Hartz IV – ein Rückzugsgefecht
Posted by flatter under JournalismusKommentare deaktiviert
18. Mai 2009 23:23
Christoph Seils gibt sie auf, die gute Agenda, die ihm doch so sehr ans Herz gewachsen war. Nachdem er den neoliberalen Kurs der Regierungen Schröder und Merkel lange mit Zähnen und Klauen verteidigt hat, um sich zuletzt in eine blinde Verehrung des Finanzkrisensymptoms Steinbrück zu flüchten, geht ihm nunmehr ein laues Lichtlein auf. Seine satte Kehrtwende legt er in die Worte:
“Die “Marke” Hartz IV ist verbrannt. Was von der ursprünglichen Idee noch übrig ist, lässt sich politisch nicht mehr gestalten. Wenn die künftige Bundesregierung in der Arbeitsmarktpolitik einerseits wieder handlungsfähig werden und anderseits die Langzeitarbeitslosen von dem Stigma befreien will, wird sie das Arbeitslosengeld II wieder abschaffen müssen.”
Nun haben wir ihm das schon seit Jahren einbleuen wollen, aber späte Erkenntnis ist allemal besser als gar keine. Er muß sie sich freilich so zurechtlegen, daß er sie noch erträgt und analysiert:
“Es würde angesichts von drohenden Massenentlassungen auch gar keinen Sinn machen, den Druck auf Arbeitslose weiter zu erhöhen. Die Hartz-IV-Reform konnte ihre Wirkung, wenn überhaupt, nur in der Aufschwungphase entfalten.”
Wirklich überraschend an diesem Satz ist das “Wenn überhaupt”, das Zweifel am eigenen Kurs impliziert. Sollte es so gemeint sein, Respekt! Ich zweifle allerdings daran, daß ein eindeutig positionierter Schreiber wie Herr Seils wirklich so etwas wie einen kritischen Geist entwickelt. Ich glaube eher, daß er auf den nächsten Zug bürgerlich-liberaler Arbeitspolitik wartet, um dort aufzuspringen und ordentlich anzuheizen. Wie dem auch sei – geben wir ihm eine Chance!
Die Sprachregelung, sollte sie sich denn durchsetzen, ist akzeptabel und überzeugend. Spätestens in einer Rezession sollte die Vokabel “Eigenverantwortung” im Zusammenhang mit Arbeitslosigkeit aus der öffentlichen Debatte verschwinden. Der Markt, die Wirtschaft, die Gesellschaft müssen neu organisiert werden, nicht der Eifer der Betroffenen.
Diese Atempause, die sich selbst die zahlreichen Ruinen der neoliberalen Presse also gönnen können, in der sie ihre Hatz auf die Hartzer einstellen dürfen, sollte ein wenig zur Klarstellung der wahren Verhältnisse beitragen. Vielleicht fällt es dann beim nächsten “Aufschwung” nicht mehr ganz so leicht, die Verlierer des Grand Prix du Capitalisme pauschal als “Sozialschmarotzer” zu beschimpfen.
Mai 19th, 2009 at 06:15
Und was ist mit der Verantwortung für das Desaster?
SPD, Grüne, Union oder FDP wählen?
Mai 19th, 2009 at 08:12
“Eigenverantwortung” ist sowieso ein Unwort, das Rücksichtslosigeit und Egoismus impliziert.
Ich favorisiere eher den Begriff “Mitverantortung”, der beinhalten würde, dass sich jeder Gedanken darüber macht, welche Auswirkungen seine persönlichen Entscheidungen auf das große Ganze haben.
Ein wenig mehr “Mitverantwortungsgefühl” hätte vor allem unseren selbsternannten “Eliten” in Politik und Wirtschaft nicht schaden können – leztztendlich haben ihre Entscheidungen aufgrund des politischen und finanziellen Gewichts zu der verheerenden wirtschaftlichen Lage geführt, in der wir uns jetzt befinden. Freilich sind die Entscheidungsträger von deren Auswirkungen am wenigsten betroffen – und wenn doch, dann wohl eher in ihrer positiven Auswirkung – wie Frau Wagenknecht in einem ihrer Vorträge einmal erwähnte, verschwindet ja Geld nicht einfach, es wechselt nur den Besitzer…
Mai 19th, 2009 at 09:22
Ja, sehr fein, dass da späte Erkenntnisse wachsen. Was mich stört an dem Artikel ist, dass der Autor so tut, als wäre dieses Gesetzeswerk irgendwann mal was vernünftiges gewesen und die anhängigen Prozess bei den Sozialgerichten eine Folge der Veränderung der Hartz IV Gesetze. Das nervt mich beim Lesen gewaltig. Es klingt danach, dass er sich zwar der Macht des Faktischen beugt aber im Herzen voll hinter diesem Machwerk steht, wäre es nur so, wie es mal geplant war.
