Wer den Neoliberalismus ablehnt, gilt als “links” in diesem Land, und zwar als ziemlich weit links. Man gehört dann quasi schon zu denen, die Mauer und Stacheldraht befürworten und die Blutspur des Kommunismus leugnen. Und da ich also zu denen gehöre, mache ich auch gelegentlich weitergehende Gedanken, die das verflossene Reich des Bösen mit anderen Augen betrachten als denen der Abscheu und des strengen Richters.
Solcher Revanchismus triebt mich etwa zu Gedanken über Kassenbrillen. Im Osten wird man die Dinger wohl einfach “Brillen” genannt haben, die dicken Horngestelle oder sonstwie Gesichter verunzierenden Monstren von Sehhilfen, über die der Wessi schon in den 80ern nur spöttisch grinsen konnte. Das letzte DDR-Politbüro war noch zum Teil derart bebrillt, und wer erinnert sich nicht an die Sowjet-Apparatschiks, die durch einem solchen Apparat blickten?
Ich sah neulich eine Sendung über das Ende Sowjetunion, da wurden sie gezeigt, diese Opfer des Einheitsdesigns. Übrigens ein sehr lehrreicher Stoff, diese Zeit: Der Kommunistenführer Gorbatschow, ein brutaler Diktator, den der deutsche Bundeskanzler mit Göbbels verglich, ‘reformierte’ seinen Staat ganz im Sinne des Westens. Das war dann auch das Ende und der Niedergang. Die Freunde aus dem Westen haben sich nicht wirklich darum gerissen, das zu verhindern. Wen wundert es, wenn dann im Rückblick resümiert wird, die autokratischen Vorgänger Gorbatschows hätten Recht gehabt?
Die Blutspur der Kassenbrille
Zurück zur Kassenbrille: 1989 konnte man DDR-Bürger von BRDlern auf den ersten Blick unterscheiden. Es waren nicht nur die Moden verschieden, das ganze Design wies deutliche Qualitätsunterschiede auf. Der Ossi sah echt billig aus.
Das hat sich inzwischen ausgewachsen, zumal auch die Kassenbrillen nicht mehr die klobigen Träger für Glasbausteine sind, wie wir sie damals kannten. Die dünn geschliffenen Gläser oder Reparaturen am Gestell kann sich dafür heute nicht mehr jeder leisten, aber das ist ein Problem der Armut, das trifft auch viele im Westen.
Nun haben sich bekanntermaßen auch im Osten die Menschen vermehrt, und wie es die Legende sagt, hatte der Ossi an sich dabei sogar mehr Freude als der Christenmensch diesseits des Schutzwalls. Auch im Osten dürften bei der Zuchtwahl Äußerlichkeiten durchaus eine Rolle gespielt haben, aber der Blick fürs bevorzugte Geschlecht muss ein anderer gewesen sein. Wahre Lust weiß um das Gesicht hinter der Brille. Vielleicht ist da gar eine Vorfreude, die das klobigste Gestell und den fadesten Fummel zum erotischen Accessoire machen?
Wehe, wenn sie auspacken
Wenden wir uns den Errungenschaft der Gegenwart zu, finden wir eine Landschaft vor, deren Oberfläche nicht glänzender sein könnte. Wenn die Mädels sich herausputzen und die Bürschchen sich die Haare gelen, wenn Mutti sich in Schale wirft, dann stolzieren duftende Appetithäppchen zur Brunft, die schnell und sicher für den angestrebten Speichelfluss sorgen. Bei mancher dieser zurechtgemeißelten, aufgepeppten und in Form gepressten Gestalten macht man sich allerdings zurecht Sorgen: Wehe, wenn sie auspacken! Sind die Prothesen erst einmal abgelegt, bleibt oft nur der geschrumpelte Luftballon eines längst vergessenen Geburtstags.
Bildquelle: א(Aleph)/Wikimedia Commons
Die Enttäuschung ist Alltag bei den Menschen, die sich selbst zur Kulisse machen und zu Markte tragen, die sich bewerben wie alle anderen Waren, in deren Verpackung mehr investiert wird als ins Produkt. Obendrein ist das Vorbild für die Imitationen schon mit Anfang 30 nicht mehr erreichbar und zwingt zu strengster Askese, wo doch die Wonnen höchster Lust versprochen werden. Und darum eben treibt es die allermeisten zur List, zum Tarnen und Täuschen. Einzig der Triumph bleibt dabei aus, es sei denn, man versteht darunter ein Stück Miederware.
