Jürgen Rüttgers läßt einen gehen. Zuerst fiel mir auf, daß ich das nicht aufregend finde. Als nächstes dachte ich strategisch und stellte fest, daß die Strafe für eine Affäre im Wahlkampf sich womöglich ganz von selbst einstellt. Gefolgt wurde dieser Halbgedanke von einem zerebralen Schulterzucken – andere Amtsträger haben doch deutlich mehr Dreck am Stecken. An dieser Stelle habe ich mich der schmerzhaften Prozedur des vollständigen Gehirneinschaltens unterzogen und eine formidable Vollbremsung hingelegt.
Der Versuch einer Bewertung dieses Vorgangs ist auch nach längerem Abwägen der üblichen Kriterien kläglich gescheitert. Alle relevanten Fragen führen in die Leere einer Apathie, der kaum ein Trotz mehr beikommt:
Wozu das Opfern des Bauern, der doch stets für die dicksten Kartoffeln zuständig war? Soll oder muß Rüttgers zurücktreten? Gilt es, sich über die banalen Spielarten der Korruption zu empören, von der die nämliche eine harmlose ist? Ist eine Analyse der Details angezeigt, an deren Ende man sich klüger wähnt und zu einem ausgewogenen Urteil findet, das gleichwohl nichtssagend bleibt?
Die Kategorien gehen verloren. Ob man es für einen furchtbaren Skandal hält, daß die rechte Hand des Ministerpräsidenten es völlig normal findet, denselben zu vermieten, ob man nach der Verantwortung sucht, womöglich individuelle Schuld feststellt, ob man moralische Standards anlegt oder die Kompetenz eines Regierungschefs anzweifelt, der nicht wissen will, von wem er für was bezahlt wird, es drängt sich aus jeder Perspektive ein dumpfes Unbehagen auf. Sie sind alle korrupt. So ist das eben in der Politik und ihrer Verflechtung mit dem großen Geld. Das ändert doch nichts. So schlimm ist das alles nicht. Sollte es aber sein. Was ist eigentlich noch ein Rücktrittsgrund? Wie viele Wähler werden das der CDU übelnehmen? Interessiert sie das überhaupt noch?
Nüchternes Denken scheitert. Lautstarke Empörung hat jedes Recht auf Äußerung, erscheint aber beinahe naiv. Ich weiß tatsächlich nicht, was ich davon noch halten soll.
Gut, daß andere es besser können. Putzig die Freunde schwarzer Politik ohne den gleichnamigen Humor, die es noch ein bißchen in Ordnung finden wollen:
Die “Welt” schreibt von Kontakten zur Wirtschaft, “die per [s]e ja nicht ehrenrührig sind“.
Eine hervorragende Orientierunghilfe, weist dies doch darauf hin, daß solche Kontakte längst den Mehltau darstellen, der mit “Ehre” soviel zu tun hat wie Radprofis mit “sauberem” Sport. Es ist auch per se nicht ehrenrührig, einen Tresor auszuräumen.
“Mit dem Rücktritt ihres Generalsekretärs signalisiert die nordrhein-westfälische CDU reumütig, dass sie erkannt hat, einen gravierenden Fehler begangen zu haben.”
Reue und Sühne wie wir sie von “Steuersündern” kennen. Andere erkennen hier das Minimum einer Einsicht in schiere Schadensbegrenzung. Wer das schon “reumütig” nennt, sollte vor Gericht tunlichst von seinem Recht auf Schweigen Gebrauch machen.
Der “Tagesspiegel” findet den Mut zu einem Vergleich, der die unerträgliche Doppelmoral der Leistungsträger-Gesellschaft ein wenig zurecht rückt:
“Denn während inzwischen vor allem darüber diskutiert wird, wie am unteren Ende der Gesellschaft Kontrolle und Druck erhöht werden können, scheinen in der Politik immer mehr Sicherungen durchzubrennen.”
SpOn liefert einige Zitate und Hintergrundinformationen, die darauf hinauslaufen, daß Hendrik Wüst eine Fehlbesetzung ersten Ranges war und entblößt kommentarlos die CDU als moralisch schmerzfreie Truppe von zu spät gekommenen Strategen. Norbert Lammert findet das alles “selten dämlich” und weist immerhin im Konjunktiv darauf hin, daß Rüttgers untragbar sein könnte.
