Es ist ein Abtasten; wir haben versucht, uns aufs Wesentliche zu konzentrieren und viel Wichtiges am Rande liegen lassen. Vielleicht liegt in den “Nebenkriegsschauplätzen” erst der wahre Reiz, aber der Text ist auch so mehr als lang genug geraten. Mir hat es Spaß gemacht und Lust auf mehr – in diesem oder einem anderen Medium. Das Experiment wird heute auch beim Spiegelfechter gepostet. Leider haben wir technisch nicht die Möglichkeit, die Diskussionen zusammenzufassen und machen halt zwei daraus. Mal sehen, was wir dabei lernen.

flatter: Zur Terminologie vorab: Ich nenne Kapitalismus beim Namen. Die Bezeichnung „Marktwirtschaft“ meint dasselbe. Sollte es zu einer sinnvollen Unterscheidung der Begriffe kommen, können wir diese noch nachreichen. Wo beide synonym sind, verwende ich den deutlicheren.
Die Grundfrage, die ich diskutieren möchte, ist: „kann Kapitalismus funktionieren?“. Ich bin der Überzeugung, dass dies nicht der Fall ist und verstehe dich so, dass du anderer Meinung bist. Am Ende wird meine Frage an dich daher sein: „Wie soll Kapitalismus funktionieren“?
Eines meiner Hauptargumente ist dabei folgendes:
- Kapitalismus gerät zwangsläufig in eine Phase, in der er sich nicht mehr regulieren lässt. Sobald die Profite unter ein bestimmtes Maß sinken – bei dem behauptet werden kann, es lohne sich nicht mehr zu investieren – durchbricht er die gegebenen Grenzen. Die Deregulierungen, die von Kritikern des Neoliberalismus beklagt werden, waren also tatsächlich alternativlos. Sie sind kein Ausdruck von Gier, sondern systembedingt und unvermeidlich.

Spiegelfechter: Eingangs sollten wir uns darauf verständigen, was mit dem Begriff “Kapitalismus” gemeint ist. Ich würde den Begriff ungern als Kampfbegriff benutzen, sondern ihn als Synonym für den trennschärferen Begriff “Marktwirtschaft” verwenden. Dagegen hast Du ja offenbar keine Einwände.
Deine Eingangsthese nehme ich zwar offen zur Kenntnis, kann sie aber nicht teilen. Warum sollte der Kapitalismus nicht regulierbar sein? Steht der Kapitalismus über dem Gesetz? Gar über der Verfassung? Gibt es denn überhaupt starre Grenzen oder sind diese nicht vielmehr dynamisch? Und warum sollte es “systemimmanent” problematisch sein, wenn die Profite unter ein gewisses Maß fallen? Daher würde ich vorschlagen, dass Du diese Thesen eingangs einmal kurz erläuterst. In die Details können wir danach einsteigen.

flatter:Kapitalismus lässt sich nicht regulieren, weil das Kapital sich nicht juristische Gesetze vorschreiben lässt. Wo es sich nicht „lohnt“ zu investieren, wird nicht investiert. In den Phasen, in denen also viel Kapital auf wenig Möglichkeiten zur Vermehrung trifft, fordert es neue Einsatzgebiete. Lassen sich in der Realwirtschaft keine finden, müssen „Finanzmärkte“ her. Die Eigentümer haben die ökonomische Macht und können daher Druck auf den Gesetzgeber ausüben, dem Kapital entsprechende ‘Freiheiten’ zu bieten. Und selbst wenn der stur bleibt, stellt sich die Frage, was aus Kapital wird, das keine ausreichenden Profite mehr erzielen kann. Marx hat das in dem Theorem des „tendenziellen Falls der Profitrate“ beschrieben; ich will das aber nicht ‘marxistisch’ diskutieren, sondern zunächst auf das skizzierte Problem begrenzen.

