Jay Jay Jessen brodert: Kapitalismus ist schlechter Sex.
Posted by flatter under JournalismusKommentare deaktiviert
25. Aug 2009 22:43
Wie immer gut gemeint und gnadenlos dabenen gemeiert doziert Jens Jessen heute den Kapitalismus in die Flucht. Die erste Hälfte seiner erkenntnisreichen Odyssee hart am Rande vorwissenschaftlicher Strände verbringt er damit, den Kapitalismus der Kritiker zu haluzinieren, um ihn sogleich als Spuk und Gespenst zu entlarven. Anstatt nun aber an seinem Vorgehen, seinem Wissen oder seiner kognitiven Potenz zu zweifeln, kommt er zu dem Schluß: Das gibt’s doch gar nicht.
Die Technik ist nicht neu, Broder macht das in allen seinen Artikeln so. Jessen ist dabei aber weder raffiniert noch bösartig, nur aus Unwissenheit und nur ein wenig borniert. Entweder hat er nichts von dem gelesen, was er da am Rande auffährt oder er hat es einfach nicht kapiert.
Ein paar Kostproben:
“Jede Diktatur in der Dritten Welt, die Unterdrückung der Frau, der schlechte Sex, alles war vom Kapitalismus herbeigeführt.”
Ach ja, und ich dachte, Kuba gelte als Diktatur. Den Zusammenhang zwischen Sex und Kapitalismus habe ich so noch nicht entdecken können. Vielleicht eine Karikatur? Auf der wir dann feste rumhopsen? Wo ist der Sinn? Ich habe allerdings die Befürchtung, daß am Ende Marcuse gemeint ist. Sollten Sie mal lesen, Herr Jessen, Kant und Freud anbei, dann fällt vielleicht ein Groschen.
“Alle offenen oder versteckten Mängel unserer Gesellschaft hatten mittelbar oder unmittelbar mit den Profitabsichten der Kapitaleigner zu tun; selbst scheiternde Liebesbeziehungen wurden dem warenförmigen Charakter zugeschrieben, den der Kapitalismus bis in die Psyche der Menschen trage.”
Ja, wenns ihm nicht gefällt, dann soll er’s doch kritisieren. Aber wenn jemand einen Schmarrn über mein Auto redet, folgt daraus dann, daß die Karre nicht existiert? Jessen bemüht sich weder um die Differenz zwischen dem Geschwafel betrunkener Hippies und philosophischen Schriften, noch entwickelt er ein auch nur schemenhaftes Verständnis von einem “System”.
Sehr gnädig lesend, könnte man also feststellen, er referiere eben über das allgemeine Gerede.
So einfach will er aber nicht verstanden werden, vielmehr erhebt er einen luftig hohen Anspruch:
“Denn wunderbarerweise enthält die Wissenschaft gar keinen Hinweis darauf, dass es sich bei dem Kapitalismus wirklich um ein System handelt. Das System ist, wissenschaftlich gesehen, nur ein Denkmodell, das dazu dient, bestimmte Abhängigkeiten und Wechselwirkungen vor Augen zu führen. Und nicht einmal von dem Kapitalismus als Begriff kann man sagen, ob ihm ein Wesen in der Wirklichkeit entspricht.”
Kopfschmerzen!
Wer, was, wo ist in diesem Zusammenhang “die Wissenschaft”? Marx? Parsons? Luhmann? Oder doch eher Döpfner? Was Jessen da über “Das System” brabbelt, haut ihm jeder Student im Soziologie Grundstudium um die Ohren. Was er schließlich über den “Begriff” sagt, ist auf demselben Niveau. Ganz gleich ob man mit dem Dualismus Begriff/Bedeutung operiert, postmodern “dekonstruiert” oder auch mythologisch die Zeichen göttlicher Offenbarung in Ähnlichkeiten sucht – das entsprechende Wesen in “der Wirklichkeit” spielt da keine Rolle. Das Problem mag darin bestehen, daß alle diese Systeme keine Rücksicht auf Jessens Wirklichkeit nehmen. Und psst … erzählt ihm bloß nicht, daß Wirklichkeit womöglich bloß ein Konstrukt ist!
Am Ende muß auch noch Max Weber herhalten, um die Nichtexistenz des Kapitalismus zu bezeugen, obwohl jener diesen ausdrücklich religionssoziologisch rekonstruiert. Das wäre doch wenigstens etwas gewesen, die Gier der Manager mit der protestantischen Ethik zu erklären – oder das alles zu widerlegen. Aber es ist doch wesentlich schwieriger, eine Theorie zu verstehen als ihren Autor zu erwähnen.
