Sozialschmarotzer: Fordern und Strafen durch Pflege
Posted by flatter under PolitikKommentare deaktiviert
16. Aug 2008 1:15
Wer Arbeit will, findet auch welche: Die TAZ berichtet von illegalen Jobs in Callcentern, die Arbeitslosen “angeboten” werden. Halbseidene Ausbeuter werden von der “Arbeitsagentur” nicht nur subventioniert, die Mitarbeiter werden ihnen unter Druck und Zwang zugeführt. Während den Hartz-IV-Empfängern die sofortige Kürzung des Existenzminimums droht, schmeißt man auch den Betrügern aller Branchen das Geld und die Leute in den Rachen, kontrolliert wird – vielleicht – später:
“Bei einer Überprüfung der Inserate sei man am Freitag auf rund 25 Angebote aus dem Bereich Lottowerbung und Kaltaquise gestoßen. Man sehe aber keine Möglichkeit, diese zu beseitigen, sagte ein Sprecher. Es müsse zunächst geprüft werden, ob tatsächlich “ein Rechtsverstoß vorliegt”. Dafür allerdings benötige man Einblick in die Unterlagen der Firmen, was ohne rechtliche Befugnis nicht möglich sei. [...]
Mit Blick auf Jobs bei Lotto-Call-Centern könnten sich Hartz-IV-Empfänger so in einer Notsituation befinden: Entweder arbeitet man für eine illegale Firma oder muss auf Geld verzichten.”
Die rechtliche Befugnis zur Entlarvung von Abzockern ist nicht vorhanden, also werden alle als seriös eingestuft. Anders herum geht das bei den “Geforderten”. Hartz 2008: Zwangsarbeit in illegalen Callcentern, gefördert durch öffentliche Mittel und abgespart vom Mund der Ärmsten.
Eine weitere grandiose Idee aus demselben Irrenhaus ist die Vermittlung von tausenden Unqualifizierten in die Altenpflege. Vier Wochen durchlauferhitzt und gewissensgeprüft, will man Langzeitarbeitslose auf Pflegebedürftige loslassen. Die Qualität der Pflege kommt dabei ebenso unter die Räder, wie die schon heute miesen Bedingungen in Pflegeberufen noch verschlimmert werden. Was nämlich angeblich “entlasten” soll, führt nur dazu, daß der physisch und psychisch knallharte Knochenjob in Zukunft noch schlechter bezahlt wird. Der Kostendruck wird dazu führen, daß an ausgebildeten Pflegekräften gespart wird. Das betrifft Qualität wie Quantität. Die Situation in Pflegeberufen ist bereits unerträglich, die Entlohnung der Pflegenden ist ein Schlag ins Gesicht angesichts ihrer Belastung. Es wäre also dringend erforderlich, das Arbeitsumfeld zu verbessern, durch deutlich höhere Löhne, eine Aufwertung der Pflege gegenüber der Ärzteschaft und eine Entlastung der Pflegekräfte im beruflichen Alltag.
Die Zuführung von unausgebildeten Arbeitslosen, die sicher auch unter Zwang ablaufen würde, hätte zur Folge, daß die Struktur sich stattdessen noch einmal verschlechtert: Von unten nach oben gäbe es dann die Hartzer, die Pflegehelfer und die vollausgebildeten Pflegekräfte. Drei Stufen ganz unten, keiner hat etwas zu melden, alle werden miserabel bezahlt. Wünschenswert womöglich: Diese Hierarchie unter den Lohnsklaven sorgt dafür, daß sich das Prekariat gegenseitig die Augen auskratzt. Sie hätten ohnehin nicht die Zeit und die Kraft, sich solidarisch zu organisieren.
Damit ist noch kein Wort verloren über die anderen Opfer dieser Attacke auf die Menschlichkeit: Die Pflegebedürftigen. Auch sie sind nur Kostenfaktoren. Solche zu eliminieren, ist ja das Ziel neoliberaler Wirtschaftsorganisation. Es wird funktionieren.
Dazu paßt ganz vortrefflich, daß der große Betrieb zur Vermarktung des Lebens, vulgo “Politik”, ein Comeback eines Helden der Solidarität und des sozialen Miteinanders beschreit. Franz Münterfering, Ikone der heiligen Reformen, muß wieder ran, fordern aktuell u.a. Sigmar Gabriel und Daniel Cohn-Bendit. Das wäre achsogut für die SPD, ihre Wahlchancen, die Strategie, die Reformen, die Umfragen, die Glaubwürdigkeit, die Währungsstabilität, das Wachstum und sicher einige hundert weitere Substantive aus der Zwischenablage der einschlägigen Propagandisten. Zwei sind freilich nicht dabei: Solidarität und Menschlichkeit. Das ist halt der Preis, wie’s scheint, wenn die Freiheit gegen den Sozialismus verteidigt werden muß.
