Arno Widmann hat für die FR ein Interview mit Wilhelm von Sternburg geführt, von dessen Ausführungen ich sehr beeindruckt bin. Ich habe den Namen zwar schon gehört oder gelesen, hätte ihn aber nicht einsortieren können.
Von Sternburg spricht mir teils aus der Seele, eine Kostprobe:
“Inzwischen bilden Wirtschaft, Medien, Politik und Gewerkschaft eine Einheit. Es gibt Konflikte zwischen ihnen, aber keinen grundsätzlichen Dissens mehr darüber, wie unsere Gesellschaft auszusehen hat. Das ist jetzt wieder in besonderem Maße in der Wirtschaftskrise deutlich geworden. Es ist niemand da, der eine Alternative hat. Jedenfalls keine gewichtige gesellschaftliche Kraft, die sagen könnte: Seht ihr, es ist so gekommen, wie wir gesagt hatten, dass es kommen musste.”
Insbesondere ein Leitmotiv von Sternburgs ist es immer wieder wert erwähnt zu werden: Die Notwendigkeit eines Geschichtsbewußstseins, um die Gegenwart zu verstehen und überhaupt sinnvoll politisch zu denken. Darin liegt nicht zuletzt das Drama des Neoliberalismus, daß er eben geschichtlos “denkt”, was hier bereits erwähnt wurde.
Eine recht denkwürdige Rolle, nämlich gar keine, spielt solches Geschichtsbewußtsein auch quasi folgerichtig in den gestanzten aktuellen Debatten um “Bildung”. Hier wird regelmäßig alles Mögliche gefordert, was deutsche Schüler und Studenten so können sollten, eine Einordnung ihrer Welt in einen gewachsenen Zusammenhang ist nicht dabei. Was aber wäre Bildung ohne die Fähigkeit dazu? “Erziehung zur Mündigkeit” steht nicht auf dem Programm, und “Geschichte”, das ist Hitler seine Omma ihre Küche, vorgekaut von Guido Knopp.
Der Hang zum Totalen, sei er nun ein deutscher oder nicht, resultiert auch aus dem fehlenden Bewußtsein dafür, daß die Ordnung und die Dinge geworden sind, daß sie so oder eingeordnet werden und morgen schon “in den Irrtum taumeln” kann, was heute als wahr gilt oder “einfach nur da” ist.
Von Sternburg:
“Sechzig Jahre mehr oder weniger Frieden – da entstehen neue Eliten, neue Machtklüngel. Das ist nun mal so. Heißt das etwa, dass wir es auch noch benicken sollen? Nein, wir sollen anschreiben dagegen. Sie sollen anschreiben dagegen.”
Dagegen und gegen alle anderen Selbstverständlichkeiten, die sich so leicht von den Agenturen abschreiben lassen. Kritischer Geist, Aufklärung, Geschichtsbewußtsein, das wäre etwas, das man gern von der ehemals “fünften Gewalt” erwarten würde. Inzwischen sagt uns die große Suchmaschine, daß sie abgelöst wurde: Vom Lobbyismus.
April 20th, 2009 at 07:01
Guten Morgen lieber flatter,
danke für den Link zum Interview.
Lehrer, insbesondere Geschichtslehrer von Wilhelm von Sternburgs Format und in Deutschland sähe es anders aus.
Wir brauchten uns dann auch nicht über den Verlust von Werten beklagen, denn wir hätten sie nicht verloren.
Ist zumindest meine Ansicht.
Liebe Grüße
Margitta Lamers
April 20th, 2009 at 09:51
Hi Flatter!
Die Notwendigkeit von Geschichtsbewusstsein hat schon Goethe wohlformuliert:
«Wer nicht von dreitausend Jahren
sich weiß Rechenschaft zu geben,
bleibt im Dunkeln unerfahren,
mag von Tag zu Tage leben.»
Aus neoliberalen Sicht gehört das nicht zur ‘Bildung’, weil die Neolibs nur Nutz-”Bildung” im Sinne des Nutzens der ‘industriellen Verwertbarkeit’ kennen.
Geschichtliche und wirtschaftliche Zusammenhänge (im Sinne von Multi-Dimensionalität) wird in den Schulen nicht und soll auch nicht mehr vermittelt werden. Es würde ja nur die Gefahr herauf beschwören, dass man die tumbe Ein-Dimensionalität der Neolibs zu hinterfragen begänne…
Schöne Woche noch!
Omnibus
April 20th, 2009 at 10:00
Zunächst noch ein scheinbar bezugsloser Rückgriff auf deinen Ausflug zum Fußball. 1992 verlor Deutschland das Endspiel der Europameisterschaft und bot – es war für mich ein Schock – DDR-Spielkultur wie nach Reinheitsgebot zusammengebraut. Seither verfolge ich die Parallelen, – und müsste längst in Schockstarre verfallen sein.
Potenziertes Bonzengewimmel in der Politik. Sumpf,(der natürlich keiner ist.) Korruption, (die natürlich auf unhaltbaren Vorwürfen beruht.) Alles eingebettet in eine vollkommen verkrustete Bürokratie.
Und nun kommt, von dir zitiert, noch dieser von Sternburg daher und faselt von einer Einheit zwischen Wirtschaft, Medien, Politik und Gewerkschaft. Völlig daneben und dazu noch aus der Luft gegriffen.
April 20th, 2009 at 12:37
[...] https://archiv.feynsinn.org/?p=1092 [...]
April 20th, 2009 at 13:26
Was war denn ehemals die fünfte Gewalt? Ich bin noch jung und kenne die Presse nur als vierte Gewalt.
April 20th, 2009 at 14:10
@Omnibus56
Was die Geschichtslosigkeit angeht, – nun in letzter Zeit habe ich ausgesprochen viele Menschen mit Geschichtsbewusstsein, und einem ausgezeichneten Fundus an Wissen diesbezüglich kennengelernt.
Diese fielen aber merkwürdigerweise durch einen ausgeprägten Hang zum Sozialdarwinismus auf.
Ich muss leider die Befürchtung aussprechen, dass, wenn die Neoliberalen sich zu intensiv mit Geschichte beschäftigen würden, die Wirkung eine ganz andere wäre, – oder schon ist ?
Aber dies ist wahrscheinlich eine sehr subjektive Erfahrung, und du hast sicher Recht.
Denn wenn wir so etwas wie Geschichtsbewusstsein hätten, wären wir alle,( ich eingeschlossen, und politisch vollkommen unabhängig ), nicht imstande gewesen das wunderschöne Wort Liberalität auf eine so hässliche Art zu verzerren.
April 20th, 2009 at 19:27
@aseloparz: Dein Kommentar wurde nicht gelöscht, er war nur noch nicht freigeschaltet worden.
Dein Einwand ist völlig berechtigt, der Satz müßte heißen:
“… das man gern von der ehemals “vierten Gewalt” erwarten würde. Inzwischen sagt uns die große Suchmaschine, daß sie von der fünften abgelöst wurde: Vom Lobbyismus.”
Manchmal ist das Gehirn schon auf dem Weg ins Bett ;-)
April 20th, 2009 at 21:09
Es ist alles so traurig und so wahr.
April 21st, 2009 at 00:23
@flatter: Oh, bitte vielmals um Entschuldigung. Jedes Gehirn braucht wohl mal seine Ruhepausen, wenn dann so gute Texte entstehen, seien sie dir erst Recht gegönnt;-)