Sternstunde oder Abgesang?
Posted by flatter under JournalismusKommentare deaktiviert
27. Aug 2008 0:39
Es gibt noch so etwas wie Journalismus im deutschen Fernsehen, an einem Dienstag zwischen 23 und 24 Uhr. Bei Maischberger (in der Mediathek [noch?] nicht zu finden) traf sich heute eine Runde von Gästen, die mehr zur Krise um Georgien beitrugen als hunderte Beiträge der Mainstream-Journaille. Die Besetzung: Hans-Dietrich Genscher, Peter Scholl-Latour, Lothar Loewe, Erhard Eppler und Gabriele Krone-Schmalz. Zugeschaltet war kurz auch Eduard Schewardnadse, der freilich wenig zur Diskussion beitragen konnte.
Die Anwesenden beleuchteten aus sehr unterschiedlichen persönlichen Perspektiven den Hintergrund und die möglichen Folgen der Lage im Kaukasus. Trotz aller Unterschiede herrschte Einigkeit über die wichtigsten Punkte, hier in aller Kürze:
Die Krise ist nicht den Russen anzulasten, wenngleich sie klar “überreagiert” haben. Sie ging aus einer Aggression Georgiens gegen Südossetien hervor. Im Vorfeld sind schon die Fehler der NATO nach dem Ende des Kalten Krieges für die Lage mitverantwortlich sowie eine aggressive und mit niemandem abgestimmte Politik der Bush-Administration. Die NATO hat keine Zukunft, wenn sie ihren Mitgliedern gestattet, ihre Eigeninteressen auf das Bündnis abzuwälzen. Eine Aufnahme Georgien ins die NATO wäre fatal und hätte bereits zu einem Weltkrieg führen können. Geisterfahrten wie die Stationierung von Raketen an der Grenze zu Russland kann sich ein westliches Bündnis nicht leisten. Die bewußte Isolation Russland, vom Westen betrieben, wäre ein GAU für Europa. Die derzeitige Lage ist vor dem Hintergrund des amerikanischen Wahlkampfs äußerst nützlich für die Republikaner, eine Entspannung würde hingegen Obama nützen.
Hervorzuheben ist überdies die Leistung von Gabriele Krone-Schmalz, die hellwach dafür sorgte, daß die recht überflüssig eingestreute “Parallele” (die eben keine ist) zum Prager Frühling nicht in einem Bild von bösen Russen mündete, wie es derzeit von Merkel und den ihr angeschlossenen Medien aufgebaut wird.
Die Menschen, die hier ihr Hintergrundwissen und ihre ganze Erfahrung einbrachten, um zu einer klugen Einschätzung der Situation zu gelangen, sind recht unverdächtig, eine Bande linker Spinner zu sein, dennoch stehen sie mit ihren Meinungen auf einem völlig anderen Planeten als diejenigen, die derzeit das entscheiden, was in Deutschland eine “Außenpolitik” sein soll. Man vergleiche das nur mit dem unsäglichen Getrommel, das etwa bei SpOn und Sueddeutsche.de zu lesen ist:
- Merkel verspricht härtere Gangart gegenüber Russland und
- Russlands Präsident Dimitri Medwedjew führt sein Land in eine selbstzerstörerische politische Isolation.
Das Volk soll nicht wissen, es soll mitmarschieren. Daß es noch Journalisten gibt, die dagegen halten, hinterläßt mich ratlos. War das nun eine Sternstunde in schwierigsten Zeiten oder der Abgesang auf einen Journalismus, der niemanden mehr erreicht?
August 27th, 2008 at 09:40
Vielen Dank für diese hervorragende Zusammenfassung. Ich habe mir erlaubt, dich in unserem Blog zu zitieren: https://sparrenblog.twoday.net/stories/5149323/ (trackback bei twoday.net nicht möglich)
August 27th, 2008 at 11:11
Neben dem Hymnengasang der Politik auf ihre Leistungen, deren Ergebnisse Furcht erregend oder bestenfalls unauffindbar sind, stellt mein ostzonaler Blick eine weitere Parallele zur erlebten DDR (DEMOKRATISCHE Republik) fest: den zunehmend jammervollen Zustand der Presse. Dieser Zustand, bin ich mir sicher, ist gewollt. Das Westfernsehen konnte wir regional nicht empfangen, – welch ein Glücksfall aus heutiger Sicht.
Frau Maischberger muß wohl aufpassen, dass sie nicht in die Geisterstunde nach Mitternacht verbannt wird.
August 27th, 2008 at 15:03
Definitiv eine Sternstunde und jetzt auch in der Mediathek der ARD zu finden:
https://www.ardmediathek.de/ard/servlet/content/876824
August 27th, 2008 at 17:16
Es gibt mW auch immer noch eine Wiederholung Samstag abend auf 3sat – Moment – um 23:30.
August 27th, 2008 at 19:30
Sehr gut! ich habe mir erlaubt auf Deinen Beitrag hinzuweisen.
August 27th, 2008 at 19:53
wirklich erstaunlich finde ich, das zumindest in den deutschen medien kaum noch jemand darüber berichtet, das die eigentliche provokation ganz eindeutig von georgien ausgegangen ist.
da setzt ein staatschef das militär gegen sein eigenes volk ein und lässt städte von der artillerie beschiessen, ohne das es im westen irgendjemanden interessiert. man könnte fast den eindruck gewinnen, das solch ein verhalten absolut in ordnung ist. böse menschen könnten sich fragen, ob das als gängiges verhalten geplant ist, wenn bei uns die bundeswehr im inneren eingesetzt werden darf …
August 27th, 2008 at 20:50
danke für diesen beitrag. fasst genau das in worte, was ich auch schon gedacht habe.
August 28th, 2008 at 10:50
Mal ne Frage:
Lässt sich das Video irgendwie speichern?
August 28th, 2008 at 11:27
Der ‘Spiegel’ versucht es, wie immer wenn er nicht recht weiter weiss, mit (mehr oder minder unterschwelligem) Spott und Häme:
“Aggression des Westens im ARD-Ältestenrat”
https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,574635,00.html
Interessant auch die Kommentare, die sich – soweit ich das gesichtet habe – mehrheitlich hinter die Einschätzungen des ‘Ältestenrates’ stellen und auch die zunehmende ‘Gleichschaltung’ der Medien beklagen. Die ‘veröffentlichte Meinung’ wird zusehends mehr hinterfragt – hoffentlich. Und gut so.
August 28th, 2008 at 13:23
@Peinhard: Das ist eine optimistische Sicht der Dinge. Ich lese den Artikel eher als einen Bericht übers Kasperltheater; obendrein geben die engestreuten Zitate nicht recht den Verlauf der Diskussion wieder.
Und wenn man bedenkt, was SpOn selbst aus der Propagandaabteilung liefert, ist dieser text aus der Abteilung “Kultur” nicht mal ein Tropfen auf dem heißen Stein.
August 28th, 2008 at 16:24
@flatter: ich meinte mit meiner ‘optimistischen’ Sicht die Kommentare zum Artikel, nicht den Artikel selbst.
August 28th, 2008 at 20:06
Achso. Stimmt, wenn mans richtig liest, steht das da. Ich dumm ;-)
August 29th, 2008 at 16:29
danke für den Beitrag.
es ist nicht alles so wie es in der Zeitung steht. schade, dass ich das versäumt habe.
bin kein Russlandfreund, aber mir ist der georgische Staatspräsident suspekt.