In der FR schreibt Stephan Hebel einen vergleichsweise sehr vernünftigen Artikel zu Ypsilantis Versuch einer neuen Mehrheit. Sein Fazit ist freilich so falsch wie der Titel: “Ypsilantis letzte Chance” berge das Risiko, daß ein “Scheitern die Normalisierung linker Mehrheiten wahrscheinlich fatal behindern” würde.
Selbst Hebel, der völlig zutreffend “von den nachhaltigen Schäden, die Schröders Politik der Partei zufügte” spricht, denkt nur wahltaktisch und nicht einmal dies konsequent. Die Inhalte, die eine neue politische Konstellation voranbringen könnte, spielen in seinen Betrachtungen bedauerlicher Weise keine Rolle. Was er ebenfalls nicht bedenkt: Eine Konstellation aus fünf Parteien bringt eine neue Dynamik in die Parlamente, wenn das dumme Tabu gegen “Links” einmal aufgebrochen ist. Als ließe sich die Erfahrung eines einzelnen Landtags in einer einzigartigen Situation (ein abgewählter Ministerpräsident regiert weiter, die Alternative hat eine schwache Basis) auf jedes mögliche andere Parlament übertragen. Es ist ja nicht falsch, beim ersten Mal von einem “Experiment” zu sprechen. Was bedeutet es schon, wenn es scheitert? Wird ein Labor sofort geschlossen, wenn der erste Versuch nicht die erwünschten Ergebnisse zeitigt? Muß ein Baby für immer im Bauch bleiben, wenn es nicht nach den ersten Wehen prompt ans Tageslicht flutscht?
Natürlich würden die etablierten Mächte und ihre Medien Kübelweise ihre Häme verklappen, wenn es schiefginge. Na und? Das Pulver ist längst verschossen, unter solchen Bedingungen wurden bereits mehrere Wahlen abgehalten. Das Ergebnis ist just die Unregierbarkeit, die sich aus der Sturheit der Etablierten ergibt, die neuen Verhältnisse zu akzeptieren. Es gibt kein Zurück zum Vierparteiensystem. Die SPD wird sich auf absehbare Zeit nicht aus dem Agenda-Sumpf befreien. Und selbst wenn ihr dies gelänge, würde sie die LINKE damit nicht entscheidend schwächen. Im Gegenteil gäbe es dann endlich sichtbare politische Gründe gegen neoliberale Koalitionen. Währenddessen haben die Medien in ihrem akuten Zustand nur die Möglichkeit, die abgestandenen Parolen ewig zu wiederholen oder sich mit Inhalten auseinanderzusetzen. Letzteres wird sich durchsetzen, weil kindisches Geplapper nicht bestehen kann gegen eine Beschreibung der Wirklichkeit, die noch jemand als solche wiedererkennt. Propaganda funktioniert in der deutschen Politik auch deshalb so schlecht, weil sie sich nur verkaufen läßt, wenn sich ein tauglicher Verkäufer findet, dem das gelingt. Schaut man sich das traurige Personal an, daß auf den Bühnen der Republik herumturnt, muß man sich nicht fürchten. Die Generalsekretäre der sich für “groß” haltenden Parteien sind das deutlichste Symptom, der Rest der Bagage sieht kaum besser aus. Beruhigend: Es ist das System, das gleichermaßen solche Luschen befördert wie die Inhalte, die sie zu vertreten haben. Dieses Theater hat keine Zukunft.
Vermutlich auch deshalb versteigt sich ein Halbwissender wie Hebel zu der Formulierung der “vom Lafontaine’schen Populismus hoffentlich bald befreiten Linkspartei“.
“Populismus” ist zwar einen Hauch besser als “Demagogie”, aber darf ich von einem politischen Journalisten nicht erwarten, daß er sich das Auftreten derer, die nicht “links” sind und nicht “Lafontaine” heißen, auch einmal anschaut? Ist das sachlich? Frei von “Populismus”?
Nein, es gaht auch nicht darum. Lafontaine kann reden, was nicht zuletzt sein Job ist. Er kann das, was er für seine Politik hält, gegen alle Schmähungen glaubwürdig vertreten, auch und gerade, weil seine Karriere die eines unbeugsamen Egozentrikers ist. Letzteres sind die Konkurrenten auch, wenngleich gebeugt, unglaubwürdig und seelenlos. Sie gelten lediglich deshalb nicht als “Populisten”, weil sie beim Volk nicht ankommen. Sie können es nicht, und ihre lackierte Weltsicht entspricht nicht dem Empfinden derer, die sie wählen sollen.
Experimente sind also zu begrüßen, und ein gescheitertes mit Ypsilanti mehr noch als ein erfolgreiches mit Lafontaine. Versuch und Irrtum helfen, den Blick für die Wirklichkeit zu schärfen. Und von dieser ist das neoliberal ausgerichtete Parteiensystem der Vor-LINKS-Ära noch Lichtjahre entfernt.