Noch ist es nicht vorbei – Schlußworte neoliberaler Ignoranz
Posted by flatter under Journalismus[13] Comments
14. Okt 2008 1:12
Auch wenn die Medien allmählich wieder schreiben lassen, was sich nicht einmal hinter dem Everest verbergen ließe, kämpfen sie noch immer dieselbe Schlacht. Der jedem Talent erfolgreich entkommene Mohr etwa sieht bei SpOn den “populistischen” Lafontaine als wichtigstes Detail in der Debatte zur Finanzkrise. Schade, Reinhard, ich habe leider keinen Link für dich.
Als Symptom des halbgaren Rückzugs der Journaille aus ihrem neoliberalen Niveautief werden heute einige Artikelchen geboten, die den Depp partout nicht “Depp” nennen wollen, weil er halt aufrecht in einem gut sitzenden Anzug stehen kann und über der Krawatte souverän raushaut, was das Rhetorikseminar für Fortgeschrittene hergibt.
Friedrich Merz tankt sich als Vollhorst durch die ungeliebte Wirklichkeit, die so gar nicht ins Konzept eines debiliberalen Besserwissers passen will. Hätte er einen Funken von Charakter, hätte er sein Büchlein selbst zum Container gebracht oder wäre damit als bester Realsatiriker aller Zeiten auf Tour gegangen – erklärtermaßen. So hat er hat recht, wie er schon immer recht hatte und steigert die Peinlichkeit in Dimensionen, gegen die mittelalterliche Folterinstrumente wirken wie ein Klaps auf den Hinterkopf.
Das ist freilich sein Bier(deckel). Nehmen wir an, sein dummer Aufguß alter neoliberaler Fehlleistungen hätte inhaltlich irgendetwas zu bieten. Dann müßte man dennoch ein Sekündchen innehalten und sich deutlich machen, daß der Titel “Mehr Kapitalismus wagen” einfach nicht geht in diesen Tagen. Selbst er hätte das bemerkt. Da er aber außer borniertem Gefasel über Konzepte, die noch nie aufgingen und schon immer verlogen waren, nichts zu bieten hat, ficht ihn das alles nicht an. Man macht es ihm allzu leicht. Niemand geht hin, faßt ihn bei der Schulter, nimmt ihn beiseite und sagt ihm: “Friedrich, das ist scheiße, was du da erzählst.” Nein, höflich-devot und bar jeder Meinung “berichten” die üblichen Verdächtigen, daß er eben sein Büchlein veröffentlicht.
“Rebell wider den Zeitgeist” nennt Katharina Schuler ihn in der geistlosen “Zeit”. Ihr inhaltloses Gewäsch endet mit den Zeilen:
“Hoffen werden sie aber auch, dass er nicht eines Tages wirklich zurückkehrt in die Politik, mit einer eigenen Partei, ein Lafontaine von rechts. Dann könnte er wirklich gefährlich werden.”
Aua!
R. Meinhof beglückt uns bei Sueddeutsche.de mit Krawattenmetaphorik, die mich literarisch überfordert. Der Artikel endet mit den tief bewegenden Worten:
“Er wirkt wie einer, der mit Leidenschaft dabei ist. Mit seinem Buch diesmal, aber ganz sicher auch anders. Dazu allerdings muss mehr passieren. Solange Angela Merkel in der Partei die Fäden in der Hand hält, wird er nicht zurückkehren in die große Politik. Aber er wird auf seine Weise wirken. Wie ein Herrenkonfektionsverkäufer eben, dem die Mode egal ist.”
Vom Merzen mit Schmerzen.
Ansgar Graw salbadert für Welt.de schlußwörtlich:
“So beschwört Merz die Verantwortung des Einzelnen und rehabilitiert den Begriff des Neoliberalismus, der einst als freiheitlicher Gegenentwurf zu den schlimmen Ideologien des 20.Jahrhunderts entstand. Es gehe ihm nicht um eine „parteipolitische Auseinandersetzung oder gar um eine Auseinandersetzung innerhalb meiner Partei“, versichert er im Vorwort seines Buches. Vielleicht werden seine Gedanken ja doch nicht als Kampfansage begriffen, sondern als ein notwendiges Korrektiv in regulierungswütigen Zeiten.”
Neoliberalismus ist also “freiheitlich”, das Gegenteil “schlimm”, und wir leben “in regulierungswütigen Zeiten“. Das notwendige Korrektiv für solchen Schwachsinn müßte wohl sehr stark sein. Selbst eine göttliche Macht stünde hier wohl auf verlorenem Posten.
Was mich wirklich beschäftigt, ist die Frage, ob es solchen Bremsbirnen gelingen kann, das Eintreten des eigenen Todes zu ignorieren und sich derart unsterblich zu machen.
Oktober 14th, 2008 at 05:05
[...] Meinhof schreibt das in der SZ nicht so trocken: “Friedrich Merz hat ein Buch geschrieben. Wenn man den Titel liest, hat man den Eindruck, [...]
