Eine spannende Frage, die im Zusammenhang mit den “Errungenschaften” des Kapitalismus erstaunlicherweise selten diskutiert wird, ist die Rolle des technischen Fortschritts, sein Einfluß auf Warenverkehr, Verteilung und vor allem “Wachstum”. Tatsächlich wird der Fortschritt ebenso wie das Wachstum schlicht der “Marktwirtschaft” subsumiert, ganz so, als sei jede Entwicklung bloß Funktion von Ökonomie.
Die Selbstbezogenheit solchen Ökonomismus ist nachgerade psychotisch. Ein belustigendes Beispiel habe ich im vorigen September hier erwähnt:

Dieses Urteil gilt selbst für den »Manchester-Kapitalismus«: Von 1750 bis 1900 haben sich die Reallöhne in England mehr als verdreifacht.” (Zeit.de)
[...] Von 1750 bis 1900 haben sich die Reallöhne in England mehr als verdreifacht, ja leck mich fett, in 150 Jahren verdreifacht, einmal Industrialisierung dazwischen, und schon geht’s aufwärts.”

Umgekehrt wird ein Schuh draus: Anstatt die Bibeltexte der großen Ökonomen buchstabengetreu auszulegen, um Wachstum zu erklären, würde mich einmal brennend interessieren, wie es tatsächlich um den Zusammenhang zwischen Wirtschaften, technischen Innovationen und Wachstum steht.
Das hohle Starren auf ein “Wirtschaftswachstum”, das zum autistischen Zahlenspiel degeneriert ist, vernachlässigt ja längst schon den Unterschied zwischen ökonomischen Daten und realwirtschaftlichem Geschehen. Fluch und Segen des Kapitalismus werden daher systembedingt völlig falsch eingeschätzt.

Als das Internet massentauglich wurde, worin die letzte marktrelevante technische Umwälzung bestand, zog dies viel Geld in seinen Bann, was freilich nicht bedeutet, daß die Marktwirtschaft selbst hier irgend etwas geleistet hätte. Geld folgt halt aussichtreichen technischen Neuerungen, sofern es nicht einfach anderem Geld folgt. Dies kann in Zeiten brauchbarer Innovationen gut und richtig sein.
Bleiben solche aber aus, ist das Gegenteil der Fall. Die “Immobilienblase” und andere sinnlose Geldgeschäfte kann man daher als ein Phänomen betrachten, daß von gelangweilten Investoren losgetreten wird, die eben keine aussichtsreichen technischen Neuerungen finden, die ihnen Aussicht auf Gewinn bieten. Schlimmstenfalls können sogar vorhandene Entwicklungen verzögert werden, weil das Geld lieber ins Casino getragen wird, weil es dort vermeintlich weniger riskant vermehrt werden kann.

Kapitalismus kann jede Entwicklung beschleunigen, nicht zuletzt, wenn sie eine fatale ist. Was er offenbar nicht mehr kann, so er es je konnte, ist die Förderung einer sinvollen und zukunftsfähigen technischen Entwicklung.
Vor allem kann er dies nicht zielgenau. Selbst wenn jedes Kind weiß, was der Welt fehlt und sogar wenn es Entwürfe gibt, wie man dem beikommen kann, bleibt das Geld weg. Es wird nichts mehr wirklich investiert, und das große Sittengemälde des verantwortungsbewußten Unternehmers, der zum Nutzen der Gesellschaft Risiken eingeht, ist schiere Propaganda.

Dies hat mannigfaltige Konsequenzen, auf die ich im einzelen hier nicht eingehen möchte.
Lediglich die daraus resultierende Kernfrage will ich kurz aufwerfen:
Wenn es stimmt, daß ab einem gewissen Grad industrieller Entwicklung der technologische Fortschritt vom errechneten Wirtschaftswachstum abgekoppelt ist und der Fortschritt auch möglich sein muß, ohne unmittelbar profitabel zu sein, wäre dann ein System denkbar, das die technologische Entwicklung an sozialen und kulturellen Fortschritt bindet?

Dies wäre vor allem eine Frage des Bildungssystems. Dieses hat sich zuletzt zum äußersten Schaden seiner selbst den Anforderungen der ökonomischen Ideologie unterworfen. Hier ist eine radikale Kehrtwende vonnöten. Es wäre dann ggf. denkbar, technischen und anderen wissenschaftlichen Fortschritt von Eigentumsstrukturen abzulösen. Vor allem dort, wo proprietäre Verwertungszusammenhänge selbst keinen solchen Fortschritt hervorbringen, können Wissenschaft und öffentliche Forschung die soziale und kulturelle Entwicklung enorm fördern – und als Nebenprodukt sogar die reale Wirtschaft stärken, ohne in deren Abhängigkeit zu geraten.