Dass Kapitalismus, vor allem in seiner neoliberalen Ausprägung, religiöse Züge trägt, ist nichts Neues. Damit verbunden ist aber etwas noch Wichtigeres, nämlich die Erzählung, die dahinter steht. Es gibt einen schönen Begriff, der für wissenschaftsferne Menschen vielleicht abschreckend klingt, den man sich aber einprägen sollte: Das “Narrativ”, was eigentlich nichts anderes bedeutet als “Erzählung”. Es handelt sich dabei um die herrschende, die gängige Erzählung von den Dingen und wie sie angeblich seien. Wer zu weit davon abweicht, dringt nicht durch.

Als Jesus einmal schwer betrunken und bekifft aus dem Bordell kam, war er so high, dass er auf der Straße einen Penner zusammentrat. Zwar entschuldigte er sich am nächsten Tag, warnte aber seine Jünger davor, sich im Rotlichtviertel auf die Straße zu legen. Das sei einfach dämlich. Dann bestieg er ein Taxi.

Stimmt ja gar nicht

Der Passus geht nicht in die Bibel, und selbst wenn irgendwer auf eine Quelle stieße, die diese Geschichte bestätigte, sie würde niemals in die Erzählung der christlichen Religion aufgenommen. Jedenfalls so lange nicht, wie die Kirchen noch einen Einfluss auf die Verwaltung der Geschichte ihres Gesalbten haben. Im Gegenteil gelingt es ihnen seit Jahrtausenden, ihren ausdrücklich als Schäfchen titulierten Anhängern weiszumachen, die (später heilige) Hure (“Sünderin”) Maria Magdalena habe vor Jesus gekniet, um ihm die Füße zu waschen. In jedem anderen Kontext taugt diese Darstellung nur zum Witz.

Kapitalismus als Narrativ hat die Beziehungen rund um Ware und Profit in eine Erzählstruktur eingewoben, die das, was Marx noch als “Fetisch” bezeichnet hat, längst als Naturgesetz erscheinen lässt. Der Klassiker: “Arbeitgeber” geben “”Arbeitnehmern” die Arbeit; letztere müssten also dankbar sein, weil die guten Eigentümer ihrem Leben einen Sinn geben. Dieses muss man sich schließlich “verdienen”, genau wie das Geld, das die “Arbeitgeber” ihrerseits für ihre “Verantwortung” bekommen und ihr “Risiko”. Ganz gleich welchen dieser Erzählstränge man analysiert, es kommt in der Wirklichkeit stets das Gegenteil dessen heraus, was das Narrativ behauptet. Allein: Es fehlen schon die Worte dazu. Ein “Arbeitgeber” nimmt doch nichts und sein “Arbeitnehmer” kann ihm nichts geben, per definitionem eben.

Das Narrativ steht natürlich in enger Beziehung zur Propaganda, aber es ist nicht dasselbe. Schon die oben genannten Beispiele zeigen, dass sich in der großen Erzählung die Darstellungen eingeschliffen haben – es sind ja die “Arbeitnehmer” selbst, die sich mit ihrer Rolle identifizieren, die vom “verdienen” reden und inmitten einer organisierten Enteignung der Massen so tun, als sei Eigentum das Resultat von Arbeit. Es sind die Arbeiter, die sich mit Händen und Füßen dagegen wehren, als Aufrührer, “Kommunisten”, “Sozialisten”, “Marxisten” oder Schlimmeres zu gelten, die niemals “destruktiv” sein wollen, egal mit welcher Brutalität ihresgleichen behandelt wird.

Risse im Kitt

Andauernde Propaganda gestaltet das Narrativ, hat längst dafür gesorgt, dass Begriffe wie “Kapitalisten”, “Profite” und “Ausbeutung” tabuisiert wurden. Es werden “Gewinne” gemacht von “Unternehmern”, und das ist natürlich “sozial”. Es werden absurde Erzählstränge aufgebaut wie zum Beispiel das “Trickle down”, also die Behauptung, wenn die Reichen reicher würden, fiele für alle etwas davon ab. Dieser Akt der Propaganda verfängt freilich bislang nur bei den Idioten der “Tea-Party” in den USA. Interessanterweise führt aber ausgerechnet die Propaganda wieder die Fäden zusammen, die sie eigentlich getrennt haben will, weil sie sich nicht in ein Narrativ einpassen lassen:

So ist es der “Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft” (INSM) zu verdanken, dass die Trennung von “Kapitalismus” und “Marktwirtschaft” wieder aufgehoben wird und hinter der Fassade der wahre Kern zum Vorschein kommt. Während eifrige Verfechter einer sogenannten “Marktwirtschaft” (nicht zuletzt Sozialdemokraten) versuchen, Kapitalismus einen hübschen Anstrich zu geben und sie gegen die bösartige Verlaufsform “Neoliberalismus” abzugrenzen, gehen ausgerechnet die knallharten Neolibs hin und nennen ihre Konzepte trotzig “soziale Marktwirtschaft”. Es sind diese Risse durch Narrativ und Propaganda, in die man Wasser gießen kann, um die Fassade aufzubrechen. Dazu muss man sich traurigerweise allerdings zuerst mit denen anlegen, die sich für die Freunde der “Arbeitnehmer” halten.