[update:] Dazu ebenfalls lesenswert:
- Ein Schmarotzer tot, der andere obdachlos (via Amok Koma)
- Leistungsträger, ihre Krawatten und sonstige Leistungen
August 16th, 2008 at 11:22
[...] Sozialschmarotzer: Fordern und Strafen durch Pflege [...]
August 16th, 2008 at 12:41
Dass mit der Altenpflege überrascht mich nicht. Warum sollte die notorische Menschenverachtung genau davor haltmachen? Wann wachen die Menschen in diesem Land eigentlich mal endlich auf und jagen die “Elite” zum Teufel?
Soll sich etwa das Szenario der Weimarer Republik wiederholen? Fast scheint es so…
August 16th, 2008 at 13:16
@Klaus Baum: Ich hatte in dem Zusammenhang auch schon diesen unfaßbaren Propagandaschrott im Auge und habe mich gefragt, wer wohl dahintersteckt. Es scheint sich im Großen und Ganzen um eine Produktion der Pro7-Sat1 Schiene zu handeln, die halten das vermutlich für gute Unterhaltung. Hergestellt wird der Mist von solis TV, deren Chef Stefan Wichmann bei SAT1 groß geworden ist. Ob er dafür ein Extraleckerli bekommt und von wem, ist auf die Schnelle nicht zu ermitteln.
August 17th, 2008 at 00:02
Ja, ja die Freiheit muß gegen den Sozialismus verteidigt werden. Wie man doch mit Worten spielen und sie in ihr Gegenteil verkehren kann! Das haben die Neoliberalen mit hartnäckiger Propaganda geschafft.
Der Begriff “Freiheit” hat für viele einen bedrohlichen Beigeschmack bekommen, ähnlich wie der neoliberale Kampfbegriff “Reform”. Dabei war das alles einmal anders. Von Reformen haben die meisten Menschen im Lande profitiert und Freiheit gab`s durch den Sozialismus, wenigstens aber durch eine soziale und demokratische Politik im kapitalistischen Gesellschaftssystem.
August 17th, 2008 at 15:22
Da ich selbst pflegebedürftig (noch relativ jung und nicht dement) finde ich den Ansatz von der Idee her gar nicht so falsch. Demenzkranke sind natürlich ein Spezialfall. Ich benötige öfters kleine Handgriffe wie Getränkeflasche öffnen, Brot schmieren, Joghurt holen, zum Zahnarzt fahren oder einfach mit dem Rollstuhl durch die Stadt schieben, dafür benötigt man keine Ausbildung als Pflegekraft, die mein Mann auch nicht hat. Politische Diskussionen können Sie mit mir trotzdem führen. Also wo ist das Problem? Oder ist es die Einstellung: behindert nein danke?
August 17th, 2008 at 15:34
Mir fällt noch ein: Sie beklagen den Faschismus? Dement und behindert wurde einst auch ausgerottet.
August 17th, 2008 at 23:58
@Annette Müller:
Ich habe nicht den Eindruck, daß sie den Artikel gelesen haben. Ihre Frage, wo das Problem sei, ist dort beantwortet. Ihre, freundlich ausgedrückt, merkwürdigen Vorwürfe fasse ich als eine Provokation auf, auf die ich nicht eingehen werde. Einen solchen Diskussionsstil pflege ich hier nicht.
August 18th, 2008 at 23:16
@Annette Müller
Besonders offensiv bereitet die Regionaldirektion Nordrhein-Westfalen die Vermittlung vor. In der Pflege entstünden derzeit neue Arbeitsplätze für “schwer vermittelbare Kunden”, heißt es in einem internen Schreiben. “Alle Möglichkeiten müssen ausgeschöpft werden”, um hier Arbeitslose unterzubringen.
Ende Zitat von https://www.sueddeutsche.de/politik/505/306466/text/
Beim genaueren Hinschauen kann ich nur immer wieder feststellen, das sMenschen wie Sie hier wieder mal nur Mittel zum Zweck sind. Ihre Behinderung ist den Bürokraten so ziemlich egal, solange nur wieder die Löhne gedrückt und die Statistiken geschönt werden können.
Es ist einfach nur schade, dass viele Betroffenen auf beiden Seiten diese Gefahr nicht sehen können (oder wollen?).
August 25th, 2008 at 22:21
Und daß das nicht Theorie bleibt, zeigt ein widerlicher Fall aus Recklinghausen.