Sigmar Gabriel ist das Beste, was der SPD derzeit passieren kann. Wenn er passiert. Denn es ist interessant, daß die ARD in Tagesschau und Rundfunksendungen einen guten und kritischen Kommentar verbreitet, Gabriel aber unentwegt den “künftigen Vorsitzenden” nennt. Nicht einmal “designiert”, geschweige denn “Kandidat”. Dabei hat der Künfitge selbst schon darauf aufmerksam gemacht, daß er ja immerhin noch gewählt werden müsse und es auch andere Kanditaten geben kann.

sigmar gabriel

Quelle: Wikimedia Commons / Agência Brasil

Das Optimum für die SPD -warum? Ich kenne einige wenige Sozialdemokraten, die ich für charakterstark und vertrauenswürdig halte, aber diese sind nicht präsidiabel. Nicht nur, weil der eine oder andere es nicht könnte, sondern auch, weil man sich klar machen muß, daß der neue Vorsitzende ein Funktionär sein wird, der Feinde haben wird. Er muß stark sein, gefürchtet vielleicht, man muß ihm zutrauen, daß er überall Gewährsleute hat und man ihn auch hinterrücks nicht so einfach aus dem Weg räumen kann. Wie schon beschrieben, hat Gabriel mit allen und jedem gemauschelt, ist dabei auch reichlich angeeckt, war aber ein “Netzwerker” im Wortsinne: Er ging überall ein und aus, mit ihm mußte jederzeit gerechnet werden. Dies ist eine Säule seiner innerparteilichen Macht.

Eine weitere ist seine Unersetzlichkeit auf der Bühne. Er ist mit Abstand der begabteste Rhetoriker unter den prominenten SPDlern. Es gibt nicht viele, die überhaupt in Worte fassen könnten, was derzeit sinnvoll zu tun ist. Gabriel hat es einfach getan.
Und damit seine dritte Säule errichtet: Er ist der Tribun der Frustrierten, Mann eins nach “Weiter-so”, das nicht ganz zufällig in engster phonetischer Nähe zu “Waterloo” liegt. Mut oder Machtwille, manchmal ist das einfach dasselbe, und als mutiger Machtmensch hat er mit wenigen Worten die Partei hinter sich gebracht.

Viertens gibt er den Verdrossenen Hoffnung. Ein kleiner Anti-Obama, der ähnliche Wirkung zeitigt, von dem man allerdings nach Jahren windiger Karrierekreuzfahrten auch etwas mehr Integrität erwartet. Daß Macht korrumpiert, man jedenfalls Ideale nicht einfach per Dekret verwirklichen kann, erfährt die Welt in Gestalt des US-Präsidenten. Gabriels Ideale sind weitgehend unbekannt. Vielleicht hat er ja welche.

In Zugzwang ist er allemal. Was er mit seinem Brief an die Leser angestoßen hat, ist nicht weniger als ein scharfer Schnitt durch das Selbstverständnis “sozialdemokratischer” Parteifunktionalität, verbunden mit einem Aufruf zur Basisdemokratie. Sollte sich das als leeres Wort und Mittel zum Zweck erweisen, es wäre eine Torpedosalve auf ein sinkendes Schiff. Anderenfalls hat die SPD eine echte und letzte Chance. Nicht mehr und nicht weniger.