Wenn man gegen geltendes Recht wirtschaftet, braucht man Argumente. Zum Beispiel die einmillionste Erhebung, Studie, Befragung, die besagt, wie viele Arbeitsplätze “vernichtet werden“, wenn man Menschen für ihre Arbeit bezahlt. Daß es der Europäischen Sozialcharta widerspricht, wenn man sie, zumal massenhaft, ausbeutet, muß durch große Zahlen und schauerlichen Grusel übertüncht werden.
“Focus” langweilt mit einer weiteren “Studie” von “Wirtschaftsforschern”, deren Weisheit allein schon qua ihrer Autorität unzweifelhaft ist.
1,2 Millionen Arbeitsplätze vernichten” würde also ein flächendeckender Mindestlohn. Ein “Wirtschaftsforscher”, der von der “Vernichtung” von Arbeitsplätzen spricht, sitzt vermutlich in einer Kneipe und macht Experimente mit seinem zwölften Bier. Von Ökonomie hat er nicht den geringsten Dunst. Ist ein Arbeitsplatz “vernichtet”, wenn ich mit einem Bulldozer über meinen Schreibtisch fahre? Oder wenn ich den Bäcker erdolche? Wenn jemand arbeitslos wird oder eine Firma Konkurs anmeldet?
Ökonomie ist ein äußerst komplexes Geschehen. Vor allem in Deutschland, dem Giganten des Exports, wird ein auf Außenhandel angewiesener Arbeitsplatz, der wegfällt, in der Regel sehr schnell durch einen anderen ersetzt. Ist der Bedarf an Produkten vorhanden, wird produziert. Nirgends effizienter als hierzulande. Selbst das “Abwandern” von Arbeitsplätzen, auch eine mißlungene Metapher neoliberaler Gruselgranden, ist unwahrscheinlich. Billiger konnten andere schon immer, haben aber in der Masse nie so viel Erfolg gehabt wie deutsche Unternehmen. Hausaufgabe für die Wirtschaftforscher: Recherchieren Sie, woran das liegt!
Daß der deutsche Binnenmarkt immer noch dahinsiecht, wird hier in jeder Schwächephase der Weltwirtschaft zum Problem, und es wird immer schlimmer. Bislang ging das noch so gerade eben gut, und was häufig übersehen wird, ist der Einfluß, den der deutsche Binnenmarkt auf die Exportfähigkeit hat. Wenn sich hier niemand mehr die Produkte leisten kann, die er selbst herstellt, wird die Produktion als Ganze darunter leiden. Je größer die Masse derer wird, die von einer realen Teilhabe ausgeschlossen sind, desto ineffizienter wird die Produktion. Das Prekariat verliert völlig den Anschluß an die Arbeitswelt, Bildung erreicht immer weniger Menschen, weil sie keine Zeit, kein Geld und keine Vorbildung haben. Für einen “Wirtschaftsstandort”, dessen Angestellte effizient arbeiten sollen, eine Katastrophe. Niedrige Löhne werden überdies dazu führen, daß Arbeitskräfte aus dem Ausland keinen Grund mehr haben, hier ihr Geld zu verdienen – schon gar nicht solche, von denen wesentlich mehr erwartet wird als “Dienst nach Vorschrift”. Damit sind wir noch immer nicht bei dem Problem, daß deutsche Unternehmen vor allem in den europäischen Binnenmarkt exportieren. Der deutsche gehört dazu, und welche Auswirkungen ein toter deutscher Binnenmarkt aufs Gesamtsystem hat, ist die Hausaufgabe für fortgeschrittene “Forscher”.
Selbst, wenn man es nicht begrüßt, daß ausbeuterische Arbeitsverhältnisse abgebaut werden (und es gibt auch sehr gute ökonomische Gründe dafür), ist das Wort von der “Vernichtung” blanker Unfug. Die meisten Unternehmen müßten ihre Mitarbeiter schlicht besser bezahlen, ihre Gewinne würden lediglich bei gleichem Umsatz schrumpfen. Selbst, wenn man glaubt, daß viele Unternehmen dann nicht überleben würden, ist die Behauptung, die Arbeitsplätze würden wegfallen, also falsch. Sie würden in Unternehmen neu entstehen, die bereit sind, mit weniger Gewinn solide zu wirtschaften. Freilich sind Gewinnmargen von 25% nicht mehr drin, aber mit so etwas rechnet, darf gern auswandern.
Löhne, die in vom Export unabhängigen Branchen gezahlt werden, sind eine noch bessere Investition. Hier wandert niemand ab. Dienstleister und Handwerker, die anständig bezahlt werden, können andere Dienstleister und Produzenten anständig bezahlen. Das rechnet sich doppelt, weil dabei auch noch etwas für die öffentlichen Kassen abfällt und sich ganz nebenbei die gesamte Wirtschaftsleistung steigert.
Wie wissenschaftlich solche “Studien” sind, belegt die Astrologie, die dahinter steht:
Die RWI-Studie stützt sich auf Modellrechnungen. Außerdem wurden 800 Unternehmer aus acht Branchen befragt. Demnach rechnen zum Beispiel in Ostdeutschland 40 Prozent der Betriebe mit Entlassungen, sollte es einen flächendeckenden Mindestlohn geben.”
“Modellrechnungen” bedeutet so etwas wie Pi mal Daumen, streng linear und an einem Nachmittag zusammengeschustert.
Wenn “ein Betrieb” “mit etwas rechnet”, wird es schlicht komisch. Achja, es sind “die Unternehmer”. Wer genau ist das? Aufsichtsratsvorsitzende? Aktionäre? Manager? Pförtner? Und was bedeutet “Entlassungen”? Daß ein paar Leute gehen müssen? Ein Leiharbeitszug nach Hause geschickt wird? Daß der Betrieb dicht macht? Nichts Genaues weiß man nicht, aber auf Basis dieser Rumpelstatistik errechnet sich eins fix drei:
Die öffentlichen Haushalte müssten in diesem Fall Mehrkosten von neun Milliarden Euro im Jahr schultern – unter anderem, weil die Ausgaben für das Arbeitslosengeld steigen und die Einnahmen aus der Unternehmenssteuer sinken würden“.
Man hätte sich auch die Mühe machen können, zu errechnen, was an Lohnsteuer und Sozialversicherungsbeiträgen gewonnen wird, wenn 2-Euro-Jobs durch echte Arbeitsplätze ersetzt würden. Aber das hieße ja, man müßte den ganz großen Rechner anschmeißen, wirklich kluge Köpfe, echte Wissenschaftler damit beschätigen und eine seriöse Arbeit leisten, die Monate oder Jahre in Anspruch nimmt. Doppelt uncool. Es käme dabei wohl nicht heraus, was der politisch-publizistische Komplex hören will, und das Geschäft ist immer in Eile. Heute auf den Schreibtisch gewürfelt, morgen veröffentlicht und immer am Puls der Macht – so wird ein neoliberaler Schuh draus.
Zieht ihn euch selbst an, geht ins Wasser und kommt nicht wieder raus!