Das können wir nicht leisten
Posted by flatter under KulturKommentare deaktiviert
30. Nov 2007 11:18
Ein T-Shirt mit dieser Aufschrift sollte jedem Lehrer zum Staatsexamen geschenkt werden. Keinen Satz höre ich in meinen häufigen Kontakten zu diesem Berufsstand so oft wie diesen. Berufsbedingt bin ich in der Sitaution, mit Lehrern kommunizieren zu müssen, wenn es Schwierigkeiten mit einem Schüler gibt. Manchmal ist es möglich, Absprachen zu treffen, die umgesetzt werden und für die nötige Ruhe sorgen. Aber wehe, wenn nicht!
Dann springt in Windeseile das ganze System in den Schützengraben und ballert aus allen Rohren. Klassenlehrer, Schulleiter, Schulräte, bis hoch zur Bezirksregierung schallt es unisono: An uns liegt es nicht, repariert den Schüler! Die Eltern, deren Meinung selten erfragt wird, werden dann gern zitiert, und zwar “die anderen”, die “sich beschweren”. Schuld ist immer der Schüler, der auffällt. Auf der Angebotsseite sieht es mithin äußerst mager aus. Der Schüler hat ein lösbares Problem, das sich in der Schule bemerkbar macht, auf das die Schule auch durchaus einen Einfluß hat. Darauf eingehen? Um Gottes Willen, ich habe 30 Schüler, das kann ich das nicht leisten. Den Spruch kenne ich im übrigen auch schon in der Variante mit “12 Schülern”, auf deren Probleme man nicht individuell eingehen könne. Aktuell habe ich einen Fall, der zeigt, wie schön es ist, zu viele Schüler zu haben: In einer Grundschulklasse mit 34 Schülern gibt es Zoff. Ich versuche u.a. zu erwirken, daß die Klasse geteilt werden kann, bemühe mich um mehr Personal für die Schule. Das trifft auf große Begeisterung: Mit Händen und Füßen wehren sich Schule und Behörden dagegen. Alles ist gut, wenn nur der störende Schüler erstmal weg ist. Selbstverständlich zu seinem Besten. Es gibt ja Sonderschulen. Daß die es oft auch “nicht leisten” können und Schüler, die durchaus Potential haben, ganz aus dem System kicken, ist der traurige Zustand ganz unten im deutschen Schuldesaster.
Da nimmt es nicht wunder, wenn jemand, der erklärt, daß es keinen Grund zum Jubel gibt angesichts neuer PISA-Statistiken, von der Meute gehetzt wird. Ist doch alles in Ordnung in Deutschland! Wenn Deutschland als Wirtschaftsmacht auf einen geschönten 13. Platz käme, hinter Estland, Liechtenstein und Südkorea, wäre der Jubel sicher nicht so groß. Aber “Wirtschaft” ist ja ein Wert. Der himmelschreinde Skandal, daß Kinder einkommensschwacher Eltern hier keine Chance haben, ist da noch gar nicht berücksichtigt. Dahinter steckt aber nicht nur soziale Selektion, sondern ein weiteres Armutszeugnis: Kinder lernen zunehmend nicht mehr in der Schule, sondern zu Hause. Der einzelne Lehrer muß sich nicht dafür schämen, daß die Zustände sind, wie sie sind. Aber jeder, der damit auch noch zufrieden ist, gehört öffentlich ausgepeitscht.
Und gleich ein Wort an diejenigen, die wieder hier und da “ganz tolle Arbeit” vorfinden: Setzt euch zwei Wochen in ein Kollegium und versucht dort, für Neuerungen und Verbesserungen zu sorgen. Wenn ihr damit nicht beim Psychiater landet, seid ihr reif für die Front.
November 30th, 2007 at 16:06
Tja, das ist die Denke, die sich einstellt, wenn von Schülern – wie in manchen Lehrplänen immer noch – als “Schülermaterial” geredet wird, das es zu “beschulen” gelte. Der Skandal öffentlich-rechtlicher Bildung in diesem Land beschränkt sich freilich nicht nur auf die Grundschulen, auch nicht auf die Kinder einkommensschwacher Eltern. Er betrifft uns alle. Die cleveren Germanen haben das natürlich auch schon lange geblickt, darum schickt, wer sich’s leisten kann, seine Kinder auch auf Privatschulen. Immerhin kennen dort nämlich die Lehrer ihre Schüler beim Namen, das ist ja schon mal was!
