Aus Kabul live zugeschaltet: Die Gebrüder Grimm
Posted by flatter under JournalismusKommentare deaktiviert
28. Okt 2009 21:29
Seit mehr als acht jahren herrscht ein Krieg in Afghanistan, an dem auch deutsche Soldaten beteiligt sind. Was wissen wir inzwischen über Afghanistan? Nichts. Nein, weniger als nichts, denn was täglich in den Medien verbreitet wird, ist Verblödung pur. Egal, was dort an größerem Zischpeng geschieht, es sind immer die “Taliban”. Ich kann mich nicht erinnern, daß jemals etwas anderes gemeldet wurde als daß “die Taliban” wieder einen Angriff, Anschlag oder ein Attentat begangen hätten.
Zunächst einmal ist es ja außerst merkwürdig, daß überall sonst in der Welt zu 90% “Al Qaida” fürs Bomben verantwortlich gemacht wird. Aus Afghanistan hört man nichts vom angeblichen “Terrornetzwerk”. Es war aber ausdrücklich Sinn des Einmarsches zur “Verteidung” der NATO, Al Qaida in Afghanistan zu bekämpfen. Was aber ist aus diesem Auftrag geworden? Was aus Bin Ladens grausamen Kämpfern in Afghanistan?
Und wer genau sind nun die Taliban? Sind das einfach alle, die das korrupte Kartell um Karsai bekämpfen? Dann, und nur dann, würden die Meldungen stimmen.
Wenn aber nicht, wo sind dann die ganzen versprengten Gruppen des Bürgerkriegs und der postkommunistischen Scharmützel geblieben? Paschtunen, Tadschiken, Hasara, Usbeken – sind das alles Taliban, sobald sie eine Waffe tragen? Die diversen Clans und Bergvölker auch? Und wenn nicht, sind die dann plötzlich alle friedlich?
Welche Rolle spielt der Islam? Sind sich Sunniten und Schiiten ausgerechnet in Afghanistan in allem einig – als “Taliban”? Und keine dieser Gruppierungen erhebt sich ganz ohne religiösen Hintergrund gegen die neuen Herrscher, die mit dem Westem im Bund sind?
Oder die organisierte Kriminalität, sei es im Dienste des Krieges oder der persönlichen Bereicherung: Sind das alles friedliche Menschen, die den Mohnanbau und Opiumhandel dort besorgen? Oder auch alle Taliban?
Wie unterscheidet man überhaupt die Taliban von den Nichttaliban? Zumal nach einem Anschlag, bei dem die Beteiligten tot oder einfach wieder abgehauen sind?
Die Frage ist nicht, ob es möglich sei, daß hier mit einem völlig tumben Feindbild operiert wird. Die Frage ist, wieso alle dabei mitmachen und seit Jahren sich niemand darum schert, daß Afghanistan etwas völlig anderes ist als das, was uns täglich vorgegauhelt wird.
Wie dämlich man über dieses zerrissene und höchst komplexe “Land” schwafeln kann, exerziert einmal mehr Claus Treppenwitz Malzahn. Auch er kennt nur den heroischen Kampf “Marines gegen Taliban”, glaubt aber obendrein, Obama mit Clausewitz ausstechen zu können. Immerhin deutet der kleine Claus damit an, wie er den Krieg sieht: Als Politik mit Mitteln, die längst dazugehören – nicht mehr nur für die USA, sondern auch für die Deutschen.
Es geht ums Siegen. Allerdings gibt es derzeit die eine oder andere Schwierigkeit damit, was Malzahn auf einen Mangel an “Führung” zurückführt. Clausewitz würde das nämlich auch so sehen. Clausewitz würde, hätte und hat gesagt. Clausewitz befriedet Afghanistan.
Ein Wirrschädel wie Malzahn, der in der traurigen Medienmischpoke ein besonders verzweifelter Fall ist, hat keinen Blick für die Völker, Menschen und Kulturen der Gegend, die auf der Weltkarte als “Afghanistan” bezeichnet wird. Für solche Diksursprimaten gibt es einen Freund (Wir und unsere Kabuler Regierung) und einen Feind (Taliban, alles, was auf unsere Freunde schießt). Letzterem zwingen wir unseren Willen auf, gewinnen, und alles wird gut. Daß solche Geisteszwerge für den “Spiegel” schreiben, sei inzwischen geschenkt.
