Kindische Provokationen wie die eines Tilo Sarrazin sollte man eigentlich ignorieren. Empörung ist erst recht keine gute Reaktion, da die Währung solcher Ego-Clowns Aufmerksamkeit ist. Man könnte sie ihm entziehen, nicht aber seinen zahlreichen Clacqeuren, die es für ihre Aufgabe halten, das Ressentiment schon reinzuwaschen, ehe die Empörung sich überhaupt formieren kann.
Die Pfleger politisch motivierter Stereotypen und Vorurteile operieren mit dem Passepartout eines verwaschenen Feindbildes. Es sind immer die irgendwie „Linken“, gegen die man sich wehren muß. Deren „Political Correctness“, da ist sich der Mob von hellbraun bis ganz dunkelbraun einig, darf und muß mit allen Mitteln bekämpft werden, damit die „Wahrheit“ der Rechten ans Licht kommt.

Einmal mehr geht die aufrechte Medienmischpoke einem Kämpfer für die antilinke Wahrheit zur Hand, einmal mehr betätigt sich der „Spiegel“ als Blendgranate der Gegenaufklärung, indem er seinen untalentiertesten Schmierfinken an die Front schickt. Reinhard Mohr hat sich persönlich der Causa Sarrazin angenommen, womit gesichert ist, daß kein zerebraler Stein mehr auf dem anderen bleibt. Zwar ist Mohr schon der zweite hier erwähnte Kandidat, dem die Aufmerksamkeit entzogen gehört, aber als Symptomträger einer kaputten Öffentlichkeit kann man ihn nicht immer ignorieren.

Seine Waschlappentaktik ist preiswürdig: Er verklausuliert seinen biederen Beifall für Rassismus als Meinung zu Meinungen über eine Meinung. Anstatt sich mit den inkriminierten Äußerungen eines losgelassenen Menschenhassers im Wortlaut zu befassen, hält er sich an das Talkshow-Gequatsche von Leuten, die ihrerseits zu Sarrazins Stellungnahme Stellung nehmen.
War der „Spiegel“ früher dafür bekannt, Zusammenhänge herzustellen und zu erläutern, Kontext zu rekonstruieren, so zerfaseln seine Verweser heute jede relevante Debatte zum Einheitsbrei.

Gegenaufklärung

Mohr verfälscht darum auch konsequent Zitate Sarrazins und läßt das Braunste einfach weg. Sarrazins unverhohlen rassistische Äußerungen wurden auch kaum von den Medien diskutiert, die heikelsten Stellen gar nicht erwähnt. Er hätte gern Juden, die seien intelligenter. Bei Türken und Arabern sieht er hingegen ein auch „erblich bedingt[es]“ Problem, das sie als Leistungsträger ausschließt. Was Sarrazin da abgelassen hat, ist reinste faschistische Hetze. Als „68er“ und „Gutmensch“ gilt inzwischen offenbar jeder, der in solchem Dreck die Verletzung eines Tabus sieht, das zurecht besteht. Allein die Perfidie, Juden höhere Intelligenz zu unterstellen, ist unfassbar. Was, wenn die „Forschung“ einmal das Gegenteil feststellt?

Um sich abzusichern, zitiert der journalistische Steigbügelhalter brauner Eliten seinen Kollegen Matussek. Der kann sich nicht entblöden, von „Polemik und satirische(r) Übertreibung“ zu reden. Es sind also die Senatoren und hohen Funktionäre, die in einem demokratischen Staat die „Satire“ über Bevölkerungsgruppen machen? Ich dachte, Satire hätte damit zu tun, daß die Bürger die Funktionäre verlachen und nicht umgekehrt. Demnach darf man „Mein Kampf“ als Polemik und den „Stürmer“ als Satire betrachten? Den Helden der Antilinken ist wirklich kein Argument zu dämlich, um ihre armselige Propaganda zu unterlegen.

Kontext? Kann ich das essen?

Zur Sache, an der weder Sarrazin noch seinen Stiefelleckern etwas liegt, habe ich übrigens noch nicht den zaghaftesten Versuch gesehen, die Zusammenhänge herzustellen. Zuallererst ist die Sichtweise der Neorassisten notgedrungen ahistorisch. Wenn es also etwas Besonderes an „den Türken“ gibt, so wäre doch zunächst zu erläutern, was das ist – außer ihrer erblich bedingten Minderwertigkeit. Wenn es um Integration geht, dann wäre doch zu fragen, wer in was integriert wird oder sich integriert.

