Leistungsgesellschaft in der Krise
Posted by flatter under Hintergrund[15] Comments
29. Aug 2010 23:08
Das deutsche Bildungssystem hat sich in den vergangenen zehn Jahren radikal erneuert und bringt einen Erfolg nach dem anderen hervor. Fast jeder Schüler schafft inzwischen die Qualifikation für die Hochschulen oder ist auf dem Weg dorthin. Unabhängig von der Vorbildung der Eltern werden die Schüler vom ersten Schuljahr an so umfassend gefördert, daß die meisten mühelos Spitzenleistungen erbringen. Dies erweist sich jedoch als marktwirtschaftlich kontraproduktiv.
Auch die Universitäten sind mit großem Aufwand ausgebaut worden und können doppelt so viele Studenten aufnehmen wie noch in der vergangenen Dekade. Dennoch muß etwa die Hälfte der Bewerber abgewiesen werden. Es gibt einfach zu viele.
Auch nach dem Studium sieht es nicht sehr viel besser aus. Zwar haben wir hervorragend ausgebildete Absolventen, aber auch von denen werden kaum die Hälfte gebraucht. So hat es sich eingebürgert, daß die meisten erst nach einigen Praktika eingestellt werden. Diese sind durchweg unbezahlt.
Der Zugang zu den Hochschulen wird durch Eingangstest ergänzt, da es zu viele Bewerber mit Bestnoten gibt. In diesen Eingangstests werden u.a. soziale Kompetenzen und Einstellungen abgefragt. Dabei stellt sich häufig heraus, daß Bewerber, deren Eltern Geringverdiener sind, sich den Anforderungen an soziale und kommunikative Kompetenzen widersetzen. Häufig zeigt es sich, daß sie zwar sehr gute Leistungen erbringen, aber nicht über das notwendige Vertrauen in die soziale Marktwirtschaft verfügen. Diese ist freilich unerlässlich für die Arbeit in den angesehen und gut bezahlten Berufen.
Dieser Mangel bestätigt sich auch in hohem Maße, wenn gut ausgebildete Kräfte aus den unteren Schichten zumutbare Beschäftigungen aufnehmen sollen, die ihrer Qualifikation nicht entsprechen. Es fehlt zu oft an der Einsicht, daß auch einfache Tätigkeiten verrichtet werden müssen. Arbeiten, die nicht ihren Neigungen entsprechen oder nur geringe Einkommen erzielen, werden häufig abgelehnt. Dieser Unsitte begegnet die Bundesregierung jetzt mit einem Gesetz, daß den Bezug von Sozialhilfe ausschließt, wenn die beharrliche Weigerung nicht aufgegeben wird.
Die Bundesbildungskonferenz berät in ihren kommenden Sitzungen intensiv ein Programm, das gezielt auf die nötigen Zuarbeiten zu qualifizierten Beschäftigungen vorbereitet. Vorgesehen sind Schulformen, die auf die Vermittlung höherer Bildungsgüter verzichten. Stattdessen sollen Freude und Einsicht zur Verrichtung einfacher Arbeiten gefördert werden. Insbesondere Familien aus traditionell bescheidenen Verhältnissen erhalten hierzu einen Anreiz: Eltern, die ihre Kinder auf solchen Schulen ausbilden lassen, bekommen danach für vier Jahre einen Zuschuß in Höhe des doppelten Kindergeldes.
August 29th, 2010 at 23:46
schoene dystopie. diese mehrkosten fuer geringfuegige beschaeftigung wissen die neolibs offensichtlich nachhaltig zu vermeiden. interessante these uebrigens. glaube aber trotzdem, das es um nur die etablierung eines meudalismus geht und denke, das die weitsicht der neolibs nicht annaehernd so weit reicht wie deine.
(wenn ich dich richtig verstehe!)
August 30th, 2010 at 00:20
dabei wäre es so einfach, Menschen füe einfache Arbeit zu gewinnen. Man müsste nur die Arbeit egel welcher Art gleich bezahlen.
Einheitslohn für alle, ohne Ausnahme. Aber dann würden die Menschen ja kein Selbstwertgefühl mehr daraus schöpfen, dass sie sich für etwas besseres halten.
Ein Selbstwertgefühl aus sich selbst heraus ist eben nicht einfach, in einer Ellbogengesellschaft. In einer Gesellschaft in der nur der erste Platz zählt … wie dumm müssen Menschen sein, wenn sie glauben, nur weil ein Mensch aus ihrem Land irgendwo Erster wird, sei das etwas für das ganze Land.