Spiegelfechter: Da muss man sich jedoch zunächst die Frage stellen, was “Kapital” eigentlich ist. Sowohl bei den Soziologen als auch bei den Volkswirten marxistischer Schule schwingen da natürlich immer ideologische Konnotationen mit. Können wir uns darauf einigen, “Kapital” als Synonym für “Vermögen” zu verwenden? Aber selbst dann haben wir noch begriffliche Klippen zu umschiffen. Es gibt Anlage- und Umlaufvermögen, das Rein- und das Geldvermögen. Letzteres dürfte für unsere Diskussion am interessantesten sein und hier sollte man den Blick dann auch auf das Nettogeldvermögen richten. Natürlich gibt es da die betriebswirtschaftliche Logik, nach der das Nettogeldvermögen möglichst rentabel eingesetzt werden soll und ich akzeptiere auch die These, dass es da eine gewisse Sättigung gibt, die tendenziell dazu führt, dass die Renditen, die in der Realwirtschaft erzielt werden können, sinken. Das ist jedoch kein fundamentales Problem. Der Kapitalismus hatte viele Perioden, in denen Vermögen nicht oder nur in sehr geringem Maße vermehrt werden konnte. Es gab auch Perioden, in denen sehr viel Vermögen vernichtet wurde. Die Finanzmärkte sind jedoch ein denkbar schlechtes Substitut für realwirtschaftliche Investitionen. Reine Finanzspekulationen sind Nullsummenspiele, bei denen die Vermögen (also hier die Geldeinsätze) “nur” unter den Teilnehmern umverteilt werden. Dadurch wird in der Gesamtheit jedoch keine Rendite erzeugt. Freilich gibt es jedoch Wechselwirkungen. Die Finanzspekulationen rund ums Rohöl haben beispielsweise eine indirekte Wirkung auf den Ölpreis – es “schwappt” jedoch kein Geld aus dem Realgütermarkt in den geschlossenen Markt für Derivate u.ä. über. Geld arbeitet nicht!
Was Du über die Machtverhältnisse schreibst, ist sicher richtig. Ich sehe hier jedoch keinen systemischen Zwang. Waren die Machtverhältnisse in den USA zu Zeiten des New Deal etwa anders? Dennoch fand damals eine politisch gewollte Umverteilung von oben nach unten statt. Das skandinavische Modell funktionierte so und auch in unserer Sozialen Marktwirtschaft wurde trotz ungleicher Machtverhältnisse kein “Klassenkampf von oben” geführt – auch wenn die 68er dies manchmal anders sahen. Unterschätze die Macht der Straße nicht! Sicher, momentan spürt man diese Macht nicht, aber es ist noch nicht aller Tage Abend. Deine Thesen würden in einer radikal-liberalen Welt sicher zutreffen – also in einer Welt, in der die Märkte tatsächlich der oberste Souverän sind und der Staat sich auflöst. Auch wenn wir auf einem sehr bedrohlichen Weg in eine solche Welt sind, so haben wir doch immer noch eine Verfassung, die nicht libertär, sondern sozialstaatlich ist. Man muss die Verfassung nur endlich wieder ernst nehmen und dem “Druck der Eigentümer” Paroli bieten.

flatter:Jetzt wird es recht komplex, ich will mich aber in diesem Rahmen bemühen, das Ganze zu vereinfachen. Ich kann mich nicht wirklich damit anfreunden, “Kapital” und “Vermögen” synonym zu verwenden, aber versuchen wir, zunächst anhand des Begriffs “Vermögen” das Problem zu erfassen. Dazu ist es hier sinnvoll, Vermögen als etwas zu betrachten, das sich eben vergrößern soll. Das ist nicht direkt betriebswirtschaftliches Denken, sondern lediglich eines, das nicht Konsum anstrebt. Sehr vereinfacht wäre also Kapital Vermögen, das „investiert“ wird. Was allen solchen Vermögensarten gemein ist, ist das schiere Streben nach mehr. Echter “Mehrwert” entsteht zwar nur durch Arbeit, das kann aber dem Vermögenden, der als “Investor” auftritt, egal sein. Die Währung ist letztlich ja dasselbe wert, egal ob der Gewinn an der Börse oder im Kiosk gemacht wird.