Was mir ein ewiges Rätsel in diesem Land bleiben wird, ist die unglaubliche Verlogenheit, die hier längst Alltag geworden ist: alle wissen, dass öffentliche Schulen nix taugen (Ausnahmen bestätigen die Regel!) – wer aber für eine Abschaffung der Schulpflicht plädiert, muss sich fragen lassen, ob’s ihm sonst noch ganz gut gehe. Alle wissen, dass das hiesige Steuer-, Renten-, Gesundheitssystem nix taugt – echte Reformen, die über die nächste Legislaturperiode reichen und also den Namen verdienen, werden in diesen Bereichen seit Jahrzehnten nicht mehr gemacht.
Über allem, seltsam entrückt, thront ein Berufsbeamten- und Abgeordnetentum, das, pensionssicher und privat krankenversichert, die anderen für sich malochen lässt; im Falle des Berufsbeamtentums auch noch mit einem – mega-unsozialen – Unkündbarkeitsprivileg versehen: da können einen die Eltern, vom Schüler ganz zu schweigen, doch wirklich mal gern haben.
Wer gegen diese Institutionen laut wird, dem wird ruck-zuck mangelnde rechtsstaatliche Gesinnung oder ein fragwürdiges Demokratieverständnis zum Vorwurf gemacht. Klar, dass sich da die meisten keine Blöße geben wollen.
Was bleibt? Ich bin inzwischen der Ansicht: wohl nur die Emigration. Ich jedenfalls lege keinen Wert darauf, dass meine Kinder in einem derart verlogenen Land aufwachsen, in dem alle sich gegenseitig verkackeiern und dabei noch glauben, etwas ganz Besonderes zu machen.
PS.: War trotzdem nett, mal was aus Deinem Berufsalltag zu erfahren.
Dezember 1st, 2007 at 00:09
Zum p.s.: Ich bin da ja eher zurückhaltend, das soll auch so bleiben. Aber wenn einem der Kragen platzt… ich könnte damit ein eigenes Blog füllen. Gut, daß da die Schweigepflicht vor ist ;-)
Der Herr Schleicher (vom Boulevard-Spiegel als “Mr. Pisa” betitelt – https://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,520712,00.html )ist übrigens auch ein Scherzkeks: “Was man nicht misst, kann man auch nicht verbessern”, meint er. Die einen verwalten, die anderen messen. Nur gut, daß keiner mal ein Kind anfaßt, ihm in die Augen schaut und fragt, wie es geht.
Dezember 1st, 2007 at 09:54
Ich bin ja gerade auf dem Weg, Lehrer zu werden und beileibe kein Freund unseres Schulsystems. Nein. Wirklich nicht.
Das Zitieren aus Studien zur Arbeitsbelastung von Lehrern spare ich mir an dieser Stelle. Das ist schon so oft durch die Medien gegangen, dass das jeder am Thema Bildung interessierte Mensch mitbekommen haben sollte.
“Schülermaterial” steht in keinem der Lehrpläne, die hier auf meinem Schreibtisch liegen. Ich kann mir das auch für die restlichen Bundesländer nicht vorstellen.
Zum Thema:
Ich habe keine Sek-I-Klasse unter 33 Schülern. Meine Stunden haben 45 Minuten. Nun kann sich jeder ausrechnen, wieviel Zeit ich für einen einzelnen Schüler pro Stunde habe – im offiziellen Unterricht! Alles andere muss irgendwie nebenher laufen. Und ich habe nicht nur eine Klasse und manche Kollegen haben über 300 Schüler – und ja: da *ist* es ein Problem, in den ersten Wochen alle Namen zu kennen, geschweige denn Hobbys, Familiensituation und Liebeskummer! Auch Lehrer sind nur Menschen. Ja: Manche Dinge sind da kaum zu leisten.
