brainpipeGibt es eigentlich noch Wissenschaften? Und wenn es die gibt, tragen sie noch etwas bei zu Bildung, Alltag und Wirklichkeit? Mir fallen auf Anhieb eine ganze Reihe von Leistungen ein, die ich den (Geistes-)Wissenschaften abverlangen möchte, die sie aber nicht annähernd erbringen.

Zum Beispiel eine aktuelle Analyse der Beziehungen von Entscheidern und ihren Einrichtungen. Als sei es nicht wichtig, etwa die Verflechtungen diverser Körperschaften aufzuzeichnen. Wer ist wie mit wem verbunden? Ministerien, Dienste, Konzerne, einflussreiche Personen, Medienhäuser et cetera. Oder auch nur einmal die Finanzbranche: Wer hat wann für wen gearbeitet, wohin gewechselt, aus Vorständen in Aufsichtsräte, in Ratingagenturen und dann womöglich in eine Regierung? Wo ist das politikwissenschaftliche oder soziologische Institut, dass solche Arbeit leistet?

Wo ist das germanistische Institut, das die Verschlagwortung ganzer Kulturbereiche und der Wirtschaft untersucht, das Veränderungen in der öffentlichen Semantik untersucht, nachweist, einordnet? Wo das psychologische, das die Wirkung aktueller Medienprodukte präsentiert – Begriffe, Inhalte, Strukturen? Welche Kognitionen entstehen unter welchen Bedingungen oder einfacher: Wie bilden sich ‘Meinungen’, wer nimmt wie von wo aus Einfluss, was hat dabei den größten Erfolg? So etwas untersuchen ggf. die Koofmich-Psychos der PR-Konzerne; wo aber bleibt der Beitrag der Wissenschaft?

Die Koofmichs beherrschen das Spiel

Nicht besser sieht es aus mit der Präsentation von Wissen und Wissenschaft in den Medien. Wo sind die Untersuchungen zum Transfer wissenschaftlicher Inhalte in den öffentlichen Diskurs? Diverse sogenannte “Think Tanks” und Pressestellen leisten sich Vorzeige-Professoren oder wenigstens gute Kontakte zu solchen, aber seriöse Wissenschaft verkriecht sich in den Akademien. Das ist obendrein oft sogar besser, denn wenn einmal ein Untrainierter zum Interview gebeten wird, lässt er sich gern von ihm völlig fremden Routinen der Medien überrollen. Diejenigen, die das Spiel beherrschen, sind wiederum gern selbst Demagogen oder Narzissten, die lieber schwätzen als forschen.

Wer kümmert sich um die Wirkung von ‘Wissen’? Komplexere Inhalte werden regelmäßig zu Häppchen verarbeitet, die nichts mehr zu tun haben mit den verschachtelten Aussagen, die eigentlich vonnöten wären, um Wirklichkeit abzubilden. Obendrein werden sie noch mit semantischen Triggern vermengt (“Wachstum”, “Islamisten”, “Kommunismus”), deren Effekt jede Vermittlung von Inhalten zunichte macht.

Wo ist die Aufklärung über Veränderungen in den “Narrativen”, der großen Erzählung, in die Inhalte eingepasst werden müssen, um ‘glaubwürdig’ zu wirken? Beispiel: Wenn morgen Aliens auf der Erde landen, wird das zunächst niemand glauben, weil noch nie welche gesehen wurden. “Es gibt keine Aliens auf der Erde”, ist der Konsens. Was davon abweicht, wird nicht geglaubt. Es gibt eine ganze Menge solcher Aussagen (“Wachstum ist etwas Gutes”), die ebenso wirksam sind. Während Interessengruppen alles tun, um diese Narrative zu beeinflussen, weiß kaum jemand, dass und wie sie funktionieren.

Traurige Kapitel

Kommen wir kurz zum traurigsten Kapitel: “Ökonomie”. Jeder Wissenschaftler eines beliebigen Instituts kann das Kartenhaus „Neoliberalismus“ mühelos zum Einsturz bringen. Dessen Annahmen, Zirkelschlüsse und sprachliche Verkommenheit halten einfachsten Überprüfungen nicht stand. Obendrein sind 30 Jahre empirischer Feldforschung genug um zu sehen, dass dieser Quatsch fatal in die Irre führt. Warum machen das eigentlich nicht Erstsemester aller Studienrichtungen als Fingerübung?

Worauf ich aber vielmehr hinaus will: Wo bleibt eine Wirtschaftswissenschaft? Warum gibt es keine? Wo sind die kreativen Modelle alternativen Wirtschaftens? Wo der Streit um die stimmigen Ideen für ein nachhaltiges Wirtschaften, frei von den Dogmen des Kapitals? Wo die Ansätze für zweite, dritte und vierte Wege? Gibt es niemanden in den Universitäten, den das interessiert?

Oder wo bleibt eine fundierte Religionskritik, die sich wenigstens halb so viel Mühe macht wie die verschrobenen Institute der Konfessionen? Die analysiert, welche Wege Religiosität geht, was aus ihrem Rückgang resultiert und wie man diesen nach Kräften fördern kann? Wo sind die Erkenntnisse über die Bedürfnisse, die Religion scheinbar befriedigt und wie man das in einer aufgeklärten Welt auffangen kann?

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass uns die Wissenschaft ganz en passant weggestorben ist, noch ehe die Katastrophe von Bologna akademischer Alltag wurde. Wer einen kennt, der irgendwo lehrt, kann ja mal fragen, was mit denen los ist. Vielleicht atmet da ja doch noch wer.