Wir stehen jetzt schon an der Kreuzung des grundsätzlichen Funktionierens von Kapitalismus und der aktuellen Situation. Es mag sein, dass es ähnliche Situationen historisch gab. Ich sehe allerdings einige entscheidende Veränderungen. Abgesehen davon nämlich, dass die Krise in den 20er/30er Jahren nicht überall so blendend überwunden wurde wie in den USA, man also ohnehin nicht behaupten kann, Kapitalismus habe funktioniert, ist die Situation heute noch dramatischer:
Die Möglichkeit, neue Märkte zu erschließen, ist ungleich geringer und wird keinesfalls das Kapital auffangen können, das nach Rendite strebt. Wir haben ein Maß an Produktivität, das ebenfalls keine sinnvollen Steigerungen mehr zulässt, sondern bereits natürliche Ressourcen sprengt. Von daher ist hinreichender Raum für Wachstum nicht mehr vorhanden; das war in früheren Jahrzehnten anders. Durch den neoliberalen Umbruch seit Anfang der 80er wurden die Renditen in der Realwirtschaft optimiert, auf denen die Finanzmärkte letztlich aufsetzen. Würde man jetzt versuchen, mehr Konsum anzufachen, ginge das nicht nur wieder zu Lasten dieser Renditen – mit entsprechenden Folgen, sondern würde auch nicht lange vorhalten, da realer Konsum das notwendige Wachstum nicht erzeugen kann. Wo ist da noch Rettung?
Der Druck auf die politischen Systeme schließlich ist ein Thema für sich. Ich wollte zunächst darauf hinweisen, dass Alternativen zum bestehenden System enormen Gegendrucks bedürften, den ich wahrlich nirgends sehe in den politischen Institutionen. Ich teile weder deinen Optimismus bezüglich der “Straße” noch der Verfassung. Ich sehe aber vor allem aufgrund der Einigkeit von Kapitalinteressen und politischen Institutionen nirgends einen wirklichen Willen zur Veränderung und bin auch deshalb überzeugt, dass es zwecklos ist, solche innerhalb der “Marktwirtschaft” zu erwarten. Vielmehr wird versucht, alles zur Ware zu machen, was einen Abnehmer finden kann, bis der Kollaps dann doch erfolgen wird. Man kann dann noch darüber diskutieren, welche Möglichkeiten ein unvermeidlicher Reset birgt.

Spiegelfechter: Dann gehe ich mal zunächst auf den umstrittenen Vermögensbegriff ein, der für mich dann doch zentral scheint. Nehmen wir mal einen Privathaushalt, der ja die Basis allen Wirtschaftens ist, jedes Unternehmen gehört letzten Endes auch den Privathaushalten. Du wirst mir sicherlich zustimmen, wenn ich sage, dass bestimmte Teile des Haushaltsvermögens eben nicht darauf angelegt sind, dass sie sich “vermehren”. Das kann das Haus samt Grundstück sein, auf dem man lebt (dies ist in der Vermögensbilanz der Privathaushalte wohl der größte Aktivposten), oder auch das Auto und persönliche Wertgegenstände wie Schmuck oder Möbel. Es kann zwar sein, dass diese Dinge an Wert gewinnen, primäres Ziel ist dies jedoch bei der Anschaffung nicht. Anders sieht es beim Geldvermögen aus, zu dem bei Privathaushalten auch Ansprüche aus Versicherungen und der privaten Altersvorsorge zählen. Es ist richtig, dass diese Vermögen sich vermehren sollen. Wenn wir jetzt nicht in die Zinskritik, die ich ja bekanntlich ablehne, abgleiten wollen, ist das per se auch kein Problem.
Kommen wir zum nächsten Punkt: Was ist Mehrwert? Ein typisches Konsumprodukt, nehmen wir mal das iPhone, generiert seinen Tauschwert nicht nur aus dem Material-, dem Produktions- und Distributionspreis, sondern auch und vor allem aus imaginären “Werten” wie dem Markenimage. So etwas fällt auch nicht vom Himmel, sondern wird durch Arbeit erzeugt – Arbeit im Dienstleistungsbereich. Und hier kommen wir zu einem “Feature” des Kapitalismus, das Du wahrscheinlich eher als “Bug” ansehen wirst. Die Sättigung wird dadurch außer Kraft gesetzt, dass stetig Wünsche geweckt werden. Der Konsument will – aus welchen Gründen auch immer – ein neues Handy und ein neues Auto, auch wenn das vorhandene Modell rein rational seinen Dienst noch erfüllt. Dies ist die irrationale Seite des Kapitalismus, die ihm nie die Luft ausgehen lässt. Nur wer dies akzeptiert, versteht den Kapitalismus, wobei “verstehen” nicht mit “verteidigen” gleichzusetzen ist.