Setzen, sechs! Ob es für Jessen den Kapitalismus gibt oder nicht und was daraus folgt, ist schlicht irrelevant. Immerhin hat er sich bemüht, die vermeintlich an ihn gestellten Anforderungen zu erfüllen. Er hat die Welt so erklärt, wie es der Herrschaft gefällt und dem Volke eingeht. Wäre die Erde eine Kugel, so lernen wir einmal mehr, fielen die Menschen hinunter.
August 26th, 2009 at 01:11
hmm.. als absoluter Wirtschafts-Volldepp meine ich den Zeit-Artikel verstanden zu haben *schäm*. Ist halt ein eher assoziativer, künstlerischer Ansatz, was ich ok finde, solange nicht Theorie drübersteht. Sehe ihn auch als Pamphlet wider den öden Geschmack, wobei der Schreibstil diesen irgendwo auch nachahmt…
Ich kann im Kapitalismus auch kein System erkennen, außer dem elementaren Drang, dem Chaos durch Selbsterhaltung zu entgehen. Der ist ontologisch in sich selbst gerechtfertigt und bedarf nicht der Theorie über sich selbst, eher sind da Theorien zu seiner Überwindung gefragt. Soweit mein unqualifizierter Senf dazu.
Kann aber verstehen, wenn Leute vom Fach ihm eine reinwatschen.
Sorry, wenn das jetzt voll daneben war^^
August 26th, 2009 at 10:03
ich kann einen -ismus allerdings auch nicht ohne Theorie begründen. da dürfte wohl das Problem liegen.
Im übrigen sei jedem überlassen, ob er etwas versteht oder nicht, etwas erkennt oder nicht. Wenn er allerdings nix erkennt, nix versteht und keine Theorie hat, möge er die Öffentlichkeit nicht belehren wollen.
August 26th, 2009 at 11:18
Man hüte sich vor den Doppel-”J”s in der ZEIT, ob Jens Jessen oder Josef Joffe. Ich brauche nur zu sehen, dass JJ über einem Artikel steht und schon habe ich wieder Zeit gespart, weil ich das Zeugs dann nicht lesen muss. Aber wie heißt es über einen der JJ in Wikipedia:
“Josef Joffe ist in zahlreichen Kuratorien und Gremien engagiert …”. Gut, der Eintrag zu Jens Jessen ist kleiner, aber immerhin: “Er ist Enkel des nationalsozialistischen Wirtschaftsprofessors und Widerstandskämpfers gegen das Hitler-Regime Jens Jessen”.
Wer fragt da noch nach Qualität? Oder sauberer Argumentation? Oder einer Befähigung zum Journalisten? Da hat man doch die Lizenz zum Schwafeln und hält sich am Ende selbst noch für eine Edelfeder. Mindestens adelt man sich noch mit dem Attribut “umstritten”.
August 26th, 2009 at 12:49
Geht es dem Autor nicht gerade darum, dem Kapital den -ismus abzusprechen?
Und nein, ich werd ihm schon nicht auf den Leim gehen, habe mich auch nicht belehrt gefühlt.
August 26th, 2009 at 14:32
@glupsch: Das stimmt, aber damit begibt er sich in Opposition zu Heerscharen von Wissenschaftlern, von denen er zwar nichts weiß, deren Existenz er aber leugnet. Ich leugne hiermit die Existenz von Jens Jessen.
August 26th, 2009 at 21:40
Wunderschön ist der Satz:
“Und nicht einmal von dem Kapitalismus als Begriff kann man sagen, ob ihm ein Wesen in der Wirklichkeit entspricht.”
Alle Wissenschaft ist also erfundener Quatsch und die “Wirklichkeit” muss sich ihr annähern?
Unglaublicher Stuss, der da ohne jeden Feynsinn verzapft wird.
August 26th, 2009 at 21:44
“Die Zeit” ist ja nun nicht die Drehscheibe der Wissenschaft, das war sie nicht einmal unter Dönhoff. Schmidt hat sie zur Illustrierten degradiert, also passen die banalen Ergüsse eines nicht existenten Schreibers irgendwo auch ganz gut da rein.
Ich muss mich wohl entschuldigen, hier so reingetapert zu sein. Meine ersten Lehrmeister waren eben nicht Marx und Keynes, sondern Dickens und Teilhard. Das prägt. Und deshalb werde ich auch nicht einem noch so verirrten Herrn Jessen das Recht auf Existenz streitig machen :-P