“Zuviel” Staat ist für radikale Wirtschaftsliberale, auch “Neoliberale” genannt, der Urgrund aller Probleme. Der Staat solle nicht in die Märkte eingreifen, dies sei schädlich fürs Wachstum. Daß manche dann doch nach dem Staat rufen, wenn es (wie bei den Banken) im Markt kriselt, soll einmal nicht das Thema sein. Ich will auch konzedieren, daß es viele behördliche Eingriffe in geschäftliche Belange gibt, die schädlich, überflüssig und schlicht dumm sind. Es ist also durchaus richtig zu fragen, wo es solche Eingriffe gibt und wie man sie verhindern kann. Das ist im Interesse von Unternehmern und Bürgern gleichermaßen. Nicht diskutabel ist hingegen, ob der Staat das Recht dazu hat. Er hat, denn er ist bei allem das institutionalisierte Recht.
Wenn Vertreter des Staates, der Behörden und Regierungen, also die Belange der Wirtschaft berücksichtigen, ist das oft klug. Es ist darüber hinaus ein Zugeständnis, das der Staat machen kann, aber nicht muß. Das haben die Vertreter des Staates inzwischen weitgehend vergessen. Die Vetreter der Wirtschaftsverbände hingegen sehen das anders und fühlen sich berufen, selbst dem Staat Vorschriften zu machen. Sie dürfen das so sehen, denn im Gegensatz zum Staat sind sie zuerst sich selbst verpflichtet. Sie dürfen hemmungslos fordern. Ob das klug ist, ist eine andere Frage. Vor allem aber gibt es Grenzen der Einflußnahme, die bestehendes Recht verletzten und sogar das Recht als solches beschädigen. Wenn Wirtschaftsverbände und ihre mannigfaltigen Organisationen sich in behördliche Vorgänge regelrecht einschleichen und Konglomerate mit willfährigen Politikern bilden, ist das illegal. Sich darauf zu berufen, daß eine offensichtliche Bestechung nicht stattfindet, ist absurd. Wenn jemand einen Koffer mit Geld entgegennimmt als Belohnung für die Durchsetzung privater Interessen, ist das nicht die einzige Form von Bestechung. Sogar das kommt vor, und sogar das bleibt oft straffrei. Daß ein Schäuble noch Innenminister ist, ist ein nicht zu überbietender Skandal. Dies ist aber nur die Spitze des Eisberges. Was Lobbyisten inzwischen treiben, und wie weit ihnen die Tore dabei offenstehen, gefährdet die Integrität des Staates und den inneren Frieden. Es zeigt, daß Korruption nicht eine Summe von unerwünschten Vorgängen der Vorteilsannahme und -gewährung ist, sondern eine Haltung. Diese Haltung hat sich so breit und tief bei den “Eliten” festgesetzt, daß man an eine Selbstreinigung kaum mehr glauben kann. Ein neuerliches Beispiel ungeheuerlicher Ignoranz gegenüber den Rechten und Pflichten eines Amtsträgers ist die Selbstbedienung des amtierenden Ministerpräsidenten von Sachsen an Geldern der Landesbank. Er hat es sich zwar “nur” geliehen, aber jeder, der das in einer Firma macht, fliegt erst raus und landet dann vor dem Kadi.
Die tiefgreifenden Veränderungen, die notwendig wären, um noch von einer “Demokratie” sprechen zu können, sind benennbar:
Der Staat und seine Vertreter dürfen keine Amtsträger dulden, die nicht klar und deutlich Staatsgeschäfte und Wirtschaftsgeschäfte trennen. Amtsträger dürfen keinerlei wirtschaftliche Vorteile aus ihrem Tun ziehen. Sie düfen ihre Parteien und schon gar nicht sich selbst aus der Wirtschaft finanzieren lassen. Sie dürfen auch nach dem Ausscheiden aus dem Amt keinerlei wirtschaftlichen Nutzen aus ihrer Amtstätigkeit ziehen. Es mag hier und da Grenzfälle geben, aber was Leute wie Milbradt, Schily, Schröder, Schäuble und Co. veranstaltet haben, ist nach demokratischen Maßstäben schlicht kriminell. Wenn es dennoch de jure nicht gegen geltendes Recht verstößt, muß man das Recht anders anwenden.
Was die Wirtschaftsverbände, ihre Organisationen und Vertreter angeht, so kann man sie einfach an ihren eigenen Forderungen messen. Möglichst wenig Staat in der Wirtschaft heißt umso mehr: Keinen Einfluß der Wirtschaft auf den Staat! Das erschütternde Gegenteil ist die Praxis, und es ist unbegreiflich, daß sich gewählte Parlamentarier nicht gegen die feindliche Übernahme durch das Netz von Lobbyisten und Geldgebern erheben.
Wie gesagt: Eine Selbstreinigung ist nicht in Sicht. Dies umso mehr, als daß die “Vierte Gewalt” ein nasser Papiertiger geworden ist. Wo ist das Sturmgeschütz der Demokratie? Wo ist auch nur eine ernstzunehmende publizistische Opposition? Es ist ein Trauerspiel.