Klassen teilen? Ich kann mir kaum vorstellen, dass ein Lehrer etwas dagegen haben sollte. Warum sollte er gegen eine Verbesserung der Lern- und Arbeitsatmosphäre sprechen? Bei Schulleitungen sieht das anders aus: Die müssen dann nämlich – bei begrenzten Ressourcen – eine neue Klasse komplett mit Lehrern und Raum ausstatten. Das ist unter Umständen einfach nicht drin. Sprich: Nicht zu leisten.
Dass man es sich auch oft zu einfach macht, habe ich erst gestern wieder erlebt. Trauriges Kapitel, aber auch ich darf hier nicht plappern, wie mir der Schnabel gewachsen ist. Es gibt eklatante Probleme und unpädagogisches Verhalten an Schulen, aber manche Dinge sind unter den gegebenen Umständen wirklich kaum zu leisten.
Dezember 1st, 2007 at 10:52
“Der Herr Schleicher (vom Boulevard-Spiegel als “Mr. Pisa” betitelt – https://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,520712,00.html )ist übrigens auch ein Scherzkeks: “Was man nicht misst, kann man auch nicht verbessern”, meint er. Die einen verwalten, die anderen messen. Nur gut, daß keiner mal ein Kind anfaßt, ihm in die Augen schaut und fragt, wie es geht.”
Pisa ist nur ein Teil der Diagnose (zu der eben auch “Messen” gehören muss), aber noch nicht die Therapie.
Schleicher wird sicherlich wissen, dass Pisa nicht alles ist, sondern nur der Versuch, bestimmte Dinge international vergleichbar zu machen. Sozialwissenschaftler/Statistiker wissen um die begrenzte Aussagekraft ihrer Messinstrumente. Genau das wollte Schleicher ja auch darstellen – und wurde prompt von der Union angegriffen, die sagte, dass man dann ja Pisa gleich ganz sein lassen könne, wenn die Pisa-Ergebnisse so ungenau seien oder nur so angeblich wenig aussagekräftige Ergebnisse liefern.
Gerade jedoch der internationale Pisa-Vergleich hat ja die Diskussion über das verrückte deutsche Schulsystem erst richtig in Gang gebracht und den Blick derjenigen, die nicht von vornherein aus ideologischen Gründen ihre Augen verschlossen (wie eben genau die Unions-Fritzen) in andere Länder gelenkt und die Frage provoziert, was die erfolgreicheren Länder anders machen. Und die erfolgreicheren Länder machen es vor allem in einem Punkt anders: Sie fördern individueller, stellen also den einzelnen Schüler in den Mittelpunkt, machen also genau das, was Du oben so anschaulich und treffend als die Unmöglichkeit derzeit im deutschen Schulsystem (“Das können wir nicht leisten”) darstellst.
Dezember 1st, 2007 at 16:12
@Hokey: Das Personal wollte ich ja beschaffen, aber das hätte wohl dann so ausgesehen, daß jemand von außen die Arbeit macht, die die Schule eigentlich selber hätte tun müssen. 34:1 in einer Grunbschule ist übrigens schlicht illegal. Eine der besten Möglichkeiten, für Bewegung zu sorgen, wäre m.E. die enge Anbindung von Jugendhilfe an die Schulen. Das würde die Schule, die ich kenne, allein schon deshalb anblehnen, weil sie Bevormundung fürchtet. Außerdem drohen da pädagogische Kompetenzen, die Lehrer oft nicht haben. Anstatt davon nun zu profitieren und zu lernen, wehrt man sich halt dagegen. Hinzu kommt das unselige Kompetenzgerangel zwischen Land und Kommune und in einigen Fällen noch dem Gesundheitssystem. Sonderförderung, Eingliedrungshilfe oder Jugendhilfemaßnahme? Am besten ist immer das, was die anderen zahlen. Vom Klienten aus denkt da kaum wer, und wenn doch, findet sich einer, der auf dem Geld sitzt. In Deutschland gibt es keinen Wettbewerb um die besten Ideen und Synergien. Hier herrschen Geiz, Starrsinn und Ignoranz.