Januar 14th, 2011 at 16:35
Auweia, bei der Lektüre des Absatzes über die “Zuchtwahl im Osten” hatte ich kurz das Bild der gephotoshopten Kanzleuse im Augenwinkel, und ein ungeheuerlicher Gedanke schoss blitzesgleich durch mein Hirn: Auch mit noch soviel Spachtelmasse und Rechentechnik lässt sich die Natur nicht überlisten. Was sie nicht will, dass es sich fortpflanzt, das wird sich nicht fortpflanzen…
flatter, mein Wochenende ist damit gerettet, ich wünsche Dir dasselbe!
Herzliche Grüße ausm Osten!
Ralf
Januar 14th, 2011 at 16:57
@flatter Ich hätte das andere Foto genommen, dies hattest du schon ;-) OK, du musst deinen Kopf hinhalten, ich habe mir da mal mehr “gestalterische” Freiheit erlaubt
Ach ja, ein kleiner Hinweis auf das Fensterglas zur Neujahrsansprache hätte hier auch gut hergepasst, Mutti hatte da aber keine Hornbrille a la Dedarä mehr auf, leider :-))
@Ralf: Wenn ich nach der “Natur” gehe, dann graust mir davor, was sich fortpflanzt, optisch und geistig, letzteres nenne ich seit heute den “Homo monstrosus”
Januar 14th, 2011 at 17:42
Chapeau flatter! Schon im Titel eine Spitze, damit ist für mich der Tag gerettet.
Wie wär’s damit:
Das Design bestimmt das Bewußtsein. Könnte von Karl, nicht Marx aber Lagerfeld, sein oder dem Innenarchitekten der Chanceleuse…;-)))
Bunuels Film “Der diskrete Charme der Bourgeoisie” ist aktueller als je zuvor.
Januar 14th, 2011 at 17:51
@carlo
“Design bestimmt das Bewußtsein” zack, geklaut, Patent angemeldet. Bin mal Säcke für Geld kaufen. ;)
Januar 14th, 2011 at 18:16
“Und darum eben treibt es die allermeisten zur List, zum Tarnen und Täuschen. Einzig der Triumph bleibt dabei aus, es sei denn, man versteht darunter ein Stück Miederware.”
Wie ist das gemeint: der Triumph bleibt aus?
Es wäre mir ein Trost – aber List, Tarnung und Täuschung sind ohne Zweifel die probaten Mittel auf dem Weg zum (triumphierenden) Leistungsträger.
Und: kein anderer Triumph dürfte angestrebt worden sein; sonst würden wir (häufiger) Phänomene wie Einsicht erleben.
Januar 14th, 2011 at 18:23
Diese beiden Bildchen zeigen uns also den ästhetischen Unterschied zwischen dem heutigen Kapitalismus und dem verflossenen Real-Sozialismus.
Oben Frau Merkel als DDR-Staatsratsvorsitzende(suuuuper getroffen, .-) ), unten als deutsche Bundeskanzlerin.
Aber so gegenübergestellt…, manchmal können Bilder wirklich mehr als Worte sagen.
Aber wer oder was ist Frau Merkel nun wirklich???
Januar 14th, 2011 at 18:37
@ Bakunin:
Es steckt in beiden Fällen dasselbe drin. Nur, wie nicht selten beim Verhältnis Marktwirtschaft/Planwirtschaft, bei der Marktwirtschaft in deutlich besserer Verpackung. Aber der Inhalt ist derselbe.
Januar 14th, 2011 at 18:52
toll….das schickt mich frustriert ins partywochenende
Januar 14th, 2011 at 19:00
Lutz Hausstein meint:
Januar 14th, 2011 at 18:37
@ Bakunin:
Hätte es nicht in der DDR ein ungeschriebenes Gesetz gegeben, nachdem eine Frau niemals Partei -und Staatsratsvorsitzende werden konnte, so hätte Frau bzw. “Genossin” Merkel eine vortreffliche Nachfolgerin des Erichs abgegeben.
Das habe ich dem Bildchen auf den ersten Blick entnommen – ohne Worte! :-)
Januar 14th, 2011 at 19:13
Also nee…echt flatter.