Alle Räder stehen still – aber nur wenn die “Malocher” solidarisch sind. Und das wird eben verhindert. Mit TV, Rundfunk, Presse und Bildung.
August 30th, 2010 at 01:52
Hallo flatter, mit diesem Beitrag bist du ganz nahe an die Wahrheit über das heutige Bildungswesen herangekommen, warum es so organisiert ist und so zäh von allen Nutznießern dieses Systems verteidigt wird.
In der Tat, diese schon so frühe schulische”Differenzierung” ist politisch, gesellschaftlich GEWOLLT, sie gehört schon seit Kaisers Zeiten zu den “Erfolgsgeheimnissen” der deutschen Eliten zwecks Stabilisierung von deren KLASSENHERRSCHAFT über die große Masse des Volkes!
August 30th, 2010 at 09:05
Die INSM stellt mal wieder die These des Ingenieursmangels auf.
August 30th, 2010 at 11:21
So ist es! Dazu kommt, dass die Unis teilweise bestimmte Fachrichtungen ausgebaut oder wenigstens nicht abgebaut haben/bekommen.
August 30th, 2010 at 15:43
@chriwi
“mal wieder”?
Haben die zwischendurch mal Pause gemacht??
August 30th, 2010 at 16:42
wieso die aufregung? reicht doch wenn der pöbel drei kreuze unter den knebelvertrag machen kann. für dessen schulische bildung dürfte es demnächst auch genügend veteranen als zuchtmeister äääh lehrer geben. läuft doch alles rund hier
August 30th, 2010 at 17:32
Gestern – WDR 3 – Aktuelle Stunde – da hat der neue Minister (SPD) mal was passendes gesagt – 29 % der Jugendlichen haben keine Berufsausbildung, und die Ingenieure die Älter wie 50 sind, werden nicht eingestellt.
Die Antwort hat mich mal wieder gefreut, da wagt es einer mal die Wahrheit auszusprechen – auch wenn die Bundes SPD meilenweit von diesem Statement entfernt ihre Heimat gefunden hat.
August 30th, 2010 at 18:57
Die alten Griechen hatten damals noch ihre Sklaven, wir sind da heute weiter. Bei aller Automatisierung, trotz aller Haushaltsgeräte und Lebenszeitsparer stellt sich aber auch bei uns die Frage, wer denn in einer Gesellschaft der freien und gleichen Bürger am Ende die Erdbeeren pflücken soll. Die polnischen Erntehelfer, die in Großbritannien bessere Arbeit finden? Hohe Löhne fürs Erdbeerpflücken kann man bei unserem Wirtschaftssystem (und eigentlich allen anderen auch) so ziemlich vergessen. Gut vergessen lässt es sich auch, wenn das Ganze ausgelagert wird und die Leute in anderen Ländern unter erbärmlichen Bedingungen hier den Konsumreichtum der “Armen” produzieren (und dabei die dortige Natur und sich selbst vergiften). Das wäre dann sozusagen importierte Egalität bzw. organisierte Schweinerei.
Oder man organisiert das eben als deklassierte Schicht ohne Bürgerstatus im eigenen Land, so wie Erntegehelfer aus Afrika in Spanien und Italien bzw. aus Mexiko in Kalifornien, oder gar als rechtlose Bauarbeiter in Dubai oder Abu Dhabi. Gegen die (oder mit ihnen) kann man dann auch wunderbar Politik machen, denn im Gegensatz zum asiatischen Fabrikarbeiter sind diese Exemplare der Gattung “suche bessere Zukunft” auch lokal deutlich sichtbar.
Dabei: mein Großvater weiß noch davon zu berichten wie vor 80 Jahren bei uns die Knechte in den Bauernhöfen für Kost, Logis und sonntägliches Besäufnis wie die Zangsarbeiter hausten und arbeiteten. Durch den Krieg haben die etwas mehr von der Welt gesehen und die nicht eben reichen Bauern sahen ihre billigen Arbeitskräfte folglich auch oft genug nie wieder.
Insofern sind die Versuche sich da eine Unterschicht zu erhalten oder zu züchten, die ihr eigenes Los nichtmal kennt und sich ihrer aus Sicht von oben erbärmlichen Lebensumstände kaum wirklich bewusst ist, zumindest nachvollziehbar. Das ist so praktisch wie eine Frau die einem die Wäsche wäscht, das Essen kocht, nach den Kindern schaut, im Bett ihren Dienst tut und das alles ohne aufzumucken nur mit ein paar Haushaltsgroschen. Sowas hat auch der einfache Arbeiter gern. Wozu Mädchen also zur Schule schicken, wenn sie ganz ohne solche Albernheiten einmal zu derart nützlichen Eheweibern werden? Denkt nicht solche Gedanken wären ausgestorben und noch weniger sie wären auf Frauen beschränkt.