Im Falle der türkischen „Gastarbeiter“ müssen wir in die 50er Jahre zurückgehen, in denen sie als billige Arbeitskräfte angeheuert wurden. Niemand hatte sich darauf vorbereitet, sie zu integrieren, wie auch? Die Gesellschaft, in die sie geholt wurden, hatte wenige Jahre zuvor noch alle Fremden vergast und bombardiert. Sie wollten und sollten nicht bleiben, sie lebten unter Umständen, die heute als nicht menschenwürdig gelten würden. Sie blieben dennoch, denn sie wurden weiterhin gebraucht und kamen zu bescheidenem Wohlstand.

Niemand kümmerte sich um sie, sie trafen auf eine Gesellschaft, die von Fremden nichts wissen wollte. Konsequent bildeten sie „Ghettos“ und eine bis heute stabile Subkultur. Diese ist es, in die sich Folgegenerationen integriert haben. Das ist Integration. Allerdings nicht diejenige, die sich rechte Phrasendrescher Jahrzehnte später plötzlich wünschen.

Wem ist es nun anzulasten, daß sie sich nicht gleichzeitig in die Leistungsträgerschaft der kinderlosen deutschen Gesellschaft integrieren? Den Großeltern? Den Eltern? Den Lehrern? Den Schulen? Der jungen Generation selbst? Das wären immerhin Fragen. Leute wie Mohr oder Claus Kleber haben da schon die schnelle Antwort parat: Die Ausländer sind selber schuld, die Türken, die Araber, jeder einzelne.

Fetisch “Individualismus”

Das Muster dieses neoliberalen Rassismus ist einfach: Die Individuen werden beschuldigt und die beschuldigten Individuen zu Gruppen zusammengefasst, die man dann als besonders verwerflich und minderwertig herausstellt. Die davon Betroffenen müssen übrigens keine Ausländer sein. Das dem zugrunde liegende Menschenbild ist ein religiöser Individualismus, der die bestehenden Verhältnisse für jeden Einzelnen zum selbst gewählten Schicksal verklärt.

Typisch für diese Haltung ist neben der Schuldzuweisung an Einzelne mit bestimmten Merkmalen (Türken, Arbeitslose, Linke), daß es bei diesem „Erklärungsmuster“ bleibt und Lösungen für die Probleme im Hintergrund nicht einmal diskutiert werden. Es sind die Verlierer und Kritiker der Leistungsträgerschaft, die mit der Universalkeule geprügelt werden: Eigenverantwortung. Selber schuld!

Bei den Arbeitslosen und Niedriglöhnern sind es 27 Jahre, bei den nicht integrierten Ausländern 60 Jahre, in denen das Konzept „Eigenverantwortung“ beweisen durfte, was es leistet. Fazit: Wir brauchen mehr davon?
Die zentrale Frage schließlich, wozu das ganze Gewese gut ist und wohin es führt, wird schon gar nicht mehr gestellt in den glorreichen Medien. Was resultiert aus einem „Mehr“ an „Eigenverantwortung“, Schuldzuweisungen, Beschimpfung von Bevölkerungsgruppen, deren angehörige als faul, kriminell oder sonstwie minderwertig abqualifiziert werden?

Es führt zu gegenseitiger Diskriminierung, Rückzug, weiteren Vorurteilen, Aggressionen und Gewalt. Integration wird so vereitelt, statt dessen Bevölkerungsgruppen gegeneinander aufgehetzt. Angestellte gegen Arbeitslose, Arbeitslose gegen Obdachlose, Arier gegen Migranten.

Des Pudels Kern

Dies ist der Kern solcher „Politik“. Die aggressive Demagogie schlägt, wo es um Ausländer geht, zwangsläufig in Rassismus um. Nun sieht sich der Neoliberalismus in einem Dilemma. Will er sein Menschenbild aufrecht erhalten, kann er nicht anders. Billigt er ausgerechnet Ausländern zu, sich nicht auf den Verwertungskreislauf zuzurichten, landet er bei jenem Gutmenschentum, das er seinen Kritikern unterstellt. Er darf sich nicht hinterfragen, wenn er nicht kollabieren will: Vorwärts immer, rückwärts nimmer.
Es ist doch sehr zu hoffen, daß nicht nur “Linke und 68er” diesen Schwachsinn durchschauen. Auch wenn deutsche Journalisten dazu nicht mehr in der Lage sind.