Ganz selbstverständlich meint der Chefdemokrator der Union, Roland Koch:
“Ich glaube, dass er da die richtigen Antworten gegeben hat.”
Ausnahmsweise wird er von Christian Wulff souverän überholt, der sich erblödet zu erklären, es handele sich um einen “kleinen Fehler, der zu einer Affäre aufgebauscht wird” und appelliert an die Kompetenz qua Sitzfleisch:
“Da sage ich, dass wir noch viele Rücktritte erleben werden, wenn wir diese Maßstäbe weiter durchhalten.”
Um Gottes Willen, wo kämen wir hin, wenn an die Repräsentanten der Demokratie Maßstäbe angelegt würden – womöglich nachhaltig!
Das, liebe Wähler, sind die Kandidaten, die zur Wahl stehen. Und die du dir immer wieder so zurecht schminken läßt, daß sie dich doch irgendwie würdig vertreten. Und wenn einer wie ich daher kommt und eigentlich sprachlos ist, entstehen lange Artikel, an deren Ende alles Wichtige besprochen und doch nichts gesagt wurde. Bloß weil Schweigen die schlechteste aller Alternativen ist.
Februar 23rd, 2010 at 03:58
Mich wundert an diesem Vorgang vor allem, das die Union offensichtlich unwillig ist von ihrem kleinen Wunschppartner zu lernen.
Anstatt sich mit Ruecktritten/Rausschmissen ungerechter Propaganda unserer bekanntlich linksradikalen Presse auszusetzen (“Wenns ernst wird schmeisst er hin”/”Bauernopfer”) sollte man diesen Vorgang als das darstellen, was er natuerlich in Wahrheit ist:
Eine zeitgemaesse und allgemein uebliche Form der Parteienfinanzierung, die einerseits den Stauerzahler schont, weil die staatliche Parteienfinanzierung (schlimmster Realsozialismus) nicht in Anspruch genommen wird,
und andererseits die Kontakte zu den massgeblichen Entscheidungstraegern verstaerkt, was letztlich nur das Vertrauen der internationalen Kapitalmaerkte in den Wirtschaftsstandort NRW staerkt.
Ruettgers opfert sich auch hier lediglich selbstlos fuer den kleinen Arbeitnehmer auf der Strasse auf!
Februar 23rd, 2010 at 04:40
Ich bin noch nicht ganz so alt, deshalb mal eine ganz naive Frage an diejenigen hier, die auch andere Jahrzehnte bewusst miterlebt haben: War das schon immer so?
Dass man in der “ganz normalen Presse” ständig auf diese selbstverständliche Selbstbedienungsmentalität in Politik und Wirtschaft gestoßen ist und im selben Atemzug derart Menschenverachtendes öffentlich losgelassen wird, dass einem fast die Luft wegbleibt? Und dass weder das eine noch das andere jemanden großartig stört, geschweige denn einen Aufruhr auslöst (mal abgesehen von den ganzen “linken Spinnern” z.B. hier)?
Vielleicht liegt das ja auch an mir und ich bin zu sensibel, aber mir verursacht das alles seit geraumer Zeit schon ein verdammt unangenehmes Gefühl in der Magengegend…
Februar 23rd, 2010 at 07:17
ich weiß nicht mehr ob es Pispers oder Schramm war, der verlangte, dass Politiker in D ständig die Logos ihrer “Sponsoren” auf der Kleidung tragen müssen. Damit jeder weiß, wer das Mietmaul gerade bezahlt. Bestechung in der Politik ist längst hoffähig geworden, allein wenn man Westerwelles Nebeneinkommensliste (wohlgemerkt ab 7000 € können auch 50000 € p.a. sein) sieht, möchte man ausdrücklich verlangen, dass Minister und Abgeordnete keinerlei Nebeneinkommen haben dürfen und das Partei-Spenden nur noch von natürlichen Personen stammen und nicht mehr als 500 € betragen dürfen. Aber wer müßte diese Gesetze eigentlich machen…?