Wo aber bleiben die Nachrichten? In den Tageszeitungen, dem Fernsehen, dem Radio? Ich kann das Wort “Taliban” nicht mehr hören. Sollen sie doch “Eurasier” sagen oder “Afrikaner”, sollen sie wenigstens vorab mitteilen, wer uns das Gehirn wäscht und daß wir gefälligst zu glauben und zu denken haben, was sie dann “berichten”.
Aber verkauft mir diesen Schwachsinn nicht ständig als “Information”, so blöd war ja nicht einmal das Politbüro der DDR!
Oktober 28th, 2009 at 23:10
Kleiner Typo: dazuhegören
Es fehlt noch der Hinweis auf den CIA-Agenten und Opium-Trader Karsai.
Oktober 29th, 2009 at 03:11
In der Tat – es ist offensichtlich, dass in den Medien nahezu nirgends naheliegende Fragen gestellt (oder gar beantwortet) werden, die den Krieg in Afghanistan betreffen. Ist es den meisten Menschen einfach egal – oder merken sie wirklich nicht, dass sie wie in “1984″ dumm an der Nase herumgeführt werden?
Ich las dazu eben einen kleinen Artikel im “Ossietzky” (https://www.sopos.org/aufsaetze/4adac6e961ccd/1.phtml), der ein paar einführende Infos enthält. Ein kleiner Auszug:
“Euch muß ich nicht mehr erklären, daß unsere Mittäterschaft im Afghanistan-Krieg grundgesetz- und völkerrechtswidrig ist, verbrecherisch, mörderisch! Daß Afghanistan Schlachtopfer geopolitischer Interessen ist. Doch die werden in der Öffentlichkeit selten benannt. Und nie wird erwähnt, welchen Nutzen unsere Rüstungsindustrie aus dem Krieg zieht. Darüber lesen wir in unserem regionalen Monopolblatt, den Lübecker Nachrichten, so wenig wie in der Bild-Zeitung, und auch ARD-Tagesschau und ZDF-heute schweigen darüber.”
Wer sich indes ein umfassenderes Bild von diesem Krieg machen möchte, dem sei das Dossier “Afghanistan” der AG Friedensforschung der Uni Kassel empfohlen, zu finden hier: https://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/Afghanistan/Welcome.html
Oktober 29th, 2009 at 03:16
Damit der erste Link auch funktioniert, bitte die Klammer weglassen:
https://www.sopos.org/aufsaetze/4adac6e961ccd/1.phtml
Oktober 29th, 2009 at 03:59
superguppi: D_E_R Karsai? Das dürfte knifflig werden, dann wäre er ja beim selben Verein wie der Osama.
Oktober 29th, 2009 at 07:38
Danke für die berechtigten Fragen feynsinn.
Komisch ist, dass man sehr blöd angesehen wird, wenn man diese oder ähnliche Fragen öffentlich stellt. So als hätte man keine Ahnung wovon man redet. Alle schreien nach Bildung, aber gerade die gebildetsten unserer Gesellschaft sind auf allen Augen blind, welche ihnen zeigen könnten das ihr kleiner Wohlstand zusammenbrechen könnte. Ich hatte mich in der Schule oft gefragt wie es ab 1933 abgelaufen sein kann. Warum sich keiner beschwert hat. Wie man so blind sein konnte. So langsam verstehe ich es.
Oktober 29th, 2009 at 09:08
@ chriwi
“…aber gerade die gebildetsten unserer Gesellschaft sind auf allen Augen blind, …”
Die “Gebildetsten” werden auf den Unis indoktriniert und auf Kurs gebracht, und die, die sich für “gebildet” halten, tun das aus der Erkenntnis heraus, daß sie bei Günther Jauch “abräumen” könnten, das BILD-Zeitungs-Kreuzworträtsel “fast komplett” lösen, und des Spanischen insoweit mächtig sind, am Ballermann einen Eimer bestellen zu können (wahrscheinlich geht DAS sogar noch auf “deutsh”). Und dann gehen sie daher und wählen CDU und FDP, weil sie ja zur “Elite dazugehören”.
Solange die Straßen nicht regelmäßig gefüllt sind (wie weiland in Leipzig), solange wird sich auch nichts ändern. Die Medien, inclusive der Öffentlich-rechtlichen, sind spätestens seit 9/11 gleichgeschaltet.
Oktober 29th, 2009 at 09:19
Unter Obama wagen nun wohl auch mehr und mehr US-Amerikaner, zu sagen, was sie dazu denken, und entsprechend zu handeln, wie Matthew Hoh: https://tiny.cc/RacY7 (huffingtonpost).