Da les ich zwischendurch beim Silikonmischen und Botoxspritzen deinen Artikel, – und dann so was. Die Knete fürs Silikon hab ich mir schon bei der Lesebrille und der dritten Verschraubung einer Zahnbrücke abgeknapst, weil Implantate echt zu teuer sind. Du kannst einen aber auch auf den Teppich holen :-))
Januar 14th, 2011 at 19:23
-> antiferengi: Ich les’ gerade auch die Bunte. *räkel*
Januar 14th, 2011 at 19:37
@R@ainer
Quod erat demonstrantum. Spiegel ist Regenbogenpresse :-))
Januar 14th, 2011 at 19:45
-> antiferengi: Nee doch. Nachdem das Thema bei Lapuente heute ‘Boulevard’ lautet, bin ich mir nicht mehr sicher, wie ich hier was interpretieren soll.
Bald ist Karneval und wer weiß schon immer, wie die Leute aus den ehemaligen Gefilden des norddeutschen Bundes zu nehmen sind.
-> micha: Nicht traurig sein wegen den Luftballons.
-> horatio: Frag eine Frau oder haben die jungen Mädels heutzutage nix mehr drunter?
Januar 14th, 2011 at 19:58
von carlo(3):
Das Design bestimmt das Bewußtsein. Könnte von Karl, nicht Marx aber Lagerfeld, sein oder dem Innenarchitekten der Chanceleuse…;-)))
Warum hab ich jetzt eigentlich erst an Bertelsmann und dann erst an Gardinen gedacht? :D
Januar 14th, 2011 at 20:08
Feine Studie. Rettet manchem den Tag. Habe mit Brille beim zweiten Anlauf auch nicht viel mehr verstanden. Lass mal die Zone lieber sein.
Januar 14th, 2011 at 21:01
Natürlich hat die Optik, Mode, gutes Aussehen und In-Sein in der DDR eine große Rolle gespielt, besonders unter den jungen Frauen und den “Muttis”. Das war ein großes Thema, in das ziemlich viel Energie gesteckt wurde. (Vor allem, weil für die meisten die begehrte Westmode unerreichbar war.)
Das ist doch wohl global so und vollkommen zeitlos und hat ganz ganz ganz wenig mit der Staatsform zu tun.
Die Brillen waren aber ziemlich schlimm!!!
Januar 14th, 2011 at 21:29
@hmmmm… “Schönheits”-OPs, Milliardenumsätze der Kosmetikbranche, Eßstörungen, Markenterror, Jugendwahn – das hat durchaus etwas mit der Wirtschaftsform zu tun.
Januar 14th, 2011 at 21:40
@R@ainer
Nee, – ich bin nur beim
Spügel, bei der Nachbarin, die sich ob eines Bunte-Artikels überlegt ihre Möpse aufzupumpen, was sie nie bezahlen könnte, bei Flatters Satz;
Die Enttäuschung ist Alltag bei den Menschen, die sich selbst zur Kulisse machen und zu Markte tragen, die sich bewerben wie alle anderen Waren, in deren Verpackung mehr investiert wird als ins Produkt.
im Vergleich zu meinen eigenen Bewerbungsunterlagen zur Jobsuche, irgendwie zugleich hängen geblieben. Da interpretier ich jetzt mal lieber nicht :-)
Januar 15th, 2011 at 10:37
@Bakuni 6. + 9.
Was Frau Merkel ist? Mach mal einen kleinen Abstecher, ich hatte es ja oben unter (2.) erwähnt, dort findet sich ein leicht bearbeitetes Bildchen von hier und einige “liebenswerte” Texte zu Frau Merktler, Rotkäppchen und der Ferkelmutti (Blogsuche). Bitte um Nachsicht für meine Derbheit, aber ich als Betroffener fasse Verantwortliche, Verbrecher gegen die Menschlichkeit und Idioten nicht mit Samthandschuhen an und schreibe auch nicht für intellektuelle Schwerdenker
Januar 15th, 2011 at 12:46
Do Ärisch wär Stolz uff de Genossin !!
Muuuhaaahaaaaaaa so hatt die Tätäräää doch noch den Endsieg davon getragen..angeführt von der Perle der Uckermark…
IS MIR SCHLECHT …. Gottlob bin ich bei Zeiten weg :-D
Januar 15th, 2011 at 18:34
Ergänzung zu 19.
