Piraterie: Wirtschaften als übergesetzlicher Notstand
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10. Apr 2009 23:44
Einen bermerkenswerten Artikel zum Problem der “Piraterie” am Horn von Afrika haben Andrea Böhm und Heinrich Wefing in der “ZEIT” veröffentlicht. Wo deutsche Minister grundgesetzwidrig und aus Steuermitteln nur “deutsche Reeder schützen” wollen, gehören eigentlich Völker vor dem Hungertod geschützt, deren Lebensgrundlagen von der internationalen Industrie zerstört werden.
Das Innenministerium hat in der Sache vor allem die Sorge, “Piraten”, die festgenommen werden, könnten hier Asyl beantragen. Das wäre ja auch noch schöner, wenn diese Hungerhaken vor deutschen Gerichten ihre Geschichte erzählen und uns nachher der Thunfisch nicht mehr schmeckt.
Der Kapitalismus ist nicht für jedes Verbrechen verantwortlich, aber zu viele finden in seinem Gefolge statt. Daß in und vor Somalia die “Piraterie” zu einem Industriezweig werden konnte und die Reste einer Infratstruktur aufrecht erhält, ist in diesem Maße nur möglich, weil Fischerei dort eben unmöglich wurde. Wer will jetzt solche “Piraten” dafür verurteilen, daß sie gegen Gesetze anderer Länder verstoßen? Dort, wo sie leben, gilt kein Gesetz mehr. Genau dies haben die Fangflotten der Fischindustrie ausgenutzt, um ein bereits furchtbares Elend noch einmal zu vergrößern. Was ist das für eine Geisteshaltung, die solche Geschäfte für legitim hält? Was ist das für ein zynisches Verständnis von Recht und Wirtschaftt, wenn “staaliche Eingriffe” in die Geschäfte als verwerflich gelten, aber die Bundesmarine nach Afrika schippert, um die Kähne der Konzerne auf Kosten der Allgemeinheit vor den Folgen des Raubkapitalismus zu schützen?
Das Widerwärtige an der Ideologie selbsternannter “Liberaler” ist ihr parasitäres Verhältnis zur Allgemeinheit, deren Existenz sie schlicht leugnen. Eines ihrer Standardargumente besteht darin, ein höheres Interesse der Gesellschaft per se anzuzweifeln. Für sie ist die Allgemeinheit die Summe der Einzelinteressen, die durch den Markt zu einem Gleichgewicht finden. Allein das Strafrecht hat in diesem Sinne noch eine gewisse Relevanz, der Schutz von Leib und Leben und natürlich der des Eigentums. Daß aber selbst diese minimalen Grundlagen von Rechtsempfinden im Handeln der Marktreibenden keine Berücksichtigung findet, blenden sie gern aus. Daß das nackte Überleben von wirtschaftlichen Vorgängen abhängig ist, wollen sie nicht wissen. Im Falle der Piraten werden sie darauf verweisen, daß Somalia gesetzlos ist und man daher den Menschen nicht helfen kann. Sie sollen sich halt Gesetze geben und eine erfolgreiche Wirtschaft aufbauen, dann wird auch für sie alles gut. Daß es gerade die wirtschaftlichen Interessen einzelner (Konzerne) sind, die anderen die Lebensgrundlagen rauben, wäre das nicht auch und gerade für “Liberale” ein Grund, innezuhalten? Besteht darin nicht ein mächtiges Argument für mehr Staat und mehr Gesetze, die den Markt einschränken?
Die ethische Indifferenz der Martkideologie bewirkt, was alle soziale Regellosigkeit bewirkt: Sie fördert die Rücksichtlosen, zerstört soziale Strukturen und führt ins Elend. Dieses Elend ist die Basis für die Gewinne der eifrigsten “Unternehmer”. Wer moralische Skrupel hat, kann hier nichts holen. In einer ehemals “aufgeklärten” Mediengesellschaft folgt daraus, daß gewaltige Mühen aufgewendet werden, um das Elend zu kaschieren, für unvermeidlich zu erklären und den Zusammenhang zwischen Hungertod und satten Gewinnen zu leugnen. Wer so wirtschaftet, muß entweder ein rücksichtloser Schweinehund sein oder die Möglichkeit haben, sein Tun vor sich selbst und anderen reinzuwaschen. Dies war es, was ich mit meinem letzten Posting meinte.