Die These, nach der weiteres Wachstum nur durch eine wachsende Ausbeutung von Ressourcen erreicht werden kann, ist ebenfalls – sagen wir es freundlich – umstritten. Es gibt zig Produktbereiche, auf die ich jetzt nicht näher eingehen will, bei denen die verbrauchten nicht regenerativen Ressourcen in jedem neuen Produktionszyklus nicht mehr sondern weniger werden. Und hier kommen wir zu einem weiteren “Feature” der Marktwirtschaft. Sobald eine Ressource knapp wird, wird sie teuer und wenn sie (zu) teuer wird, schaut man sich nach Substituten um.
Eine weitere These von Dir erschreckt mich ehrlich gesagt sogar. Wenn Du suggerierst, dass “wir” die Grenzen der Produktivität und des Wachstums erreicht haben, klingt das gefällig postmaterialistisch. Erzähle das doch mal einem Russen, Brasilianer, Inder, Chinesen oder gar einem Afrikaner. Klar, für “uns” geht es nicht darum, dass wir unser erstes Auto, unser erstes Telefon, unseren ersten Zugang zu einer Dialysestation bekommen oder das erste Mal zwei Wochen Urlaub zu machen. Das sieht für den Großteil der Menschheit aber ein wenig anders aus. Erst wenn jeder Äthiopier auf “unserem” Lebensstandard ist, lasse ich dieses Argument gelten. Und ich glaube nicht, dass dies zu unseren Lebzeiten passieren wird. Und auch im vergleichsweise gesättigten Westen ist einiges im Argen, das förmlich nach mehr Arbeit schreit. Ich nenne da mal die Kranken- und Altenversorgung, die Bildung und Ausbildung aber auch die Arbeit im Umweltsektor. Diese Tätigkeiten rentieren sich finanziell nicht, das ist klar. Aber eben darum muss der Kapitalismus ja auch gezähmt werden und wenn das nicht reicht, muss man ihn hinter Gitter sperren. Es gibt sehr viel sinnvolle Arbeit, die nur durch Umverteilung und stärkeres Engagement des Staates, der keinem Renditezwang unterliegt, finanziert werden kann. Aber auch im Bereich der klassischen Produktion kann ich Deine These nicht akzeptieren. Hast Du Dich mal mit Menschen unterhalten, die im Produktionssektor tätig sind? Geht denen die Arbeit durch Rationalisierung aus? Mitnichten, die Überstundenkonten quellen über, die Arbeitszeitverdichtung ist so dramatisch, dass die Gesundheit darunter leidet. Was hier fehlt, sind sinnvolle Gesetze. Und nein, es gibt keinen systemimmanenten Grund, warum der Souverän, das Volk, diese Gesetze gegen die Interessen “des Kapitals” nicht durchsetzen können sollte.
Verfalle bitte nicht der Fehlannahme, dass an der Börse Gewinne gemacht werden. Ein Gewinn ist erst dann ein Gewinn, wenn er verwirklicht wird. Wenn der Börsenkurs steigt, steigt zwar der imaginäre Wert des betreffenden Unternehmens, ein Gewinn entsteht jedoch nur dann, wenn der Aktionär seinen Anteil zu einem höheren Preis verkauft, als er ihn gekauft hat. Der steigende Wert der Aktiengesellschaften resultiert wiederum aus realwirtschaftlichen Geschäften. Auch der Finanzsektor kann echte Gewinne machen – jedoch nur dann, wenn das grundlegende Geschäft in der Realwirtschaft stattfindet. Auf Details gehe ich an dieser Stelle (noch) nicht ein. Ebenfalls spare ich das Thema “politische Gestaltung” einstweilen erst mal aus. Dazu können wir gerne später kommen.

flatter: Eine recht ausführliche Replik. Zu den „Vermögen“ hatte ich ja vorgeschlagen, nur solche Vermögen zu betrachten, die vermehrt werden sollen, da es mir um Kapital geht. Ich wollte die Sache vereinfachen, nicht die ums Kapital auf die ums „Vermögen“ verschieben.
