Im folgenden ein Fundstück aus meiner Rumpelkammer. Vorsicht, extrem textlastig ;-)
„Wartezone drei A“ verbarg nichts. Was die Menschen dort erwartete, nicht wahr, schrie es einem entgegen: Hier saugen sie dir deine Zeit ab, hier bist du Nummer, namenloses Schlachtvieh. Warten ist eine der teuersten Zeitleistungen überhaupt. Aber dort hatten sie keine Ahnung, was das ist: Menschenzeit! Dort, wo die Leute gezwungen werden, ihre Zeit in Geld umzutauschen. Wo sie nicht einmal den Preis verhandeln dürfen.
Ich hatte es schon zweimal gesehen. Ich war dort gewesen, hatte ihnen Zeit vor die Füße geworfen, als hätte ich sieben Leben. Sie nahmen sie mir, als gehörte sie ihnen, als sei ich ihr Eigentum. Beim ersten Mal waren es drei Stunden, vierzehn Minuten und siebenunddreißig Sekunden gewesen – allein in der Wartezone! Dann hatte der unverschämte respektlose Mensch in diesem Büro sich vier Minuten zweiundvierzig genommen, um mich abzufertigen und mir den nächsten Termin zum Aderlaß zu geben. Meine Beschwerde wies er ab und drohte mir mit Leistungskürzung. Als könnte man da noch viel kürzen! Einen Zettel hat er mir in die Hand gedrückt, mit einer Telefonnummer und einer Adresse. Ich sollte mich dort melden und mich bewerben. Es sei leichte Arbeit, sagte dieser Mensch, und der Stundenlohn sei angemessen.
Stundenlohn! Was wußte der denn? Nichts wußte der. Menschenzeit in Stundenlohn zu messen! Diese Höhlenmenschen können zum Mond fliegen und im Wald nach Amerika telefonieren und messen Menschenzeit in Stunden! Und dann wollen sie deine Zeit haben, für ein paar Euro. Nein, sie nehmen sie dir und geben dir ein paar Silberlinge. Lassen dich warten!
Die traurigen Leute in der Wartezone machten das Warten noch teurer. Sie sprachen nicht mit einem. Zeit, die man allein verbringt, ist teuer. Einsamkeit ist teuer. Und dann einsames Warten zwischen fremden, traurigen Menschen! Was denken die sich? Warum tun sie das?
Die armen Teufel, die dort litten, machten alles noch schlimmer. Sie sahen sich nicht in die Augen, und wenn, dann feindselig. Sprachen nicht miteinander, außer, um ihre Nummer zu nennen. Eine Minute in dieser Hölle kostet mehr als tausend erfüllte Leben.
Nachdem ich also die Hölle kennengelernt hatte, habe ich Beschlüsse gefaßt. Ich beschloß, ihnen nicht meine Zeit zu schenken. Ich beschloß, mich nicht von ihnen zerstören zu lassen.
Der Mann, der nur seine Pflicht tat, dem „das alles auch leid tut“, wie er immerhin höflich vorgab, hatte mich gebeten, diese Stelle anzutreten. Das klang wie beim Bund. Der Bund ist auch so eine Zeitfreßmaschine. Wo sie steif, unnatürlich und schweigend dastehen. Zu hunderten oft, ohne sich zu berühren oder zu sprechen. Unerhört teuer! Zeit im Fleischwolf. Jedenfalls sollte ich antreten. Ich beschloß, es zu versuchen. Allein schon, um nicht mehr in die Wartezone zu müssen. Hatte mir das so zurecht gelegt, daß ich auf dem Weg zur Arbeit an den Kiosk ging. Dort mit Jörg reden, der sehr nett war und fast immer fröhlich. Jörg gab einem das Gefühl, aufzutanken. Ein Geschenk des Himmels. Ich stand also extra früh auf, daß es sogar Jörg bemerkte und einen Scherz darüber machte. Der Tag fing gut an, das tröstete mich vorab. So konnte ich also gut gerüstet zu meinem Vorarbeiter gehen und mir anschauen, was sie dort von mir wollten.