Oktober 14th, 2008 at 11:46
Die Realsatire geht weiter, und zwar in den von Dir zitierten Zeitungsartikeln. Man glaubt es nicht, wenn man liest, daß der “Neoliberalismus, einst als freiheitlicher Gegenentwurf” gedacht war. Zu was, ist eigentlich gleichgültig, denn jeder, der ein wenig denken kann und eventuell ein wenig Ahnung von Philosophie hat, weiß, daß Freiheit (undialektisch) gar nicht möglich ist ohne Notwendigkeit. Freiheit, so Kant, ist Einsicht in die Notwendigkeit, Freiheit gibt es nicht, wenn die Freiheit der einen die Unfreiheit der anderen bedeutet. usw.
Was sind diese Zeitungsschreiber doch für Dummköpfe. In den siebziger Jahren hatte ich den Eindruck, daß nur, wer sehr gut im Denken, Analysieren, Schreiben ist, eine Stelle an einer Zeitung bekommt.
Oktober 14th, 2008 at 11:55
Kleines Besserwissi: So weit ich weiß, wird das Zitat zur “Freiheit” Engels zugeschrieben, entstammt aber quasi als Destillat Hegels Schriften. Wortwörtlich findet es sich wohl nicht in der Literatur – ich lasse mich aber gern belehren.
Ich bin im übrigen davon überzeugt, daß jemand, der Marx gelesen hat, solchen Unfug nicht in die Welt setzen könnte. Nicht, weuil Marx recht hatte, sondern weil seine Leser eben lesen.
Oktober 14th, 2008 at 12:49
[...] Meinhof schreibt das in der SZ nicht so trocken: “Friedrich Merz hat ein Buch geschrieben. Wenn man den Titel liest, hat man den Eindruck, [...]
Oktober 14th, 2008 at 16:00
@Klaus Baum: Nuja, der Neoliberalismus war in der Tat mal als “freiheitlicher Gegenentwurf” gedacht. Ich erinnere daran, das Röpcke die soziale Marktwirtschaft als “dritten Weg” zwischen Kommunismus únd Kapitalismus bezeichnet hat.
Nur war dies eben bevor Friedman & Co. den Neoliberalismus gekapert haben, und in einen Neofeudalismus verwandelt haben.
Das war vor dem Wirken der Chicago Boys in Chile, das war bevor rechtsgerichtete Diktaturen rund um den Erdball von Friedman-Jüngern beraten wurden.
Kurz gesagt: Das war eben vor der Komplett-Degeneration dieser Ideologie.
Oktober 14th, 2008 at 18:59
Die neoliberale Ignoranz so manchen Medienvertreters kann man gerade im neuen Buch von Dieter Bohlen – selbstverliebt “Der Bohlen-Weg” genannt nachlesen.
Der Mensch hat die Börsenkrise anscheinend auch verschlafen, und glaubt die ganze Neoliberalismusdiskussion bzw. Ungerechtikeitsdiskussion ist ein Märchen.
Mfg
Rosa L.
Oktober 14th, 2008 at 21:33
[...] Noch ist es nicht vorbei – Schlußworte neoliberaler Ignoranz Auch wenn die Medien allmählich wieder schreiben lassen, was sich nicht einmal hinter dem Everest verbergen ließe, kämpfen sie noch immer dieselbe Schlacht. [...]
Oktober 14th, 2008 at 23:11
Der Neoliberalismus war vielleicht ein Stück weit eine wirkliche Freiheitslehre, als er noch Ordo-Liberalismus hieß, in dem es einen geregelten Wettbewerb und einen “starken Staat” geben sollte, der wirtschaftliche Machtzusammenballungen verhindern sollte.
Oktober 14th, 2008 at 23:47
Ein köstliches Lesestück, Flatter. Da wimmelt es geradezu von herrlich einfallsreichen Begriffen wie “Bremsbirne” oder “debiliberal” – klasse!
Oktober 16th, 2008 at 00:05
man könnte einen philosophischen diskurs beginnen über das verhältnis von freiheit und notwendigkeit, wobei man dann wissen müßte, was mit notwendigkeit gemeint ist. jedenfalls besteht freiheit nicht darin, daß eine klasse von menschen sich rechte herausnimmt, die anderen verweigert – das aber bestimmt das verhalten der neoliberalen wortführer. ich habe darauf in meinen blogbeiträgen gelegentlich hingewiesen. ein beispiel war: hartz-IV-empfänger werden in bausch und bogen als betrüger bezeichnet, während olaf henkel differenzierung verlangt, sobald die kaste der manager kritisiert wird.
für mich ist der kategorische imperativ von kant eben eine variante von “freiheit ist einsicht in die notwendikeit”, weil er die notwendigkeit von gerechtigkeit postuliert.
was also der reiche herr x für sich in anspruch nimmt, muß dann auch für den armen herrn y gelten usw.
laut hinweisen via google wird die formulierung in der tat engels zugeschrieben mit hegelschen background. :–))
Oktober 17th, 2008 at 01:15
[...] nämlich fest: “Einen anderen Wirtschaftsfachmann hat die Union nicht aufzuweisen, nachdem Friedrich Merz vor Merkel aus der Politik flüchtet” und rät “zu einem mächtigen Gespann […] [...]
Oktober 18th, 2008 at 11:38
[...] „Noch ist es nicht vorbei – Schlussworte neoliberaler Ignoranz”, [...]
Oktober 18th, 2008 at 18:23
[...] Feynsinn » Noch ist es nicht vorbei – Schlußworte neoliberaler Ignoranz – [...]