Ich habe lange nachgedacht über die Diskussion beim Spiegelfechter, bei der es u.a. um die Frage geht, ob man Chinas Vorgehen in Tibet mit “europäischen” Maßstäben messen darf. Ich stelle hiermit fest: Ich kann, ich darf, und ich muß. Um das Problem zu illustrieren, verrühre ich es mit dem Fall einer Airline, die sich auf Abschiebungen spezialisiert, vorgestellt und diskutiert bei shifting reality.
Der Spiegelfechter kritisiert zurecht die “Berichterstattung” über Tibet. Deutsche Medien üben sich in Empörung, ohne sich die Mühe zu machen, die Fakten zu sortieren und ohne zu reflektieren, mit welchem Recht man von hier aus solche Vorgänge kritisiert. Zunächst ambivalent stehe ich der Frage gegenüber, ob es sinnvoll und richtig ist, Rechtsstaatlichkeit von China einzufordern. Es macht mir dabei weniger Sorgen, ob es die Chinesen interessiert, was Europäer dazu denken, wenn Tibet abgeriegelt und dort “für Ordnung gesorgt” wird. Etwas in mir regt sich sehr stark und sagt: Das ist untragbar, und dazu schweige ich nicht.
Andererseits ist mir klar, daß es andere Maßstäbe gibt als die europäischer Demokratien, und verschämt stelle ich fest, daß “wir” dem Universalimus nicht gerecht werden, der eigentlich Grundlage der Kritik an den Machthabern in Peking ist.
Dieses Dilemma wird an zwei Phänomenen deutlich. Das eine ist selbsterklärend: Wenn die USA und ihre “Partner” einen völkerrechtswidrigen Krieg führen und “embedded Journalists” die Propaganda übernehmen, kann man schwerlich dazu schweigen und andererseits aufheulen, wenn anderswo ganz offen die Zeugen vom Ort des Geschehens entfernt werden. Das andere Phänomen ist die Bigotterie, mit der im Kern menschenverachtende Vorgänge ein “humanes” Deckmäntelchen erhalten, zumal, wenn daraus ein gutes Geschäft wird. Eine Airline, die kuschelweiche fliegende Gefängnisse baut, um die “Schüblinge” weich auf den Boden von Elend und Verfolgung zu verfrachten, ist das, was vom Humanismus übrig bleibt, wenn die Marktwirtschaft zuschlägt. Man fragt sich da tatsächlich: Ist der Schlagstock, der die Nase des Opfers zertrümmert, nicht wenigstens ehrlich?
Ist knallharte Zensur nicht sogar weniger furchtbar als ein durchorganisiertes Irrenhaus, in dem Meinungsfreiheit herrscht, aber kaum mehr jemand die Gelegenheit hat, sich eine Meinung zu bilden? Wo die Falschmeldung als “Information” gilt und Meinungsmacher davon leben, wider besseres Wissen zu “berichten”? Kann eine Kultur, die Menschenrechte “achtet”, diese einfordern, wenn sie behandelt werden wie Verwaltungsvorschriften? Wenn Menschen mit Füßen getreten werden, ist es dann noch sinnvoll, ihre “Würde” zu achten?
Solche Fragen werden in den großen Medien kaum mehr diskutiert. Es reicht aber nicht einmal, nur zu diskutieren. Blogs sind das Medium, in dem überhaupt noch gefragt wird. Hier findet Meinung noch statt, hier treffen sich noch diejenigen, die sich auseinandersetzen. Dabei ist es schon zu begrüßen, daß sich Leute in den Ring begeben, die sich kaum überzeugen lassen. Immerhin stellen sie sich und fechten. Die Stelle, an der die Diskussion aufhört, weil jeder Einzelne für sich feststellt, daß er nicht mehr mit sich verhandeln läßt, ist das Entscheidende. Ganz besonderes Gewicht erhält dabei, in guter europäischer Tradition, der Universalismus des Wahrheitsanspruchs, die Frage nach dem Tabu. Ekelerregend sind alle Relativierungen der Menschenrechte: Todesstrafe, Rassismus, Interessenspolitik, Angriffskriege und was es da sonst noch gibt. Konsequent erscheint mir daher die Bush-Doktrin. Was will ich mit einer Genfer Konvention, wenn ich Krieg führe und Krieg für mich das Ende des verfassten Rechts ist? Logisch erscheint mir auch, daß angesichts der Realpolitik des “Westens” der Universalismus der Menschenrechte, der Meinungsfreiheit und der Einhaltung internationalen Rechts aufgegeben wird. Dieser Anspruch ist aus der kulturellen Realität nicht abzuleiten.
Das war er allerdings nie. Wohin würde es aber führen, diese rettende Idee, die größte Vision menschlicher Kultur, ad acta zu legen? Wer soll diese Idee noch verteidigen, wenn Blogger, denen die Bürgerrechte Herzensangelegenheit sind, beginnen, sie zu relativieren? Daß “bürgerlich-liberal” heute heißt, den Mammon anzubeten und die herrschenden Verhätnisse zementieren zu wollen, ist kein Grund, nicht mehr für Liberalität und Bürgerrechte einzutreten. Im Gegenteil kann die Konsequenz nur sein, universal und global für bürgerliche Freiheiten einzutreten. Ich werde für meinen Teil jedenfalls nicht akzeptieren, daß davon auch nur ein Jota abgewichen wird. Egal, ob in China, in Berlin oder in irgendeinem Flugzeug über dem Mittelmeer.