Ich habe heute nach der Lektüre eines alten Beitrags sowie eines alten Forenbeitrags zum Thema darüber sinniert, wo Argumentieren eigentlich noch sinnvoll ist und wo nicht. Trifft man nämlich auf reaktionäre Strukturen, ist man selbst dann weitgehend zum Scheitern verurteilt, wenn man sich nicht in die Rolle desjenigen treiben lässt, der sich zu rechtfertigen hätte.

Der Reaktionär unterscheidet nicht zwischen dem Angenehmen und Unangenehmen des Neuen. Er hasst Veränderung generell. Natürlich passt auch der Reaktionär sich an. Ihm liegt neben der je bestehenden Ordnung vor allem diese als solche am Herzen. “Die Autorität hat immer recht”, ist sein Credo. Nach Kaiser und Führer wurde auch die jeweilige Kanzlerschaft eigentlich nie angezweifelt. So ist man mit der Regierung höchst unzufrieden, keineswegs aber mit der Kanzlerin.

Das Problem liegt tiefer als in sogenannten “Werten”, die der Konservativismus für sich beansprucht. Reaktion ist eine Abwehrhaltung, die sich aus vielen Quellen speist; nicht bloß aus dem autoritären Charakter, auch aus schnöder Phantasielosigkeit oder schlichter Konditionierung. Das, was “unmöglich ist zu denken” (Foucault) zwängt selbst Wissenschaft (und ich meine nicht nur die Astrologie sogenannter “Ökonomen”) in ein Korsett. Erst recht begrenzt es die intellektuelle Beweglichkeit des Bürgers. Ich greife den Vorschlag noch einmal auf, eine Erbschaftssteuer von 100% einzuführen und die Reaktionen darauf:

Darf nicht, kann nicht, ist nicht

Ein solcher Vorschlag ruft gern die auf den Plan, die schon mit der Vorstellung komplett überfordert sind. Sie sind diejenigen, die nicht auf einer bildlichen Ebene denken können, nicht trennen zwischen beispielhaft und konkret, metaphorisch und unmittelbar, Bezeichnung und Bedeutung. Gemeinhin verstehen sie übrigens auch keine Ironie. Sie lassen sich auf keine Zusammenhänge ein, die sie nicht schon kennen. Solche Reaktionäre gebärden sich regelmäßig als Trolle, berufen sich dabei stets auf das, was ‘gilt’ oder für sie gilt. Sie kramen alle ‘Widersprüche’ heraus zu dem, was sie noch zu verstehen bereit sind und hauen es dem Gegner um die Ohren. Sie diskutieren immer mit und lassen sich niemals ein. Ihr Ziel besteht darin, die Guten von den Bösen zu trennen, das Für oder Gegen uns. Die Sache machen sie nieder, weil sie nicht in ihr Weltbild passt. Dabei wissen sie nicht einmal, ob das Andere besser oder schlechter wäre. Es ist anders, und das geht eben nicht.

Die Erbschaftssteuer, so wissen die, die zuerst raus sind, kann nicht erhöht werden. Das sagen nämlich die Experten.
Als nächstes kommen die Zuschauer der Talkshows, die sich ‘Argumente’ gemerkt haben – also die wiederholten Propagandaschnipsel. Zum Beispiel das Argument mit den Firmen, die pleite gehen, weil sie die Erbschaftssteuer nicht zahlen können. Als hätte eine Firma, die nichts erwirtschaftet, einen Wert, der hoch besteuert würde. Als könnte eine Firma, die brummt, keine Steuern zahlen. Dumm genug. Vor allem aber: Als sei das Zahlen der Steuern ein Problem der Maschinen und nicht eines der Eigentümer. Es sind die Teilhaber, die zur Kasse gebeten werden. Wollen sie nicht zahlen, verkaufen oder verschenken sie meinetwegen. Niemals würde eine Firma deshalb dicht machen. Und was hat das gleich noch mit einer privaten Erbschaftssteuer zu tun? Nichts, die aber macht die Milliardäre alle obdachlos. Na klar.

Bei uns ist es am besten

Man braucht nicht einmal viel Phantasie. Ausgerechnet die Reaktionäre aber zerren dann die unwahrscheinlichsten Fälle ans Licht, um es nicht begreifen zu müssen: Da ist eine sinnvolle Veränderung möglich? Das sind gleich zwei Schocks: Erstens, dass sich etwas verändern könnte, zweitens, dass die Welt nicht in Ordnung sein könnte. Hätte man denn sonst nicht längst etwas in diese Richtung unternommen? Könnte man dann in den Talkshows so reden? Haben die Autoritäten uns derart belogen? Das wäre ja wohl wem aufgefallen. Kann also nicht.

Schließlich diejenigen, die den Blick aufs Ganze haben – vermeintlich. Die Hobbyjuristen und politischen Teilzeitexperten. “Verfassungswidrig” sagen sie vielleicht und haben gelegentlich recht. Nie nicht aber fiele ihnen ein, diese Erkenntnis in ihr Weltbild einzupflegen und sich zu fragen, was daraus folgt. Selbst wenn sie sich darauf einlassen können, dass es wohl nicht ganz demokratisch ist, wenn Familien seit Jahrhunderten steinreich sind und andere ebenso lange bettelarm und dass das quasi für immer so bleiben soll. Es gibt keinen Weg hinein, auf dem die realen Machtverhältnisse effektiv hinterfragt würden. Die letzte Bastion: Wo es denn besser sei? Selbst wenn man darauf Antworten hat, werden die sofort relativiert. Denn am besten ist es dort, wo wir es gemütlich haben.

Sie verlassen den sicheren Bereich

Der letzte Versuch ist der Sprung übern Zaun, wo die Welt dann doch nicht endet. Natürlich ist der Vorschlag nicht wörtlich zu nehmen. Wenn man sich das aber vorstellt, man ließe dieses eine Gesetz zu und malt sich aus, welche Folgen das hätte, kommt man zu radikalen Gedankengängen, die weder einer Diktatur zustreben noch die Welt schlechter machen würden. Im Gegenteil. Dass es in der wahren Wirklichkeit aber absolut nicht durchsetzbar ist, wirft ein helles Licht auf die Verhältnisse, die man nämlich tatsächlich ganz überwinden muss, um etwas zu verbessern.

Begleitend dazu empfiehlt sich ein Blick auf das, was uns bevorsteht mit dem, was wir haben. Ein Blick auf das, was längst geschieht um uns herum. Dass überhaupt nichts in Ordnung ist und die Gemütlichkeit akut bedroht. Da wird der Widerstand noch heftiger, weil verzweifelter. Die nicht ganz Dämlichen knabbern da zaghaft am Baum der Erkenntnis, wollen aber dennoch nicht wissen. 60% faule Jugendliche in Südeuropa, dass muss wohl so sein. Können halt nicht mit Geld umgehen. Wir haben doch gut gewirtschaftet, jetzt wollen die unser Geld!! Je weniger so einer sein eigenes Geschwätz glaubt, desto energischer trägt er es vor.

Inzwischen mache ich daher regelmäßig deutlich, dass ich eine linksradikale Sau bin und mich deshalb nicht recht verständlich machen kann. Ich mache hie und da darauf aufmerksam, wenn ein Problem, auf das mich jemand anspricht, ein Problem des Kapitalismus’ ist und erläutere kurz den Zusammenhang. “So darfst du natürlich nicht denken”, pflege ich dann zu sagen und versuche gar nicht erst, Recht zu bekommen. Das habe ich eh nur diesseits des Zauns. Rüberklettern muss jeder selbst.