon. Dann isses ja ejaaal….
Hömma, Heulsuse, mein neuer 52-Zoll (wieviel Zentimeter das Werbe-korrekt sind weiß ich gerade nicht) -Fernseher, mein Z3, meine Sammlung an BMW-Moppeds soll ich mit irgendwelchen Hartz4-Pennern teilen? Glaubst Du, die sind mit in den Schoß gefallen? Die Moppeds… Seid Ihr doch alle selber Schuld, Ihr Versager, wenn Ihr nix habt. Ich geh jetzt nochmal in meinen Whirlpool, schau auf meine Fahrzeug-Parade und schaukel mir die Eier in meinem Wasserbett. Augen auf bei der Berufswahl! Wenn die scheiß Erzieherinnen morgen noch streiken, kauf ich den Puff halt. Dann is aber Schicht mit Streik. Ihr Penner von Demokraten glaubt wohl immer noch, Ihr hättet was zu sagen?
Und, Flatter, Dein Gelaber vom Eigentum hasse wohl nur drauf, weil Du selber nix hast!? Oder gibse Deine olle Gurke irgendwelchen Sozialschmarotzern, damit se zum Arbeitsamt fahren können und läufst zu Fuß zur Arbeit?
In Deinem Garten is noch Platz für Kartoffeln.
CU.
Juni 16th, 2009 at 07:08
Bravo. So einfach ist das. Und ein Sloterdijk macht sich zum intellektuellen Büttel des Prinzips der Ungleichheit -und damit der Unmenschlichkeit- und merkt es wahrscheinlich nicht einmal. Nein, pathetisch ist das nicht was du schreibst. Es ist richtig.
Udo
Juni 16th, 2009 at 08:48
@Mathes:
Bravo. Das nenne ich mal Satire.
Juni 16th, 2009 at 09:47
..muss wohl wirklich die Musik gewesen sein, habe den Text eben nochmal gelesen und beide Augen sind trocken geblieben…ansonsten – ich wohn hier direkt am Wasser….
Der Text ist nun aber nicht weniger gut, heute!
Juni 16th, 2009 at 09:51
Du sprichst mir aus der Seele.
Danke für diesen Eintrag.
Liebe Grüße
Margitta
Juni 16th, 2009 at 12:21
@flatter: du meinst, ich sollte deine ausfuehrungen mal ohne ‘Test Department’ im hintergrund lesen?
Juni 16th, 2009 at 13:00
Yapp, auch AC/DC bringt Dir nicht die Vibes, die hier schwingen.
Juni 16th, 2009 at 14:34
irgendwie ist mir bei dem thema nach eher ‘smothered hope’.
hatte gestern eine diskussion mit einer bekennenden fdp waehlerin. die todesstrafe waere in einigen faellen durchaus angemessen! auf die frage, wie sich das mit einer liberalen einstellung vereinbaren laesst, wusste sie keine antwort. es waere halt ihre meinung. ich fuerchte, das der neofeudalismus mit den herrschenden machtverhaeltnissen durchaus in der lage ist, so eine ‘segensvolle’ massnahme wieder einzufuehren, nachdem eine totalueberwachung mit adaequater zensur mal eben im vorbeigehen installiert wurde. ist natuerlich nur denkbar fuer die GANZ schweren verbrechen.
Juni 16th, 2009 at 16:11
@bojenberg:
Deine Auslassung von Zitatzeichen führte bei mir zu einer interessanten Interpretation Deiner Aussage:
“hatte gestern eine diskussion mit einer bekennenden fdp waehlerin. die todesstrafe waere in einigen faellen durchaus angemessen!”
Kam bei mir an als
“Für bekennende FDP-Wähler ist die Todesstrafe durchaus angemessen!”.