Grüße,
KL
Oktober 29th, 2009 at 09:24
Ganz so einfach, wie es ein schlicht gestricktes pazifistisches Weltbild gern hätte, ist es ja nicht, selbst wenn ich den Krieg in Afghanistan, so wie er geführt wird, für eine hanebüchene Katastrophe halte. Der größte Fehler war es, sich damals überhaupt mit den ‘Warlords’ zwecks Staatsaufbau einzulassen, der zweite, den Aufbau einer inländischen Polizei, einer Justiz und Armee sträflich zu vernachlässigen. Die eigentliche ‘Ursünde’ aber – das war das Engagement mit Hilfe von glaubenskriegerischen ‘Stellvertretertruppen’ gegen die Sowjets, initiiert durch Ronald Reagan, Gott habe ihn selig.
Seither kämpft dort eine ‘Legion Condor’ des Islamismus an der Seite wechselnder Verbündeter, die uns zunächst als Freiheitskämpfer galten, heute als Terroristen. Auf diesem Mist sind auch die Taliban gewachsen. Es sind ‘Freikorps’ mit Gebetskette, die nichts anderes außer Soldatsein gelernt haben. Das nur am Rande.
Der fortdauernde Kampf in den gebirgigen östlichen Grenzgebieten – immer von Afghanistan aus gesehen – ist längst ein veritabler Bürgerkrieg, ein grenzüberschreitender dazu, der nicht auf Afghanistan beschränkt ist – und der auch keineswegs nur ‘vom Westen’ geführt wird. Ohne Bundeswehr ginge es dort weiterhin ‘zur Sache’, nur dass Soldaten anderer Nationalität sterben würden. Bekanntlich kämpft zum Beispiel gerade die pakistanische Armee am Hindukusch, die jahrelang über den Geheimdienst ISI diese ‘Freiheitskrieger’ unterstützte. Spätestens seit dem Sturm auf die ‘rote Moschee’ ist das anders – und derzeit marschiert sie sogar auf drängende Bitten der Stammesältesten in Waziristan und umzu in die autonomen Gebiete ein, die zuvor für sie tabu waren. Denn die traditionellen Stammesstrukturen wurden und werden ja gerade von den Taliban und von den ‘Arabern’ zerschlagen (gemeint sind damit im Sprachgebrauch der Region die fundamentalistischen Kämpfer mit Migrationshintergrund) – das sind ja keine Traditionalisten, die wollen einen ‘neuen Islam’ einführen. Ganze Sippen der bisherigen Stammesältesten wurden und werden von den Taliban systematisch hingerichtet und ausgelöscht. In Kaschmir, Turkmenistan etc. geht es ähnlich zu. So ist es eben in allen klerikofaschistischen Systemen, dort, wo man Kinder jahrelang Koranverse nachplärren lässt, damit sie außer Lügen über Himmelreich und Märtyrertum möglichst nichts im Kopf haben sollen, schon gar kein eigenes Denken.
Zwar könnten die westlichen Truppen jederzeit aus Afghanistan abziehen, aber eben nur um den Preis eines jahrelangen noch blutigeren Bürgerkrieg-Gemetzels in der gesamten Region zwischen Kabul, Taschkent und Lahore. Wer will das schon? Trotzdem sollten wir natürlich verstärkt Aufklärung statt Soldaten in die Region transportieren. Schlagt den Taliban nicht nur die Waffen aus der Hand, sondern vor allem anderen erst einmal die Schulen. Das wissen sie übrigens sehr genau, nichts wird so häufig angegriffen wie die Schulen …
Ein letztes Wort zu den ‘Rohstoffinteressen’, die immer wieder in den Diskussionen auftauchen. Afghanistan hat – außer Opium – an Rohstoffen nur wenig zu bieten. Diese sagenhafte Pipeline für das mittelasiatische Gas und Öl, ein 80er-Jahre-Projekt, von dem immer mal wieder die Rede ist, die ist längst durch konkrete Projekte ersetzt, die übers Kaspische Meer führen. Das strategische Interesse des Westens besteht vor allem darin, keine pakistanischen Atomwaffen in die Hände von fundamentalistischen Knallchargen fallen zu lassen.
Aber ihr dürft das gern weiterhin anders sehen.
Oktober 29th, 2009 at 10:45
@Chat Atkins: warum kassierst du wieder die Differenzierungen ein, die ich erst einführen will?
Du gehst leider auf keine Frage aus dem Beitrag ein und unterstellst “uns” einen Pazifismus. Wer sind eigentlich “wir”? Ist jeder, der gegen Krieg ist, ein “Pazifist”? Und was hat das mit der eindimensionalen Berichterstattung zu tun?
