Via Dr. Dean bin ich auf einen weitschweifigen Artikel von Klaus Merten gestoßen, der die “Lüge” ins rechte Licht zu rücken versucht und (v)erklärt, warum PR gar nicht so schlimm ist. Im Ganzen ist der Artikel langatmig, eine Melange aus kommunikationstheoretischen Versatzstücken und einem Plädoyer gegen die Wahrheit. Die Wahrhaftigkeit simulierende Aufforderung: “Die hier vorgetragenen Argumente sind mitnichten als Freigabe der Lüge, sondern statt dessen als Aufforderung zu einem bewussteren Umgang mit derselben zu verstehen” will ich wörtlich nehmen.
Tatsächlich gibt es Grenzen der Wahrheit, die nur durch Dogmatismus zu halten wären. Irgendwo wird’s relativ, und tatsächlich ist es nicht hilfreich, immer die ganze Wahrheit herauszuposaunen. Die gesellschaftskonzeptionellen Extreme von Wahrheit und Wahrheitsverzicht liegen im Einparteienstaat einerseits und in moderner PR andererseits. Das Oktoberparadebeispiel für die Dummheit der “Wahrheit” ist ihre Festlegung durch das herrschende Dogma. “Die Partei hat immer recht” – exakt das ist die Wahrheit der Realkommunisten, heute noch zu finden in Kuba und Nordkorea. Das Gute daran: Das Dogma bewegt sich nicht, es gibt also gar keine Lügen, sondern nur Verkündung und Ketzerei.
Kompliziert sind aufgeklärte Zivilisationen, in denen es einen Kampf um Erkenntnis gibt, insofern auch um Wahrheit. Liberal ist die Gesellschaft, die unterschiedlichste Modelle von Wirklichkeit frei gegeneinander antreten läßt. Um nicht zu einer psychotischen Kultur freier Lügner zu verkommen, bedarf die Konstruktion von Wirklichkeiten aber der Grenzen, die ihr im besten Fall ein sozialer Konsens setzt. Wie auch immer Wahrheit als begrenzte Wirklichkeit zustande kommt, sie ist natürlich weniger flexibel als Lüge. Lüge darf alles, Wahrheit recht wenig. Insofern ist die von Wahrheit abgekoppelte Kommunikation unschlagbar flexibel, schnell und effizient. Sie ist das perfekte Vehikel der beschleunigten Tauschwirtschaft – allerdings nur für den Täuscher und nur befristet. Fortgesetzte Täuschung nämlich führt zum Ausschluß aus dem Kreis der Tauschenden, sofern sie bemerkt wird.
Hier nun kommt PR ins Spiel. Sie ist im Idealfall die fortgesetzte Täuschung, die kein Mißtrauen erregt. Sie transportiert Inhalte frei von einer Bindung an ideelle Werte, mit denen sie freilich dennoch hantiert. Was gestern mit XY der Renner am Markt war, ist heute ohne XY der letzte Schrei im Umweltschutz. PR hat kein Gedächtnis, kein Gewissen, keine Pflicht. Sie ist das Gegenteil von Wahrheit, die wiederum an Rituale, Instanzen, Behörden, womöglich an Bürokratie gebunden ist. Das macht Wahrheit so träge und really not sexy. Der Reiz der Lüge und ihrer Professionalisierung ist also nachvollziehbar. Wer ihm erliegt, muß sich dennoch damit abfinden, daß er als Abschaum der Menschheit bespuckt und geächtet wird. Es geschieht ihm recht, und keine noch so geniale Kampagne kann das ändern.