Der Anfang ist meist ganz erträglich. Man lernt jemanden kennen, sie müssen einem alles erklären und reden mit einem. Dachte ich. Aber der unsympathische Klotz von Mensch, der mich empfing, war eine Katastrophe. Guckte mich nicht an, drückte mir Gummihandschuhe in die Finger und zuckte nur mit dem Kopf. Ich sollte ihm wohl hinterher laufen. Tat ich aber nicht. Ich stand also da und wartete, daß er sich umdrehte. Das dauerte eine ganze Weile. Aus zwanzig Metern Entfernung brüllte er dann nur: „Ey, du, komm her!“ Dabei guckte er mich immerhin an. So weit hatte ich ihn. Kam ihm also entgegen und erwartete, daß er ab jetzt sprechen würde. Er aber drehte sich nur wieder um und ging voraus. So ging das noch zweimal, bis er mich anblökte: „Bist du doof, ey?“ Ich verbat mir diese Art zu sprechen, daraufhin nahm er mir die Gummihandschuhe wieder ab und ging fort. Einige sehr teure Minuten später kam dann ein Mann in einem Anzug, der mir sagte, Herr Baum hielte mich nicht „für den richtigen Mann“. Ich verkniff mir Andeutungen über zu klein geratene Äste und beschwerte mich über die Umgangsformen des Rüpels, dessen Namen ich nicht einmal erfahren hatte. Der Mann im Anzug, der seinen Namen auch nicht nannte, heuchelte Verständnis und versicherte mir, er würde mir „keine Steine in den Weg legen“, aber es sei besser, wenn ich ginge. Ich ließ mir seinen Namen sagen, um ihm dem Mann aus der Wartezone nennen zu können. Habe ihn inzwischen vergessen.
Seltsam, daß es so einfach war. Ich mußte nur darauf beharren, daß man mit mir sprach. Kam nicht einmal dazu, das auszusprechen. Wollte nur sprechen wie ein Mensch mit Menschen, und schon wollten sie mich nicht mehr. Ob sie es merkten? Hatten diese Zeitpiraten ein Gespür dafür, wen die plündern konnten und wen nicht?
Noch einmal Wartezone. Diesmal war ich besser vorbereitet. Hatte mir genau ausgerechnet, wieviel Zeit ich ihnen geben konnte. Da ich vorher bei Jörg war, konnten sie dreiundzwanzig Minuten haben, mehr war nicht zu verantworten. Ich wartete also. Es gab natürlich diese Nummern, aber wenn ich davon eine gezogen hätte, hätte ich Stunden verschwendet. Nach fünfzehn Minuten schlich ich mich also an die Tür des „Sachbearbeiters“ und wartete darauf, daß sie sich öffnete. Zwei Minuten vierundvierzig später war es soweit. Einer kam raus. Ich raunte ihm zu: „Schon klar, ich bin dran“, damit er die Nummer des nächsten nicht in den Raum rief. Ich schloß die Tür hinter mir und setzte mich.
Der Mann am Schreibtisch wollte meine Nummer sehen, aber ich überfiel ihn einfach mit meinen Unterlagen. Und mit meiner Geschichte. Ließ ihn einfach nicht zu Wort kommen, bis ich alles gesagt hatte. Eine Minute zweiunddreißig. Alles schien gut zu laufen. Der Mann hatte sogar schon meine Datei gefunden. Das machen sie ja auch. Dateien! Nicht drüber nachdenken, ich mußte raus aus dem Laden!
Dann fing der Mann an, mich zu belehren. Hatte ich ihm nicht gerade gesagt, wie das alles gewesen war? Wie man mich behandelt hatte? Daß sie nicht einmal mit mir gesprochen hatten? Hatte er auch nur einen Moment zugehört? Nein. Er meinte, ich hätte mich anders verhalten müssen. Ich! Ich fragte ihn, was ich hätte tun sollen. Wie man mit Leuten umgeht, die nicht mit einem sprechen. „Sie müssen kooperieren“, sagte er. „Das steht in der Broschüre, die Sie bekommen haben.“
Was das hieß, konnte er mir aber auch nicht erklären. Nur, daß ich „alles tun“ müsse, „damit ein Beschäftigungsverhältnis zustande kommt.“
Der Kerl wußte nicht, was er da sagte. Als nächstes kam er mir geheuchelt freundlich. Das ist das Schlimmste, wenn sie einen anlächeln. Wenn sie Verständnis lügen.
„Ich verstehe Sie ja auch“, heuchelte er, „aber sie müssen zusehen, daß Sie die vorhandenen Angebote nutzen.“
So ein Waschlappen. Was wollte der von mir? Mit wem sprach der? Der Raum um uns herum schien zu schrumpfen. Mein Kopf dröhnte.
Zu allem Überfluß kam dann noch einer rein und meinte, er hätte Nummer zweihundertsieben. Und ich hatte noch zwei Minuten zehn! Das sah schlecht aus. Ich blieb aber höflich, erklärte dem Kerl mit der Nummer, daß es nur noch zwei Minuten dauern würde, stand auf und schob ihn zurück in die Wartezone. Ich sah, daß der Schlüssel auf der Tür steckte und schloß ab.
Der Mann hinterm Schreibtisch glotzte mich äußerst verständnislos an und sagte in einem sehr unfreundlichen Ton: „Was soll das heißen? Was glauben Sie, wer Sie sind?“
„Endlich eine gute Frage“, dachte ich, da uns noch eine Minute sechsundzwanzig blieb.