Ich weise übrigens noch einen weiteren Aspekt hin, der selten in Betracht gerät:
Erst wenn endlich die Besatzer einmal ein paar jahre Ruhe geben, haben die als “Taliban” firmierenden Warlords die Gelegenheit, sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen und diejenigen, die solche Herrscher nicht wollen, die Gelegenheit, sich zu erheben. Stattdessen liefert der Westen (und zwischendurch die Russen) Waffen und Infrastruktur, um den Krieg zu perpetuieren. Der Krieg wäre sonst längst verhungert.
Ich habe noch nie eine derart schwache Argumentation von dir gelesen – und ich lese gern und viel dir.
Oktober 29th, 2009 at 11:19
Die ‘Taliban’ und die ‘Warlords’ sind nicht dasselbe: Man könnte sogar sagen, dass die Taliban eine Reaktion auf die korrupten Warlords damals waren. ‘Missionarische Krieger’ waren sie anfänglich, ein ‘religiöser Orden der strikten Observanz’. Inzwischen geben sie sich an ‘Korruptivität’ nichts mehr nach …
Den Ausdruck ‘ihr’ benutzte ich nur wegen eines gewissen Gleichklangs bei dir in den Kommentaren. Beim Pazifismus besitze ich eine differenzierte Haltung – es gibt dort solch einen und solch einen. Einem von beiden fühle auch ich mich zugehörig. In den Worten von Alfred Döblin: “Ich bin genötigt, gegen einige Leute zu polemisieren, die von Pazifismus reden, ohne ihn zu verstehen. Friedliche Gedanken werden seit Jahren planmäßig lächerlich gemacht durch pathetische Lobredner eines Dinges, das sie Pazifismus nennen. Sie erleben mit eine ungeheure Umwälzung in der Welt und glauben, daran mit Harfeschlagen teilnehmen zu müssen. Teilnehmen zu können. / Man darf nicht Pazifismus als einzig maßgebendes Prinzip der Politik aufstellen wollen. Läßt man faule und Spannungszustände aus vermeintlichem Pazifismus auf sich beruhen, lehnt man ihre Auseinandersetzung ab, so führt man das Prinzip ad absurdum. Man kann dem Menschen nicht verbieten, auf Zustände um sich zu reagieren, da sein Leben selbst die Funktion dieser Zustände ist. Es ist nicht richtig, daß die Schlafmütze das Symbol des Pazifismus ist. Es wird erstrebt, den notwendigen Kampf des Lebendigen zu regulieren. Der Pazifismus tut nichts, als dies Ziel der Regulation aufstellen, konkrete Methoden zur Verwirklichung des Ziels erdenken und zur Diskussion stellen.”
Oktober 29th, 2009 at 11:40
nein, dasselbe snd sie nicht. Aber so wie Taliban-Führer auch Warlords sind, dürften Warlords eine heuchlerische Allianz mit dem Islam eingehen, wenn es ihnen zupaß kommt, das war im Christentum bis zum Absolutismus ja auch nicht anders. Vor allem wird ja diese Unterscheidung hier gar nicht mehr gemacht – und erzähle mir jetzt keiner, es gebe keine Warlords und Drogenbarone mehr.
Oktober 29th, 2009 at 12:13
hier ein Kommentar von Jean Ziegler
Oktober 29th, 2009 at 16:26
Interessante Einblicke liefert mE Christoph Hörstel, da er dort unten auch schon seit mehreren Jahren unterwegs ist. Ich glaube allerdings sein Wissen über den Krieg dort sprengt unser aller Weltbild:
https://www.youtube.com/watch?v=1wXqdhJrSXo
Oktober 30th, 2009 at 05:00
@11 flatter
Das braucht Dir hier keiner zu erzaehlen.
Das wird Gutti sehr bald tun…
Oktober 30th, 2009 at 13:16
Da geht er hin, Jean Zieglers Hoffungsschimmer
https://www.jungewelt.de/2009/10-30/026.php
Oktober 30th, 2009 at 19:43
Bei Zeit.de gibt es ein paar Klickiklicki-Videos eines Gesprächs von Scholl-Latour mit Helmut Schmidt. Schmidt sagt darin (es geht um Besatzer Afghanistans seit 2300 Jahren):
“Zum Beispiel Alexander der Große. Der war der Klügste. Der ist rein in Afghanistan und gleich übern Kaiber-Paß wieder raus.”
November 3rd, 2009 at 20:17
[...] Verfasst von stefanprass am 3. November 2009 Aus Kabul live zugeschaltet: Die Gebrüder Grimm [...]