Im folgenden ein Fragment zur Lage der Wirtschaftsnation, inspiriert u.a. durch die Diskussion zu einem Artikel vom Spiegelfechter. Ich beabsichtige, das Thema fortzusetzen.

Die geltende Doktrin des Lambsdorff-Papiers, die ich gemeinhin “Neoliberalismus” nenne, wird oft auch “marktradikal” genannt. Tatsächlich ist sie es nicht, weil sie nämlich in bezug auf die Löhne geradezu planwirtschaftlich aufgestellt ist. Zwar mögen ihre Vertreter keinen Zehnjahresplan oder absoluten Höchstlohn aufstellen, aber sie ziehen sämtliche Register und bieten alle Maßnahmen auf, um die Löhne niedrig zu halten. Daß das Zentralkomittee der Neoliberalen (INSM) ausgerechnet “Soziale” Marktwirtschaft im Munde führt, ist purer Zwiesprech. Relativ ehrlich dagegen schon ihr Propagandamotto: “Sozial ist, was Arbeit schafft”, schränkt es doch drastisch den Begriff des “Sozialen” ein.

Dem von Neoliberalen völlig überzeichneten “Problem” von Arbeitslosen, die gar nicht arbeiten wollten, kommt in dieser Absicht eine zentrale Rolle zu. Um Löhne nämlich im Dienste der Ideologie (und weder im Dienste der Volkswirtschaft noch der Martkwirtschaft) niedrig zu halten, werden potentielle Arbeitnehmer in die Zange genommen. Da nicht alle Erwerbstätigen beschäftigt werden können, muß es Sozialleistungen geben für diejenigen, die eben keinen Erwerb haben. Es sei denn, man wollte eine wütende Unterschicht, die von allem abgehängt wird, was die Gesellschaft trägt. Daraus ergibt sich logisch, daß Menschen nicht unbedingt arbeiten müssen. Neoliberale wollen sie dennoch dazu zwingen, ganz gleich, ob es Beschäftigung für sie gibt oder nicht. Daß sie aber freiwillig arbeiten, weil es sich einfach lohnt, soll auch verhindert werden. Dies ist der Kern des Kampfes gegen Mindestlöhne.

Gibt es aber in weiten Bereichen keine Mindestlöhne und werden Menschen gleichzeitig zu Arbeit gezwungen, von der sie sprichtwörtlich nichts haben, wird die Position arbeitender Menschen so weit geschwächt, daß von “Arbeitsmarkt” nicht mehr die Rede sein kann. Hier ist der Neoliberalismus das Gegenteil von marktradikal.
Könnten Arbeitnehmer nämlich Löhne aushandeln, müßte man ihnen so viel für eine Beschäftigung bieten, daß sie bereit sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen.

Jegliche Ware, die nach dem Prinzip von “Angebot und Nachfrage” vermarktet wird, ist dem staatlichen Preisdiktat entzogen. Bei der Arbeitskraft soll das nicht so sein. Werden die Aktionäre einer Bank ohne jeden Wert, die gnädig vom Staat gekauft wird, enteignet, so gibt es einen Zwergenaufstand, weil die Entschädigung nicht hoch genug sei. Sagen aber Menschen: “Ich arbeite nicht für einen Hungerlohn”, so gilt es als ganz selbstverständlich, daß man sie dazu zwingt. Ein Mensch, der ohnehin keine Chance hat, je zu auch nur bescheidenem Wohlstand zu kommen, darf nicht sagen: “Dann bin ich lieber pleite und lebe vom Notwendigsten, das für mich abfällt”.

Man gibt ihnen nicht einmal die Möglichkeit darauf zu warten, daß ihnen etwas Besseres geboten wird als ein Job, den sie nicht aushalten, von dem sie nicht leben können oder in dem sie von morgens bis abends etwas tun, in dem sie keinen Sinn sehen. Meist übrigens alles auf einmal.
Das ist nicht schön, aber viele werden sagen, dies sei ein romantischer Ansatz, ein Luxus, den wir uns nicht leisten könnten.
Selbst wenn man das so stehen ließe, bliebe es aber nicht bei der Entrechtung der Betroffenen. Denn selbst eiskalt ökonomisch denkend, setzt sich der Druck auf diese Menschen fort auf unzweifelhaft fleißige Arbeitnehmer. Sie stehen im Endeffekt unter demselben Druck.

Sie haben keine schlechte Verhandlungsposition, sie haben gar keine. Wer verhandeln will, braucht mindestens eine Alternative. Wer keine hat, wird ausgeraubt. Wer weiß, daß er jeden Preis akzeptieren muß, weil ihm sonst Übles droht, wird (sich) eben verkaufen. Angst ist die schwächste Basis für einen Handel. Wer sich Angst zunutze macht und sie schürt, um seine Verhandlungsposition zu stärken, ist per definitionem ein Räuber.
Das hat mit freier Marktwirtschaft schon nichts zu tun, das Ganze aber auch noch “neue soziale Marktwirtschaft” zu nennen, ist ein Fußtritt ins Gesicht all derer, die halt nicht von ihren Zinsen leben können.