„Ja, was glauben Sie denn?“ fragte ich zurück. „Denken Sie einmal darüber nach!“
Er schnaufte. Wippte in seinem Sessel herum. Starrte mich an. Vielleicht begann er tatsächlich, nachzudenken. Ich konnte ihm nicht mehr helfen. Vierundfünfzig Sekunden. Zu wenig für Erkenntnisse, die er in sicher vierzig Jahren nicht gewonnen hatte.
Das Gespräch mußte ein Ende haben. Ich bedrängte ihn: „Und was ist jetzt? Bekomme ich einen neuen Zettel? Darf ich nach Hause gehen? Wir haben noch dreiundvierzig Sekunden!“
„Wieso das? Was ist das für ein Unsinn? Wollen Sie mir jetzt Vorschriften machen?“ fragte er. Der Mann hatte nichts begriffen. Ich konnte ihm nicht die Zeit geben, alles noch einmal zu erklären. Er aber wollte tatsächlich von vorn anfangen. Ging überhaupt nicht auf mich ein.
„So geht das nicht“, sagte er, „setzten Sie sich! Setzen Sie sich!“ Wiederholte auch noch seine dumme Aufforderung. Es war zu spät. Hatte keinen Zweck. Die Zeit war abgelaufen. Ich konnte nichts erreichen. Nur für ihn konnte ich noch etwas tun. Auch, um die Zeit nicht völlig sinnlos vergeudet zu haben. Helfen ist gute Zeit. Ich mußte ihm helfen, mußte ihn warnen.
„Achten Sie auf Ihre Zeit!“ sprach ich eindringlich in sein Gesicht. Er wich zurück und stammelte nur: „Setzten Sie sich, setzen Sie sich!“
Der arme Mensch war vollkommen ahnungslos. Und hat seinen Satz noch zweimal wiederholt. Um uns herum die Wartezone. Vor ihm meine Datei. Die Zeit war so gut wie abgelaufen, und er wiederholte seine Sätze! Ich beugte mich über den Schreibtisch, packte ihn bei der Krawatte und schrie ihn an: „Achten Sie auf Ihre Zeit!“
„Setzen Sie sich“, stöhnte er.
Sein Kopf wurde ganz rot. Die Augen ganz groß.
Dann war die Zeit um. Ich ließ von ihm ab, er sackte zusammen.
Mir wurde schwindlig, so daß ich mich am Besucherstuhl abstützen mußte. Hatten sie mich so weit gebracht? Hatte ich das wirklich getan? Hatte ich eben meinen eigenen Satz wiederholt?
Ich muß dann die Tür aufgeschlossen haben, in meiner Erinnerung sehe ich mich durch Menschen hindurch rennen. Jemand schrie. Erst bei Jörg kam ich wieder zu mir.
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Februar 7th, 2010 at 23:27
Das wäre doch mal ein schöner Anlass für eine Vorlesestunde in einem voll besetzten Wartesaal.
Februar 7th, 2010 at 23:49
Yada yada, die stehlen die Zeit.
Die wissen Deine Lebenszeit nicht wert zu schätzen.
Preisfrage: Gilt dies nur für Leute, die eine Nummer ziehen müssen? Entschädigt ein gutes bis sehr gutes Gehalt dafür, über die eigene Lebenszeit in keiner Weise mehr verfügen zu dürfen? Erreichbar am Wochenende, erreichbar im Urlaub. Bei Geschäftsreisen oft 18-Stunden-Tage, nicht viel weniger im normalen Tagesgeschäft. Nette Ansprache von der Assistentin, ansonsten Ellbogen von Kollegen und völlige Verneinung der eigenen Existenz vom Scheffe.
Ja, ich weiss, Leiden auf hohem Niveau. Aber alles Leiden einfach für die eigene Kohorte reservieren gilt auch nicht.
Nächstes Mal einfach ein Buch mitnehmen?
Februar 7th, 2010 at 23:51
Ups. Klasse. Sorry, fällt mir nix besseres ein.
Februar 8th, 2010 at 00:19
@karin: Der Text ist fiktional. Derzeit bin ich noch quasi 24/7 erreichbar für berufliche Belange. Was ändert das? In der Tat: Auch den Beruf betreffend sollte das Leben lebenswert sein. Wenn wir uns das noch noch gestalten dürfen. Wäre das nicht ein besseres Ziel, als sich gegenseitig die schnöde Existenz vorzuwerfen?
Februar 9th, 2010 at 07:32
[...] Politikgeschwafel (war dann erst mal wieder mein letzter Beitrag zur Politik, isch schwör): Auf Feynsinn.org gibt es eine fiktive Kurzgeschichte zu lesen, in der die durch stundenlanges Warten auf Ereignisse [...]
Februar 9th, 2010 at 10:32
Eine sehr schöne Geschichte. Bitte mehr davon!