Die Argumente in den Auseinandersetzungen um Themen, die man früher als “politisch” bezeichnete, werden zunehmend rustikal. Der Damm ist längst gebrochen, der in Erinnerung an Auschwitz und andere Verbrechen, die man gern schon als “Geschichte” betrachtet, die übelsten Ausfälle der Hetzer zurückhielt. Was aus guten Gründen und zum Nutzen der Zivilisiation für eine kurze Zeit tabu war, gilt wieder als Schwäche und Gutmenschentum. Herrengehabe ist auf den Plan getreten und hat mit dem rechten Handrücken die Hindernisse vom Tisch gefegt, die dem freien Spiel der Verachtung im Weg lagen.

Diverse Rassentheorien, die mit angeblichen genetischen Dispositionen spielen und sich damit unmittelbar an die pseudowissenschaftliche Rassenlehre des frühen 20. Jahrhunderts anschließen, sind en vogue, und es fallen sogar Leute darauf herein, denen ich das nicht zugetraut hätte. Im Grunde wäre der Umgang damit einfach: Es darf niemals jemand aufgrund seiner angeblichen genetischen Disposition beurteilt oder diskriminiert werden. Seltsamerweise erkennt aber kaum jemand, daß “Vererbung” und “genetisch” Begriffe aus dem Baukasten der Rassehygiene sind, sobald sie in politische Diskurse eingebracht werden.

Ein Pool minderwertiger Gene

Dabei ist es nur zu offensichtlich, und schon die Art und Weise ihrer Präsentation ist verräterisch. Ein Beispiel dafür aus dem Blog eines Kollegen, der wohl einen ganz schlechten Tag hatte und unkritisch folgendes darlegte:

Da Intelligenz zu einem Großteil vererbt werde und nur zu einem geringeren Teil erlernt werden können, ist ein verbessertes Training jener ungebildeten Schichten auch keine überzeugende Lösung, obgleich es wünschenswert ist, ihnen so viel Fähigkeiten wie möglich zu vermitteln.

Mehr Unfug und Lügen gehen kaum in so wenige Worte. Das beginnt mit dem Begriff “Intelligenz”, von dem ich persönlich gar nichts halte, der sich jeder haltbaren Definition entzieht. Zu behaupten, etwas, das nicht definierbar ist – oder völlig widersprüchliche Definitionen hervorbringt – sei “vererbbar”, ist schon abenteuerlich. Daß Intelligenz zum größeren Teil vererbt als erlernt wird, entbehrt jeder Grundlage. Und während gar nicht erst danach gefragt wird, wie sich denn der zweifelsfrei variable Teil solcher Intelligenz gestaltet – das Lernen – wird unausgesprochen behauptet, dies spiele keine Rolle. Fazit: Die Unterschicht ist ein Pool minderwertiger Gene, die mindere Intelligenz reproduziert. Das ist ebenso dumm wie ekelhaft.

Soziale Selektion

Es ist hundertfach belegt – wenn es denn noch nötig sein sollte – daß Kinder aus ärmeren Familien schlechte Bildungsschancen haben. Soziale Selektion findet in Deutschland gerade völlig unabhängig vom Potential der Kinder statt. Betrachtet man sie als Angehörige einer gesellschaftlichen Schicht, potenziert sich dieses Handicap, weil sie sozial integriert sind. Sie bewegen sich in einem sozialen Umfeld, in dem es an Bildung mangelt und Mechanismen greifen, die Bildung regulär ersetzen. Anderes ist wichtiger, das, was man eben miteinander macht und mit dem man sich identifizieren kann. Das war übrigens schon immer so.

Zwei Beispiele aus meiner Familie:
Mein Vater hätte die Möglichkeit gehabt, ein Gymnasium zu besuchen. Er wollte das aber nicht, weil alle seine Freunde die Volksschule besuchten.
Ich selbst hätte die Möglichkeit gehabt, die zweite Klasse zu überspringen, wollte dies aber auch nicht. Ich hatte mich ja gerade in eine Klasse integriert und kannte von den Älteren niemanden.
Das sind nicht wahrgenommene Chancen, die es immerhin gab. Um wieviel schlechter haben es Kinder, denen solche gar nicht erst geboten werden und die Fremde wären, denen man ansieht, daß sie bei den besser Gebildeten nichts zu suchen haben!

Organisierte Diskriminierung

Aus meiner beruflichen Praxis könnte ich Bände erzählen von begabten und hochbegabten Kindern, die aufgrund ihrer Verhaltensauffälligkeiten in Regelschulen keinen Anschluß finden konnten und auf Sonderschulen entsorgt oder ausgeschult wurden. Wer in dieser Welt von genetischen Dispositionen faselt, will Menschen aussondern und ihnen die Schuld für das Versagen einer Gesellschaftsorganisation als persönlichen unkorrigierbaren Makel anhaften.

Geht es um “Migranten”, ist das schlicht Rassismus, betrifft es die “Unterschicht”, eben Klassenkampf von oben. Allemal handelt es sich um gewollte und organisierte Diskriminierung, die sich von faschistischer Hetze nur noch dadurch unterscheidet, daß die Vernichtung der Angehörigen dieser Volksgruppen nicht gefordert wird. Ob das dann schon Faschismus ist, darf man bezweifeln, es ist aber von einer demokratischen Gesinnung noch weiter entfernt.

Der doppelte Skandal

Der Skandal der Renaissance vulgärgenetischer Diskriminierung wird flankiert vom Totalversagen eines Bildungswesens, das auf wirtschaftliche Verwertung abgestellt ist und nicht einmal diese leistet. Die dröhnenden Behauptungen der politischen Eliten, man wolle Bildungschancen verbesssern, geraten zum blanken Zynismus angesichts der Praxis an den Schulen und der demagogischen Dauerbeschuldigung der Abgehängten, denen man gleichzeitig ihre moralisch Verkommene Unwilligkeit vorwirft und ihnen die Chancenlosigkeit in die DNA einschreibt. Allein dieser kreischende Widerspruch sollte das Blaulicht kreisen lassen, der feste Wille zur Herabwürdigung betäubt aber erfolgreich Sinne und Verstand.

Die entscheidende Frage ist die, ob man eine Unterschicht etablieren will, der man keine Würde mehr zuerkennen mag oder endlich eine Revolution des Bildungswesens in Angriff nimmt, an deren Ende eine Gesellschaft ohne geborene Versager stünde. Man hätte es dann freilich mit Menschen zu tun, die nicht mehr als lethargische Paria durchs Leben schlurfen und sprachlos in ihre eigene Entwürdigung einwilligen. Sie könnten sich womöglich als undankbar erweisen und sich politisieren. Obendrein hätte man nicht weniger Arbeitslose als heute und niemanden mehr, dem man das in die Schuhe schieben kann. Ein gefährliches Spiel für die Eliten von heute.
Die Weichen sind aber längst anders gestellt, und mich beschleicht eine sehr reale Angst, daß eines Tages wieder Züge Rollen.