Sorry, Stichworte sind falsch, richtig wären Merkel, Mutti, Ferkel, braune, Rotkäppchen …
Januar 15th, 2011 at 21:32
Nur mal so als Zwischenruf:
Die Brillen hießen bei mir in der Familie nur SVK-Gestell; der eine oder andere Opa in der Provinz ist sogar noch mit so etwas unterwegs. Das sind die Typen mit diesen Ceauşescu-Mützen im Winter. Fast ausgestorben inzwischen…
Allerdings las ich jüngst in der Zeit, dass auch Jean Ziegler noch heute so eine Brille trägt. Siehe hier: https://www.zeit.de/2011/01/DOS-Ziegler
Januar 15th, 2011 at 21:52
Ist es sehr schlimm, wenn ich eine andere Brille trug^^
War ein goldene (ok, doch eher gut gold-angehaucht, aber immerhin) Metallbrille mit super tollen Heliomatik-Gläsern.
Kostete sage und schreibe ‘exorbitante’
DDR-Mark 160,00! ohne jede SVK-Leistung, die hatte ich mir nämlich ganz so ‘gegönnt’.
Gab es ohne Vitamin B (Beziehungen) beim ortsansässigen privaten(!) Augenoptiker – und bestimmt nicht nur wegen der Vornamen-Gleichheit und weil ich auch aus der Uckermark bin ;-)
Januar 16th, 2011 at 00:00
-> Wat.: Dünnbrettbohren steht dir nicht. Hast Du nicht nötig.
Grüße Rainer.
Januar 16th, 2011 at 00:18
@Wat.: Unerhört ist das. Hätte ich mir damals nicht leisten können. War auch nicht eben einfach, hier an die Ostmark zu kommen (Womit micht Österreich meine). :-P
Januar 16th, 2011 at 00:34
-> flatter: Ob deine Werbeattitüde wirkt?
Januar 16th, 2011 at 01:20
Wat. meint:
Januar 15th, 2011 at 21:52
“Ist es sehr schlimm, wenn ich eine andere Brille trug^^”
Wat, hey hey…, nun lassen wir mal das mit diese DDR-Hornbrillen, deine nur in Träumen besseren DDR-Brillen, diese beiden Bilder von Frau Merkel zeigen besser als alle Sophistereien, dass mit dem schnellen kompromißlosen Anschluß des Ostens Dank Helmut Kohls, seines großzügigen, aus rein menschlichen Erwägungen resultierenden Begrüßungsgeldes, der Nato, der Nato-Nachrüstung selbst eine uckermärkische typische DDR-Frau mit ursprünglich rein systembedingten eiskalten versteinerten Kim Il Sun- Gesichtszügen zu einem menschlicheren Anlitz mit freiheitlich-bundesdeutsch-westlicher menschlicher Ausstrahlung verholfen werden konnte…, nachdem es mit dem Sozialismus mit menschlichen Anlitz am Ende doch nichts wurde… (mit Leuten mit solchen Physiognomien?)
Compris? :-)
Januar 16th, 2011 at 10:43
@R@iner – muß wohl am 15. Januar gelegen haben – wollte ich mal: Hier! rufen^^
@Bakunin – wenn es Dir Deine Zeit ermöglicht, guck doch mal bitte (neu), was “Sozialismus” ist bzw. sein soll.
Danke.
Januar 16th, 2011 at 12:41
Wie gut, dass ich nicht alles verstehen muss …
Januar 16th, 2011 at 12:53
28.Wat. meint:
Januar 16th, 2011 at 10:43
@Bakunin – “wenn es Dir Deine Zeit ermöglicht, guck doch mal bitte (neu), was “Sozialismus” ist bzw. sein soll.
Danke.”
Hallo Wat, du hast doch meinen Text verstanden?
Januar 16th, 2011 at 14:11
@Bakunin # 30
du hast doch meinen Text verstanden?
Ich denke doch…
Ansonsten hab ich es mal wieder mit den Metaphern^^
Verstehen ist so eine Sache, es wird immer soweit verstanden, wie es mit den eigenen bisherigen Auffassungen und Erfahrungen korrespondiert.
PS – Das mit dem “Sozialismus” hatte ich im ernst gemeint, auch wenn es diesmal vielleicht nicht so ganz in d(eine)n Kontext paßt ;-)
So als ‘Hausaufgaben-Empfehlung’ – bist doch immer nach ‘neuen’ Ufern unterwegs…