Wer dieser Kognitiven Dissonanz entgehen will, muß Verantwortung für wirtschaftliches Handeln einfordern, bevor die Geschäfte gemacht werden. Es gibt keine wirksame Moral und keine Vernunft im Kapitalismus, es sei denn die staatlicher Vorschriften. Nur wirksame Gesetze können das Schlimmste verhindern. Es ist eine klare Entscheidung: Wer möglichst barrierefrei Gewinne machen will, vertritt eine vorzivilisatorische Moral in einer hochtechnologischen Welt. Es ist das pure Grauen, das daraus entsteht, und wer hinschaut, kann es sehen.
April 11th, 2009 at 03:01
Vorab erstmal “Bravo!” für diesen Artikel, sehr gut auf den Punkt gebracht und auch pointiert geschrieben.
Ein paar Anmerkungen aus der eigenen Erinnerung seien erlaubt. Ich erinnere mich an gemeinsame fürstliche Mahlzeiten in der Familie und andere Orgien der sinnbefreiten Fresserei und ausschweifenden Sauferei, in denen ich mich in jungen Jahren dazu hinreißen ließ, darauf aufmerksam zu machen, dass dies nur möglich sei, weil da in Afrika und anderswo die “Nigger” den Hungertod sterben. Ich habe dies gerne mit ein paar Dekorationen in Form von halb verhungerten wasserbäuchigen Kindern in Bildform unterstützt und von den mehr als empörten Anwesenden lediglich verlangt, dies einzugestehen und auf irgendwelche Spenden an Organisationen wie z.B. Brot für die Welt und anderen Humbug in Zukunft zu verzichten, damit wir derlei Orgien auch in Zukunft noch feiern können. Soviel Zynismus hat in der Regel die Laune arg verdorben oder zum Ausschluß meiner Person geführt. Ich habe daher mit zunehmenden Alter mit diesen Aktionen aufgehört…
Beim Lesen des Artikels aber musste ich doch spontan an genau diese Situationen denken, da es eigentlich seit Jahrzehnten das gleiche Thema ist. Unser Lebenswandel, und nicht nur das Gehabe und die Handlung der Unternehmen ist der Grund für Hunger in weiten Teilen der Welt. Wenn wir alle schon nicht den Anstand haben, das mit allen Kräften ändern zu wollen, so gilt es doch zumindest, den Mut aufzubringen, sich bewusst zu sein, dass unser Lebenswandel, unser Konsum, unser Energieverbrauch, unser System, welches wir tagtäglich auch selber durch unsere Handlungen unterstützen und fördern, dafür verantwortlich ist. Das Steak schmeckt auch mit einem Bild von halb verhungerten Kindern vor den Augen noch ganz gut. Das wäre der erste Schritt. Danach überlegen wir uns mal bei einem Bier oder einem leckeren Wein in Ruhe, ob wir das vielleicht ändern wollen, kommen aber schon nach kurzer Zeit zu der Erkenntnis, dass diese Änderung für uns deutliche Abstriche bedeuten würde. Wer will schon ein Vielfaches für die Dose Thunfisch beim Discounter bezahlen? Also, lassen wir das doch besser, verdrängen die Bilder oder spenden das, was nicht wirklich Entbehrung bedeutet. Und wenn die Muggels sich holen wollen, was ihr Recht ist, machen wir sie halt platt, schließlich haben wir uns unser Eigentum und unseren Konsum durch harte Arbeit verdient…Dafür sorgen dann die, die wir gewählt haben. Die EU, also die, die wir ja im Juni wieder wählen, hat doch Anfang März dieses lustige Abkommen mit Kenia getroffen, um die Piraten nicht in europäische Gefängnisse gelangen zu lassen, wo die ja eh nur in Saus und Braus leben würden, um dann noch den Asylantrag zu stellen, dem man ja angesichts der Lage auch noch stattgeben müsste. Die Vorgaben für den Umgang mit den Piraten, die die EU an Kenia gestellt hat, werden sicherlich schärfstens überwacht…
Ich denke, man sollte dieser “kognitiven Dissonanz” eben nicht entgehen, sondern sich ihr erst einmal stellen, denn diese findet alltäglich in allen, auch in meinem Kopf statt und führt eben dazu, die eigene Handlung nicht kritisch zu betrachten. Oder anders: wenn wir weiter so leben wollen wie bisher, sollten wir ob des Engagements gegen die Piraten applaudieren.
