Markus Horeld findet in seinem Artikel zum Hartz-Urteil des BVerfG bemerkenswerte Worte:

Nein, dieses Urteil fordert von der Politik vor allem eines ein: Demut. Demut vor dem Grundgesetz, Demut vor der Menschenwürde, Demut angesichts der beschämend langen fünf Jahre, in denen die jetzt kassierten Hartz-IV-Sätze Realität für Millionen Menschen waren.

So ganz falsch ist das nicht, im Gegenteil trifft es den Kern des Gegenteils der gängigen Sicht auf die Betroffenen. Es muß nicht gleich Demut sein, aber eine Abkehr von der kalten Arroganz und eine Idee davon, was es heißt, bedürftig zu sein, wäre ein guter Anfang. Aller Anfang in solchen Fragen ist übrigens immer noch Selbstkritik. Ein Wort zur Rolle der Medien wäre hier durchaus angebracht gewesen, denn es waren und sind wahrlich nicht allein “Politiker”, die jene Willkür in ihrem Tun und Urteilen haben walten lassen, die der Autor und die Verfassungsrichter zurecht beim Namen nennen.

Geselle Gnadenlos

Was ist das für eine Gesellschaft, in der nicht nur Armut verfassungswidrig gefördert wird, sondern den Betroffenen auch noch als Schande zur Last gelegt wird?
Wenn sich eine Untugend der Deutschen durch die Jahrhunderte erhalten hat, ist es die Gnadenlosigkeit, etwas Besseres sein zu wollen. Vom preußischen Militärkult über die mörderische Selektion der Nazis bis hin zur Beschimpfung der Wohlstandsverlierer hat sich das erhalten. “Wir” sind mindestens Weltmeister, und wenn das nicht klappt oder nicht reicht, suchen wir uns jemanden, der unter uns steht und den wir dafür anspucken können. Wer in der Hierarchie auf der Seite der Glücklichen oder Rücksichtslosen steht, darf sich hingegen der Zustimmung der Öffentlichkeit sicher sein – ohne Ansehen dessen, was er dafür getan hat. Jeder kriegt halt, was er verdient.

Irgend eine höhere Instanz, die das alles sanktioniert, gibt es immer. Der Kaiser, die Sekundärtugenden, der Führer, das Wachstum, die Globalisierung. Immer tun wir nur unsere Pflicht, handeln unter Zwang und können nichts dafür. Gerechtigkeit? Herzlichkeit? Solidarität? Tolle Ideale, wir kommen nur nicht dazu. Ein ander Mal vielleicht. Eine radikale Linke, die stets eine Solidarität im Hier und Jetzt als sozialdemokratischen “Verrat” erkannt hat, hat es fertiggebracht, sich in einen historischen Irrsinn hinein zu steigern, der im Stalinismus eine Orgie brutalst möglicher “Gleichheit” gefeiert hat. Sie hat sich noch immer nicht ganz davon erholt, wofür vor allem diejenigen Rechten verantwortlich sind, denen es kaum gelingt, ihre antidemokratische Gesinnung zu kaschieren. Für sie ist jeder ehrliche Linke, und sei er noch so friedlich, per se schlimmer als die Nazis. Eine durchschaubare, aber noch immer erfolgreiche Strategie. Das Ende ist immer dasselbe: Die Entsolidarisierung der Menschen.

Soziale Demokratie?

Als “Sozialdemokratisierung” wird nunmehr genau die Willkür und kontrollierte Armenhatz bezeichnet, die endlich als doppelter Verfassungsbruch geoutet wurde. Sie ist damit unbestreitbar ebenso undemokratisch wie unsozial. Damit bleibt der sozialen Demokratie, die heute so heißt, nur noch Feindschaft aus allen Lagern. Die Rechte, die “Konservativen” und die Reichen haben sie schon immer bekämpft, die Linke kann mit Recht von “Verrat” sprechen, und was die selbsternannte “Mitte” der Schröderianer von der Idee übriggelassen hat, ist eine bizarre Ruine.

Daraus gelernt wurde bis heute erbarmunsgwürdig wenig. Geht es um Politik, selbst wo sie nicht ihr Rückgrat gegen erlogene Wachstumsaussichten austauscht, wird nur nach Machtperspektiven gefragt. Bestenfalls feilscht man um ein Gericht auf der nächsten koalitionären Speisekarte zwischen dem Gammelfleisch und dem Brechmittel der Saison. Wer so arbeitet, frißt auch so. Dem Rest wird halt der Rest gegeben. Alles im Rahmen des Machbaren.

Was willst du, Mensch?

Der zynische Begriff “Bedarfsgemeinschaft”, einer unter so vielen, bringt das auf den Punkt. Die “Gemeinschaft” ist ein juristisches Vehikel, von dessen sozialer Basis nicht einmal mehr das Gerippe erkennbar ist. Der “Bedarf” ist das, was einer abkriegt. Die Bedürfnisse der Menschen haben ihren Platz gerade noch auf der Bedürfnisanstalt. Das Problem ist auf keiner der Vernunft zugänglichen Ebene ein wirtschaftliches. Es ist ein soziales. Die Erfüllung der Bedürfnisse scheitert an einer Idee des Sozialen, die erst wieder die Worte finden müßte, in denen sie einen Ausdruck fände. Hier hat der Wahn des Prestiges tabula rasa gemacht. Das Tischtuch ist zerschnitten, der Tisch wurde leergefegt, zum Altar der Eitelkeiten gemacht, privatisiert und zum Wohle des Wachstums dem Export überantwortet.

Erst kommt das Fressen, dann die Moral? Während die Unterschicht sich zu Tode frißt, stolziert das willige Fleisch der Oberschicht als Magermodel übers Buffet der Sterneköche. Kotzen müssen am Ende alle. Ist es das, was du willst, Mensch?
Keiner von uns lebt vom Brot allein. Das Fressen können wir abhaken*. Kommt jetzt die Moral? Nein, davon haben wir reichlich. Sie ist ein Katechismus der Gnadenlosigkeit. Nach dem Fressen käme eine Menschlichkeit, die wir uns durchaus leisten könnten. Können wir endlich damit anfangen?

 
*p.s.: Ich beziehe mich auf die hiesigen Verhältnisse. Daß wir auf Kosten des viel größeren Elends in der Welt leben, ist eine Erkenntnis, die ich als bekannt voraussetze.