Wenn man schon die Bundeswehr braucht, um für alle Verteidungsfälle der Zukunft gewappnet zu sein (Merkel), dann sicher auch billige Arbeitskräfte, für den Fall die Waren aus Asien oder das Öl aus dem Nahen Osten sprudeln nicht mehr so kräftig. Ratet doch mal wer den Pflug ziehen müsste, wenn die Traktoren nicht mehr fahren und es an Pferden mangelt. Nur so als ein wird niemals passieren Szenario.
Das Bildungssystem schafft da dann “nützliche” Menschen, also solche die genug Bildung besitzen, um für den jeweiligen Arbeitsmarkt brauchbar zu sein, die im Gegenzug aber auch ein gerade genug ausgeprägtes Bewusstsein haben, um sich für möglichst alle anfallenden Arbeiten auch nutzen zu lassen. Für all das braucht es auch nicht mal einen Generalplan ala Deutschland 2050, es scheint eine solche Art der “Arbeitsteilung” kommt mit etwas Ignoranz und Knappheiten an Gütern wie an Geist auf ganz natürlichem Wege ins menschliche Miteinander (selbst im Sozialismus). Die feststellbaren Unterschiede sind dann die zwischen einer Agrar- und einer Industriegesellschaft, nicht jene zwischen Barbarei und Humanismus.
Die Frage ist dann höchstens wie weit die Lebensumstände der Menschen verelenden, ganz gleich in welchem Wohlstandsniveau. Das nennt man dann glaube ich Kultur.
August 30th, 2010 at 19:19
Und die Frage ist, wieviel Würde man den nützlich dumm gehaltenen noch zubilligt. Wenn man sie dann noch pauselos gängelt und beschimpft, nennt man das “Scheißkultur”.
August 30th, 2010 at 19:56
Yurun meint:
August 30th, 2010 at 18:57
“Die alten Griechen hatten damals noch ihre Sklaven,..”
Ja, und Aristoteles meinte ganz ernsthaft, der Sklave sei von Natur us ein Sklave. Einige der damaligen Sophisten widensprachen dem aber heftig.
Heute meinen Herr Sarrazin und Geistesverwandte besonders aus der Mittel-Und Oberschicht, Unterschichtler sind von Natur aus Unterschichtler….
Ist es nicht erstaunlich, wie das Denken in Klassengesellschaften, von den Begünstigten dieser Klassengesellschaften über so lange Zeiträume hinweg zu immer wieder gleichen “Resultaten” führt?
Ob nicht doch an der “Demokratie” der alten Griechen ebenso viel faul war wie an unserer heutigen “Demokratie”?
August 30th, 2010 at 20:28
Ich glaube der derzeitige Begriff in den Kreisen der dafür mit ausreichend Fachwissen versorgten, also der Punks, ist Scheißsystem. Da es sich so schön reimt gerne in Verbindung mit “weg mit dem”.
Der normale Bürger passt sich da an und macht auch noch das beschissenste System zu seinem Eigentum, denn er ahnt irgendwie wer da wohl im Zweifelsfall als erster hungert oder im Knast landet und hat davor dann doch ein wenig Angst. Die meisten Leute gehen eher an einer Kultur zu Grunde als gegen sie zu rebellieren. Das ist auch bequemer, besonders wenn der Mut fehlt. Soviel zur Leistungsbereitschaft.
Richtig interessant werden die oft versteckten Ausweichstrategien. In Japan (das da besonders extreme Arbeitsexzesse feierte) zum Beispiel die Dame-Ren und Hikikomori (beides auch bei uns ohne Begriffe und Statistik), in den USA und Europa vermehrt NEETs (Not in Education, Employment or Training), das alles meist in Verbindung mit erheblichen Unterschieden zwischen den Generationen.
Von der in Menschenform gepressten Verzweiflung und Orientierungslosigkeit, die sich gerade in die Pubertät großwächst, mal ganz zu schweigen. Vielleicht kriegen wir auch noch eine richtig ausufernde Selbstmordindustrie zustande, mit den Essstörungen klappt es ja bereits seit Jahren ganz gut. Die ZEIT schreibt derweil über die “Volkskrankheit Depression”. Das alles (noch) ohne jede wirkliche Not. Keine gute Basis für gesellschaftlichen Stillstand, soviel zumindest ist sicher.