*g* So weit würde ich nicht gehen wollen. Die tun mir eh schon herzlich leid …
Juni 16th, 2009 at 18:22
lol
sorry, der boss sass mir im nacken! meine augen traenten! hab seid 2 tagen kein alkohol gehabt! ausserdem kann ich hier leider nix korrigieren. kommt net wieder vor!
es sollte heissen:
hatte gestern eine diskussion mit einer bekennenden fdp waehlerin (die meinte): “die todesstrafe waere in einigen faellen durchaus angemessen!”
oh mann…. wie peinlich … ;-)
Juni 16th, 2009 at 18:28
@flatter
Mensch,
soviel Herzblut hätte ich mir am Sonntag für meine Ex, mit der ich 18 Jahre sehr aktiv zusammen war, auch gewünscht. Dann hätte ich ihr vielleicht wieder einen Antrag gemacht (Ex-Partei, natürlich).
Aber was müsste ich sehen: Eine billige Schröder-Imitation (Sprache, Gestik und Semantik) Und bei “Apocalypse Now” ließ der Simpel auch noch klauen! “Ich habe das Grauen gesehen”; “ich habe in die Augen der Opelaner gesehen”. Bläh! IGIT
Die Flausen werden den Claqueuren des Parteitages schon am nächsten Wochenende in der Fußgängerzone durch die ‘Beraubten’ wieder ausgetrieben. Mal shen in welche Augen, die da noch gucken können, wenn der Wahltag rum ist.
Glück Auf!
Juni 16th, 2009 at 20:39
@flatter
Und hier noch ein Nachtrag, der an das von Dir Geschriebene anschließt: Gedanken “über die Revolution in Frankreich und Anderswo” bei LE MONDE diplomatique.
https://www.monde-diplomatique.de/pm/.extratexte/halimi
Die Franzosen sind einfach anders drauf
Juni 16th, 2009 at 21:02
Es wird auch hier im Blog feynsinn zunehmend komplizierter. Gefällt mir, muss ich sagen. Auch die Duftmarke des “Mopped”sammlers weist mit rustikalem Geknatter auf Beschleunigung hin. Satire womöglich. Selbstreferentieller Gestank kontra Geruchsdesign. Olaf oh Scholz für Arbeitslosenstolz. Wir sind angekommen. Warum nur haben wir so lange gebraucht?
Juni 16th, 2009 at 23:38
Ungewohnt leidenschaftlich.
Aber deshalb noch besser als sonst.
@flatter
(Hab mein cookieproblem gelöst, das dürfte der letze sein den du freischalten musst.;-)
Juni 17th, 2009 at 11:11
Preisfrage – wer spricht hier mit wem…?
“A: Wenn der Sozialismus beziehungsweise das Gemeinwohldenken gescheitert ist, wie man frivolerweise behauptet, bleibt der Asozialismus. Den diskutieren wir zumeist unter dem etwas höflicheren Begriff Individualismus, und zu dem bekennen wir uns meistens gerne. Aber was sind konsequente Individualisten? Es sind Menschen, die ein Experiment darüber veranstalten, wie weit man beim Überflüssigmachen sozialer Beziehungen gehen kann – und sie gelangen dabei zu erstaunlichen Fortschritten. Deswegen beginnt im Augenblick auf der Erde ein soziologisches Experiment, das in eine neue Art Menschheit münden könnte. Die Reichen sind zurzeit noch eine Klasse und keine Spezies, aber sie könnten es werden, wenn man nicht aufpasst. [...]
B: Sie beschreiben die neue Feudalklasse, eine Klasse, die über neue Machtmittel verfügt: Früher geboten die Feudalherren über Ländereien, samt Dörfern und Menschen. Heute gebieten sie über Unternehmen samt den Menschen.”
Naaa…?
Juni 17th, 2009 at 12:34
Und dieses Experiment findet statt inmitten einer “unerhörte(n) Aufblähung der Staatlichkeit”. Interessantes Weltbild.
Juni 17th, 2009 at 18:22
DAS muss ja nun wirklich kein Widerspruch sein, oder…?
Juni 17th, 2009 at 23:46
Das ist prinzipiell richtig. Aber wenn das Experiment vom Scheitern des Gemeinwohldenkens in Gang gesetzt wird, als was gilt dann die Staatsaufblähung und “Gegennahme”? Sloterdijks Begriffe flutschen einem durch die Finger wie ein Stück nasser Seife.
Juni 18th, 2009 at 21:28
[...] “Eigentum ist Landraub“, feynsinn vom Dienstag Die Menschheit ist, statistisch betrachtet, unerhört reich. Dieser [...]