Februar 23rd, 2010 at 08:51
Die einzig richtigen Worte zu einem der vielen Sachverhalte, für die einem die Worte mittlerweile oft fehlen – oder im Halse steckenbleiben. Aller eventuellen Resignation zum Trotz, herzlichen Dank dafür.
Februar 23rd, 2010 at 10:50
@Amike: Guxtu Flick-Affäre, das gab es schon vor Jahrzehnten. es ist aber sicher nicht besser geworden, und ich fürchte allerdings, daß jede Scham inzwischen verloren gegangen ist.
Februar 23rd, 2010 at 11:51
Danke für den Eimer Wasser auf meinen Kopf. Ich hatte die Sache schon fast mit Lethargie abgehakt.
Februar 23rd, 2010 at 11:56
Korruption gab es immer und wird es immer geben. Früher gab es aber vielleicht mehr Anstand. Vielleicht auch mehr Verstand.
Was die Rücktrittsforderungen angeht, spricht Hr Wulf eine scheinbar zur Realität gewordene Auffassung. Denn würde es noch irgendwelche Maßstäbe geben, so wäre Dr. Westerwelle längst weg vom Fenster. So, erscheint es mir – aller anderslautenden Prognosen zum trotz – gar nicht so sicher dass die FDP – oder er selbst – Schaden nehmen wird, ausser in Umfragen, auf die es wiederum bei Wahlen nicht ankommt.
Ja. Es bleibt einem die Spucke weg. Man ist sprachlos. Die “schmerzhaften Prozedur des vollständigen Gehirneinschaltens” fällt immer schwerer, wenn es um solche Analysen geht.
Umso mehr: Danke für diese Anmerkungen!
Februar 23rd, 2010 at 12:40
Danke flatter, aber du sagst es ja selbst: jede Scham ist verlorengegangen… damals ist man ja wenigstens noch zurückgetreten, wenn man erwischt wurde.
Ich finde es einfach erschreckend, wie eine komplett zusammengekaufte Politik sich ganz selbstverständlich als Demokratie bezeichnet, während auf der anderen Seite Menschenrechte ganz selbstverständlich in aller Öffentlichkeit mit Füßen getreten werden… und zwar nicht von irgendwelchen Idioten bei der NPD, sondern von Mitgliedern der Regierungsparteien. Und dass sowas die Leute nicht stört, ich kenne kaum einen Studenten, der sich über sowas noch aufregen könnte, geschweige denn sich irgendwie engagiert, da gehts nur noch darum, irgendwie die Schäfchen ins Trockene zu bringen. Und von den Älteren und Satten ist auch nicht viel zu erwarten, von wegen “Erst das Fressen, dann die Moral”… es gibt sicherlich auch Ausnahmen, ich muss ja nur mal hier rein schauen (wenn möglich jeden Tag und sei es auch nur um mich zu überzeugen, dass es doch noch anständige Leute gibt), aber es ist schon ziemlich schlimm, dass es nur so WENIGE sind.
Februar 23rd, 2010 at 13:24
ja, ein Bauernopfer, das war sofort klar. Denn kein Untergebener wird sich trauen seinen “Boss” gegen Geld anzubieten, ohne dass der Boss davon informiert ist.
Parteispenden sind bis zu einem gewissen Betrag von der Steuer abzusetzen. Wenn aber eine “Gegenleistung” erbracht wird, so können diese Beträge als Betriebsausgaben geltend gemacht werden. Das ist meines Erachtens der Hintergrund. Mehr Geld, nicht als Spende, die auch noch zu veröffentlichen sind, sondern ein kleines Gespräch gegen Bezahlung UND Bakschischspende.
Wer gut schmiert … davon könnten doch Lambsdorf, Kohl, Koch, Westerwelle und viele andere ein Lied singen.
Brauchen wir mehr Ehrenwortpolitiker die sicher eine Badewanne finden könnten.
Nun, Gravenreuth hatte mehr Mut, seine hinterhältige Lebensweise zu beenden. Möllemann auch, wenn er denn selber ….
