In einem auch im Ganzen interessanten Interview mit der TAZ legt Uwe Lehnert den Kern des politischen Christentums bloß:

Nach meiner Erfahrung sind die meisten Kirchgänger Traditionschristen. Sie machen mit, was sie mal gelernt haben, finden das ganz schön und sehen keinen Grund, daran etwas zu ändern. Ihr Christentum besteht aus einer allgemeinen Gottgläubigkeit und dem Wunsch, als guter Mensch zu gelten.”

kreuzschau

Dieser auf den Punkt gebrachte biedermännische Prozess der Anpassung an eine Gesellschaft ist der Kern des Konservativismus. Er versucht nicht etwa etwas zu erhalten, das er zuvor als wertvoll erkannt hat, sondern beruht auf zwei Wünschen: Ich will dazugehören und ich will, dass sich nichts grundlegend ändert.
Diese Wünsche und ihre Projektionen sind ungemein stabil, und sie vermögen sich gegen Wirklichkeit bis zur Paradoxie abzuschotten. Auch dies ist bereits im christlichen Grundgerüst angelegt:

Dieser Opfertod soll mich von meinen Sünden befreien. Das ist steinzeitliches Denken. Damals brachte man den Göttern Opfer, um sie gnädig zu stimmen, in ganz dramatischen Situationen opferte man sogar den Erstgeborenen. Heute noch so zu denken, finde ich geradezu absurd. Fällt einer allmächtigen Gottheit nichts anderes ein als eine grausame Hinrichtung, um sich mit uns zu versöhnen?

Warum sollte ihr, wenn sie damit so erfolgreich ist? Wäre der christliche Sadomasochismus wie alle anderen Produkte dieser Art nur für Erwachsense freigegeben, hätte sich diese Religion bereits erledigt. Das “steinzeitliche Denken” aber, mit seinen Drohungen, starken Reizen und Absurditäten, ist bestens dazu geeignet, Kinderpsychen zu programmieren. Allmacht und Paradoxie, das sind die Bausteine der grundlegenden Prägungen – einschließlich der traumatischen.

Steinzeitliches Denken

Was so angelegt ist, wird man nicht mehr so schnell los. Es fordert Wiederholung und Ritual, und siehe da: Alles schon fertig vorbereitet und aufgetischt. Der Leib Christi, Amen!
Längst aber sind solche Wunschkonstellationen nicht mehr auf die Kirchen angewiesen. worüber diese ja auch laut zetern. Dazugehören und sich nicht auf veränderte Realitäten einlassen müssen, dieses gemütlich-reaktionäre Weltbild wird reichlich bedient, absurd bis zur Lähmung zwar, aber immer gern genommen. “Zeitungen”, Werbung, Politiker und Lobbyisten verkaufen und versorgen uns täglich mit Formeln, die auf jede Lebenslage gleich passen. Eigentlich nämlich gar nicht, aber wer fest steht im Glauben, den ficht das nicht an.

Wer sich daher wundert, wie sehr sich scheinbar gegensätzliche Gesellschaftsentwürfe in der Realität ähneln und sich auf die Dauer immer mehr annähern, der muss zur Kenntnis nehmen, das hier archaische Kräfte im Spiel sind, die zu unterschätzen ein großer Fehler wäre. Zuallererst ist die Kränkung hinzunehmen, dass der Verstand nur ein Symptom ist und nicht Herr im Hause.

Schon Freud hat die Konstruktion der Realität als Alternative zur Halluzination beschrieben. Wohlgemerkt: Die Halluzination hat die älteren Rechte. Erst durch die Abwehr des Wunsches, um dessen Erfüllung er mit dem Traumbild ringt, entsteht der Verstand. Er ist aber Sklave des Wunsches und Instrument zu dessen Erfüllung. Die Erfindung der “Vernunft”, des sich selbst leitenden Verstandes, ist ein Hirngespinst.

Vernunft, ein Hirngespinst

Es gilt also, ein Konstrukt zu finden, das möglichst alle Instanzen bei Laune hält. Wenn der Verstand nichts mehr zu meckern hat, ohne dafür betäubt zu werden, ist ein Optimalzustand gegeben.

freudmindDas Gebilde, das die äußerst unterschiedlich motivierten Anteile der Psyche versöhnen soll, hat Max Weber “Theodizee” genannt. Darunter ist eigentlich zu verstehen, wie die Religionen es fertig bringen, allmächtige Götter mit einer oft grausamen und ungerechten Wirklichkeit in Einklang zu bringen. Aber dahinter steckt mehr als bloß eine Frage der Religionssoziologie. Es gibt für alle Gemeinschaften und Gesellschaften ein schillerndes Regelwerk, das ‘Gut’ und ‘Böse’, ‘Zugehörig’ und ‘Fremd’ festlegt. Man schöpft quasi seine Identitäten daraus. Im Grunde ist da alles verhandelbar – zum Beispiel, wer Deutscher ist oder Schalker, Christ oder Rapper, Punk oder Banker. Es muss aber für jede Gruppe und damit Identität etwas geben, was sie tun und lassen muss.

Die (christliche) Religion hat dieses Spiel zur absoluten Sinn- und Inhaltslosigkeit perfektioniert. Der Erlöser ist schon lange tot und wird nicht wiederkehren. Im Diesseits gibt es entweder keinen Lohn oder er ist umso gottgefälliger, je mehr man scheffelt ohne etwas davon zu haben. Und für beides gilt: Jeder strickt sich das so zurecht, wie es ihm passt. Gott sieht zwar alles, aber er ist unfassbar gleichgültig. Das sind inzwischen auch seine Schäfchen. Eine soziale Kontrolle findet immer weniger statt. Es gibt für alles Entschuldigungen. Die 68er waren’s.

Du Opfer!

Auf dieser Basis blüht die geilste und dümmste denkbare Paradoxie: “Denke nur an dich, dann ist allen geholfen”. Dieses Leitbild ist so denkwürdig krank und unsinnig, dass ein ungetrübter Verstand sofort Alarm schlagen würde. Aber mei, absurd war schon immer hoch im Kurs bei uns. Es ist zwar völlig spinnert, aber es schmiegt sich dem eingespielt reaktionären Grundraster hervorragend an: Die Ordnung ist per se richtig. Oben ist oben, unten ist unten, und jeder kriegt, was er verdient. Alle dürfen vom Paradies auf Erden träumen, es gibt sie wirklich, die Milliardäre. Niemandem kann ein Vorwurf gemacht werden, wenn er rücksichtslos aufwärts strebt. Schuldig, eigenverantwortlich, sind allein die Opfer. Sie leiden zurecht, womit das große Dilemma perfekt gelöst ist.

Diese Halluzination wird zusammenbrechen, weil die Wirklichkeit am Ende doch immer siegt. Zur Not entledigt sie sich gleich der ganzen Menschheit. Der Neoliberalismus wird dann vermutlich mit wehenden Fahnen und einem beherzt gegrölten “Unentschieden!” untergehen.

Wer etwas anderes will, muss sich allerdings deutlich machen, dass jede Änderung auf Widerstand stoßen wird, allein weil sie eine ist. Er wird beachten müssen, dass ihm ohne ein großes Versprechen niemand folgen wird. Wer er es ehrlich meint, muss beides schaffen: Eine neue Illusion und den Blick für die Realität. Der Konkurrenz reicht derweil die erste Hälfte.