April 11th, 2009 at 09:45
Die Herrschaften sind es halt noch nicht gewöhnt, daß da wer daher kommt und sich einfach nimmt, was er (Pirat) meint, daß es ihm gehört.
Insofern sind die Piraten eine Art “Vorreiter”, die uns zeigen, wie es eben nur gehen kann, wenn man nicht verrecken will.
Nicht darauf warten, daß UNS etwas freiwillig von dem abgegeben wird, was UNS eigentlich sowieso gehört.
Dort sind es die Fische – hier ist es unser Anteil am erwirtschafteten (Volks-)Gesamteinkommen.
Dort sind es “Gesetzlose” – hier bekämpft man uns (noch) mit Gesetzen, weil noch nicht alle entsprechend geändert sind…
April 11th, 2009 at 10:11
Ja, es ist das absolute Grauen – und da ist keine Verantwortung – nirgends!
Wenn die dafür verantwortlichen Politiker nicht wollen,dass sich etwas ändert, dann nützt auch die Eigenverantwortung nicht viel.
Der o. g. Artikel in DER ZEIT ist im November vergangenen Jahres geschrieben. Was hat sich seitdem verändert?
Die Situation ist Dank genau dieser “ehrenwerten” Politiker noch schlimmer geworden. 1,5 Milliarden Menschen hungern sich zu Tode. Und wir?
Wir fordern nicht! Wir warten ab!
April 11th, 2009 at 10:48
[...] https://archiv.feynsinn.org/?p=1084 [...]
April 11th, 2009 at 13:07
Hier vielleicht einer der Artikel, welche man bei unserer Medienlandschaft unter der Rubrik -Weiteres-
findet:
https://www.tagesschau.de/wirtschaft/apartheid100.html
@Mathes – Das Gefühl kenne ich.
Die Frage wie dekadent eine Gesellschaft ist, welche
sich besondere Ernährungsformen, und fast eine Gesundheitsdiktatur leistet, während fast 2/6 der Welt
am Hungertuch nagt, – ist fast so als würde man in der
Kirche ein Kondom auspacken.
April 11th, 2009 at 14:09
Im Ganzen sehr gut geschrieben und dargestellt.
Kleiner Makel: Den Pleonasmus “Raubkapitalismus” ersetzen, denn wir wissen schon, daß Raben schwarz sind!
April 11th, 2009 at 20:23
[...] zusammen mit den anderen Europäischen Staaten und den USA gerade schwerste Geschütze auffährt: Piraterie: Wirtschaften als übergesetzlicher Notstand: [...]
April 12th, 2009 at 00:29
Aus dringendem, aktuellen Anlass zur Internet-Zensur: https://www.mmnews.de/index.php/200904112729/MM-News/WIKILEAKS-gesperrt.html
April 12th, 2009 at 09:57
https://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,618462,00.html
Der Spiegel versucht uns aktuell, schon wieder vom Gegenteil des hier Beschriebenen zu überzeugen…..
Wenn man den Artikel liest, merkt man wieder, dass soziale Aspekte keine Rolle spielen. Man spricht immer nur von Gewinnern, der Zustand der Verlierer, auch in den Gewinnerstaaten, spielt keine Rolle.