Sollte sich manch ein Politiker ein Beispiel dran nehmen.
Februar 23rd, 2010 at 16:15
Kürzlich wurde der Fall des Bürgermeisters der Stadt Catastroff-Wanne bekannt, der aufzeigt, wie dringlich es ist, die Rechtsunsicherheit in Sachen Präsidenten-, Minister- und Prominenzvermietung zu beenden. Sowohl die Zuordnung der Befugnisse als auch die Tarifgestaltung bedürfen spätestens jetzt der gesetzlichen Klärung.
Der Bürgermeister war in merkwürdiger Kleidung auf dem Balkon des Rathauses erschienen und begann dort in langsamen, feierlich anmutenden Bewegungen zu tanzen. Alsbald schwenkte er in mühlenähnlicher Weise die Ärmel seines Bademantels, und auf dem Rathausplatz entstand ein Auflauf. Das Stadtoberhaupt stieß nun abwechselnd Grunzlaute aus oder rief: „ Hhu, hho, hhu!“ Die Menge feuerte ihn an und viele spendeten Beifall. Schließlich verbeugte sich der Bürgermeister mehrmals, winkte und verließ den Balkon.
Nachdem die Sache eine Woche lang Stadtgespräch gewesen war, wandte sich das Volk wieder dem VfL Bochum, Dieter Bohlen, den Energie- und Butterpreisen zu, nicht ahnend, dass anderentags dieser Kostenbescheid mit Fotobeweis und Überweisungsvordruck im Briefkasten lag: 50,– Euro aufgrund der Inanspruchnahme einer besonderen Ehrerweisung seitens der höchsten Amtsperson der Stadt.
Die Aufregung legte sich erst, als der Ministerpräsident einschritt und die Kommunalaufsicht anwies, dem Bürgermeister bis zu den Wahlen rückwärtiges Rudern anzuraten.
Februar 24th, 2010 at 00:03
Ich reg mich nicht mehr auf. Ich habe schon vor einigen Jahren beschlossen, dass mich diese widerwärtigen, morallosen, abgezockten, egomanischen, Mafia-ähnlich organisierten Kriminellen nicht mehr aufregen. Ich reg mich nicht mehr auf. OK, mein Blutdruck ist grenzwertig, letztlich noch ist mir beim Nachrichten glotzen eine Ader im Auge geplatzt, und ich hab drei Tage fast nix mehr sehen können, aber ich reg mich nicht mehr auf. Die Leber ist auch schon ganz schön groß, aber ich geh einfach nicht mehr zum Arzt, allein deshalb, weil ich als Privat-Versicherter immer so unglaubliche Rechnungen bekomme. Ich reg mich einfach nicht mehr auf, auch nicht darüber, dass bei der nächsten Wahl diese Verbrecher wieder Millionen Stimmen bekommen. Ist mir egal. Ich mach meinen Job, kümmer mich um Kinder, die ich nicht selbst gezeugt habe und warte auf die letzte Fahrt im Benz. Aber gib mir nur einen Tag Zeit, dass ich weiss, ich sterbe morgen…
Westerwelle war auf einem humanistischen Gymnasium…, das kenne ich – meine damaligen Klassenkameraden haben die Botschaft auch nicht verstanden…
Was ist nur passiert? Eine satte Gesellschaft ohne Ideale, ohne Moral (oder zumindest einer Idee), ohne Menschlichkeit. Egoisiert bis zum Hartz4-Empfänger.
Gute Nacht.
Februar 24th, 2010 at 02:39
Tja, ich erwarte von Tüttgers ein Ehrenwort – und danach ab mit ihm in die Badewanne. Westerwelle dagegen ist einfach nur der verdorbenste Mensch in Deutschland. Aber auch nur knapp vor Mixa und Zollitsch.
Februar 25th, 2010 at 16:46
[...] Mathes, Kommentator auf Feynsinn [...]
März 5th, 2010 at 01:06
[...] Gabriel wettert zurecht gegen die Vermietung des Ministerpräsidenten Rüttgers. Wahlkampf hin oder her, aber man darf wohl kaum erwarten, daß er den Skandal auf sich [...]