Dass dem Kapitalismus „nie die Luft ausgeht“, halte ich für illusorisch. Dass aus dem (irrationalen) Streben nach mehr Konsum auch die Möglichkeit dazu erwächst, wird niemand behaupten können. Im Gegenteil ist ein Problem des Kapitalismus, dass er nicht gleichzeitig ausreichend Konsum und ausreichend Profit ermöglicht. Dies geht nur durch ein Wachstum, an dessen Grenzen wir längst gestoßen sind. Trotz idiotischer Tricks wie „geplanter Obsoleszenz“ schrumpfen die Umsätze. Warum übrigens soll man einem System zustimmen, das dem Selbsterhalt jede Rationalität opfert?
Das ist es auch, was ich mit Grenzen des Wachstums meine: Selbst künstliches Wachstum reicht nicht aus; anstatt neue Absatzmärkte zu finden, brechen die alten zusammen. Oder soll ich annehmen, dass wir bald Neuwagen in den Sudan exportieren? Dorthin z.B. wurden so viele Waffen verkauft (war gut fürs Wachstum), dass in Jahrzehnten keine Ordnung zustande kommen wird, die ‘Wachstum’ zulässt. Das ist kein Nebeneffekt, das muss man einpreisen. Es gibt einige weitere Grenzen, die sich m.E. nicht erweitern lassen.
Zu deinem wichtigsten Satz:
„Diese Tätigkeiten rentieren sich finanziell nicht, das ist klar. Aber eben darum muss der Kapitalismus ja auch gezähmt werden und wenn das nicht reicht, muss man ihn hinter Gitter sperren.“
Letzteres ist richtig. Wozu dann aber Kapitalismus? Ich halte die Vorstellung von einem, der sich dahingehend zähmen lässt, unrentable Arbeiten wie diese mit den entsprechenden Ressourcen auszustatten, für absurd. Reden wir dann doch gleich von etwas anderem, auch wenn „Sozialismus“ von der herrschenden Verdummung mit „Mauer und Schießbefehl“ identifiziert wird.
Ich kenne gleich zwei Gründe, warum das Volk keine „Gesetze gegen die Interessen des Kapitals” durchsetzen kann. Alle historische Erfahrung und die Tatsache, dass es definitiv umgekehrt läuft. Eigentumsrechte werden doch längst über alle anderen, vor allem die Bürgerrechte, gestellt, jedenfalls in dem Land, in dem ich lebe und seinen „Partnern“.
Dass an der Börse „keine Gewinne gemacht“ werden, ist bedingt richtig, man müsste aber schon z.B. die Warenbörsen auslassen. Das spielt aber keine große Rolle in bezug auf mein Argument, dass die Börsen Kapital binden (so meinte ich das jedenfalls). Dieses Kapital, da es realwirtschaftlich nicht mit Profitaussicht investiert werden kann, würde meiner Ansicht nach verheerende Wirkung zeitigen, wenn es diese Spielplätze nicht mehr hätte. Daher bin ich ebenfalls äußerst skeptisch, was die „Regulierung“ dieser Bereiche anbetrifft. Wenn also, wie gern gefordert, „die Casinos geschlossen“ würden, was geschähe deiner Ansicht nach mit dem Kapital, das dort zwangsläufig abgezogen würde?

Spiegelfechter: Ein Großteil dieses “Kapitals” würde sich ganz einfach auflösen, ohne das irgendwer nun reicher oder ärmer wäre. Klingt komisch, ist aber so. Darum habe ich ja auch versucht, den Begriff ein wenig enger zu definieren. Für die Diskussion, die wir führen, ist es nun einmal wichtig, dass Geld nicht gleich Geld ist. Wie Du sicher weißt, wird Geld durch Kredit geschöpft, es kommt aus dem Nichts und verschwindet bei der Tilgung des Kredits auch wieder im Nichts. Darin unterscheidet es sich vom Vermögen, genauer gesagt von Nettovermögen. Was passiert, wenn die Finanzmärkte nicht mehr ausreichend realwirtschaftliche Anlageformen offerieren können, sehen wir ja gerade eben. Die Zinsen purzeln, aber wenn die Wirtschaft nicht brummt, werden nicht genug Kredite nachgefragt und da in schlechten Zeiten das Risiko nicht geringer, sondern größer wird, weiß die “Kapitalseite” nicht so recht wohin mit ihren freien Mitteln. Dann gibt es eine “Asset Bubble” und wenn die Herren Investoren, frei nach den alten Cree, merken, dass man mit Gold eigentlich auch nichts Sinnvolles anstellen kann, platzen diese Bubbles. Ich könnte mir aber ehrlich gesagt weitaus Schlimmeres vorstellen. Du darfst ganz einfach nicht den Fehler machen und der “Rettungslogik” auf den Leim gehen. Lasst sie doch pleite gehen, es handelt sich doch eh nur um Buchgewinne und sogar das Geld ist nie weg, es gehört immer nur anderen. Wichtig ist dabei nur, dass man die Realwirtschaft abschirmt und das ist möglich; vorausgesetzt man will das.