Was lehrt einen das alles? Ein einziges Universum reicht auch ganz ohne “Viele-Welten-Interpretation” für schier unendlich viele Realitäten. Allerdings mit der einschränkenden Gemeinsamkeit, dass in allen gegessen und geschissen wird.
August 30th, 2010 at 22:06
@ Bakunin
nebenbei:
Vielleicht ja je ein Brief an die Bild und irgendein Institut für Altertumswissenschaften mit dem Titel “Auch Griechen sind Menschen!?”
Die Griechen hätten vieles was bei uns Hochkultur ist nur als Belustigung im Theater akzeptiert (den Patriotismus so als Beispiel), während es bei anderen Dingen eher umgekehrt ist (sagen wir der Göttesehrfurcht). So viel nimmt sich da nicht, allerdings haben wir heute künstliches Licht, Spülklosetts und x-mal so ergiebige Felder.
zur Sache:
In der Biologie nennt man den Effekt Analogie durch Konvergenz, also die Ähnlichkeit von Strukturen ohne eine nähere stammesgeschichtliche Verwandtschaft der Arten. Das geschieht folglich allein durch die ähnliche Funktion, die die jeweiligen Strukturen zu bewältigen haben. Deswegen schauen Grabwerkzeuge bespielsweise oft recht ähnlich aus.
Ob es so ein Modell auch in den Kulturwissenschaften gibt ist mir nicht bekannt, die Sache erscheint mir aber hinreichend trivial. Ich würde den Effekt hier sogar ergänzen: in dem Maß in dem ich eine Gruppe von Menschen als egalistische Gemeinschaft konstruieren will (oder als Gemeinschaft bestimmter Rechte), muss ich andere Gemeinschaften ebenso eine Wertigkeit verpassen, oft genug eine jenseits der Menschlichkeit. Im Land der Freien und Gleichen muss der Sklave folglich ein Nicht-Mensch sein, sonst hätte man gleich das Problem zu erklären warum der eine frei und der andere ein Sklave ist. Da hilft dann auch die Hautfarbe. Wo es nur um Unterschiede in Besitz und Privilegien zwischen Gruppen geht wirds schon diffiziler, Renner sind da Ethnie und Abstammung sowie gerne mit ihnen verknüpfte Unterschiede in Bildung, Sitte und Moral (bishin zu den Tischmanieren). Blaues Blut und Pfaffen hatten oder haben hingegen ihr jeweils ganz eigenes Universum.
Je größer die Rolle der Ideen dabei ist, desto schlimmer wird das, während es bei eher traditionellen Systemen wie sagen wir dem Kastensystem Indiens natürlicher vonstatten geht.
Es scheint in der BRD gibt es da einen gewissen kulturellen Rückstand zur Realität hinsichtlich der “Erklärung”, warum denn das Kind eines Vorstandsvorsitzenden eine wertvollere Ressource (sic) ist, als sagen wir das Kind eines Arbeiters. Ohne ein ideeles Modell scheint sowas nur schlecht erklärbar. Dieses Modell muss freilich idiotensicher sein, zum Beispiel irgendwas mit Genen oder so. Es darf aber auch nicht zu ungebildet klingen, schließlich ist man ja klüger als die Anderen (weswegen Sarrazin diesmal wohl zu weit ging). Es ist dabei schon recht albern zu welcher Art von dummdreister Selbstrechtfertigung so ein paar Privilegien führen. Irgendwie fühle ich da Steuergelder im gymnasialen Biologieunterricht verschwendet und hoffe niemand wird sich jemals politisch ernsthaft mit dem Thema Überbevölkerung auseinandersetzen.
Meine Strategie ist da einfach mir jede dieser Lichtgestalten bei der unmechaniserten Kartoffelernte in Polen vorzustellen.
August 31st, 2010 at 01:51
Hier ein interessanter Beitrag zu Sarrazin & Co. !
https://www.heise.de/tp/r4/artikel/33/33221/1.html
August 31st, 2010 at 20:18
Eurer Geschreibe frustriert mich. Das meiste so wahr und doch ohne Wirkung. Ein Gesellschaftsbrand wie der Sarrazinsche kann die Freiheit eines jeden hier anwesenden, innerhalb kürzester Zeit auf ein ungeahntes Maß reduzieren.
Wir schreiben es letztlich nur für uns. Die inhaltlichen Differenzen sind marginaler Natur. Wo liegt der Verdienst? Im Untergang zu rufen, “ich habs doch gesagt”?
Zeit sich Gehör zu verschaffen über den eigenen Saft hinaus.