Sicher lassen sich Konsum und Rendite nur dann unter einen Hut bringen, wenn es Wachstum gibt. Da Wachstum aber nichts böses ist, sehe ich dadrin auch kein Problem. Erst wenn wir in einer Welt leben, in der jeder Mensch nach seinen Bedürfnissen lebt, können wir gerne vom qualitativen Wachstum Abschied nehmen und uns mit dem Status-Quo zufrieden geben. Dieses Ziel werden wir aber weder mit dem Kapitalismus noch mit einer anderen Wirtschafts- und Gesellschaftsform erreichen. Also ist der Weg das Ziel und wichtig ist vor allem, dass wir uns als Gesellschaft darüber klar werden, dass es für das Allgemeinwohl am besten ist, wenn wir das Wachstum aktiv steuern und diese elementare Frage nicht (nur) den Märkten überlassen.
Kommen wir aber noch zum eigentlichen Thema. Du bedienst Dich natürlich eines recht raffinierten Tricks, wenn Du hier Kapitalismus und Sozialismus als Gegensätze anführst. Damit haben wir den Zirkelschluss zum Beginn unserer Debatte gezogen und kehren wieder zur Definitionsfrage zurück. Auch Du würdest ja sicher “Sozialismus” nicht mit Planwirtschaft gleichsetzen und ich denke auch nicht im Traum daran, einen ungehemmten und unregulierten “Kapitalismus”, wie ihn Extremisten wie Hans-Hermann Hoppe vertreten, zu verteidigen. Lustigerweise wünschen wir uns anscheinend beide einen Sozialismus, arbeiten uns aber an komplett verschiedenen Begrifflichkeiten dessen, was wir kritisieren, ab. Die – im übrigen sozialistisch geprägte – Band “Manic Street Preachers” nannte eines ihrer Alben “Know your enemy”. Dieses Motto sollte man bei der Diskussion an die erste Stelle stellen.

flatter: „Wichtig ist dabei nur, dass man die Realwirtschaft abschirmt und das ist möglich; vorausgesetzt man will das.“ – das ist ein interessanter Satz, der mich überrascht und auf den wir uns auch einigen können. Ich meinerseits fürchte, dass der Rettungskapitalismus weder die Zocker pleite gehen lässt, noch die Realwirtschaft schützt. Ich rechne vielmehr damit, dass Kapital sich massiv auf die vitalen Märkte stürzt und damit mindestens eine echte Inflation auslöst.
Was nun den Schutz der Realwirtschaft angeht, so sehe ich da eben die Notwendigkeit, diese dem Kapital zu entziehen. Das ist dann kein Kapitalismus mehr, da hilft auch kein Keynes. Meines Erachtens läuft es sogar darauf hinaus, Lohnarbeit und am Ende das Geld abzuschaffen. Ich habe nichts dagegen, das schrittweise zu tun. Die Prioritäten müssen aber definitiv umgekehrt werden.

Spiegelfechter: Einigen wir uns darauf, dass wir die Realwirtschaft vor den Finanzmärkten oder von mir aus auch “dem Finanzkapitalismus” (be)schützen müssen. Du siehst, es sind letzten Endes hauptsächlich die Begrifflichkeiten, bei denen wir komplett über Kreuz liegen. Wenn eine Wirtschafts-/Gesellschaftsform, in der die Finanzmärkte keine Carte Blanche haben für Dich bereits kein Kapitalismus ist, dann sind wir uns ja einig, dass wir (diesen) Kapitalismus abschaffen könnten … und sollten. Und das mit der Inflation lassen wir mal lieber, sonst machen wir nur ein weiteres Schlachtfeld für den Nebenkriegsschauplatz auf.