Die “Nachbesserungen” sind ja eine Folge der unzähligen Prozesse einerseits und dem Versuch der Politik die verfassungwidrigen Teile irgendwie im Nachhinein zu legitimieren. Mal abgesehen davon, gibt es gerade bei den “Nachbesserungen” einiges, was einem sehr übel aufstößt. Und es liegt ja noch so einiges in den Schubladen.
Also ganz nett, was der Mann da schreibt, aber seine Überzeugung, dass es richtig war, diese Menschenentwürdigung einzuführen. Massenarbeitslosigkeit hatten wir die ganze Zeit und die Haltung, dass jeder eine Arbeit finden kann, wenn er oder sie nur wollte, war und ist zynisch angesichts einer Gesellschaft die immer weniger Menschen braucht, um immer mehr produzieren zu können.
Und, was er selbst andeutet, wer weiß schon so genau, was danach kommt. Private Arbeitslosenversicherung? Sozialleistungen gegen Arbeitsdienst (dafür gibts ja schon einen Referentenentwurf)
Mai 19th, 2009 at 09:32
Das wirklich witzige an der Diskussion ist, das es schon seit Jahren ein vom WiMi beauftragtes Gutachten gibt, das belegt, das von den Arbeitsmarkt-”Reformen” keinerlei positive Wirkung ausgeht.
https://www.fr-online.de/in_und_ausland/politik/dokumentation/?sid=b3b39749091d73dd649e6f2e9650be56&em_cnt=1250723
Dieser wurde und wird aber von den Agenda-Rittern verschwiegen. Sicherlich aber reiner Zufall.
Mai 19th, 2009 at 09:43
[...] von somluswelt am 19. Mai 2009 Ich kenne Christof Seils nicht. Laut Feysinn ist er ein großer Verfechter der Agenda 2010 und rudert jetzt ein bisschen zurück. Es würde [...]
Mai 19th, 2009 at 10:41
[Link zum Artikel von "Kritik und Kunst"]
lg
Mai 19th, 2009 at 11:43
[...] https://archiv.feynsinn.org/?p=1112 [...]
Mai 19th, 2009 at 12:13
Ich habe schon gestern, wie gefolgt, den Artikel kommentiert:
“In der Umgestaltung der Hartz4-Gesetze steckt vor allem viel Angst drin, Angst davor, dass es nun manchen dämmert, was hinter so mancheiner Kampagne gegen Arbeitslose der letzten Jahre wirklich steckt und davor, dass die Erosion der Mittelschicht, die in den letzten Jahren im Zeitraffer passierte und wovon man nichts wissen wollte, nun mit voller Wucht sichtbar wird. Was aber immer noch bleibt ist die Armut, die dadurch verschärft wurde, von der man nach wie vor gerne ablenkt, da sie im Prinzip nichts weiter ist, als eine Nebenwirkung des irrsinnigen Strebens nach Exportüberschüssen (die nun auch ihrerseits für Probleme innerhalb der Wirtschaft sorgen, was man auch nicht gerne sagt). Und die Hetzer, die immer noch keine Gelegenheit auslassen, um rund 10% der Bürger dieses Landes aufs Übelste zu diffamieren, wo man sich schon gelegentlich im Jahr 1935 wähnt….”
Mehr gibt es auch dazu nicht zu sagen, ausser vielleicht noch, dass noch viel Wasser den Rhein hinunter fliessen muss, ehe unsere Politikerkaste so etwas wie einen unabhängigen ökonomischen Sachverstand entwickelt. Bis dahin ist in diesem Land alles überflüssig, was nicht direkt der Finanzwirtschaft und ihren Gönnern nützt. Deshalb sind auch die Bürger dieses Landes alles andere als systemrelevant, schliesslich zocken die kaum im Finanzkasino und verlangen auch noch unverschämterweise soziale Sicherungsnetze, die die Einnahmen der Reichen mindern.
Mai 19th, 2009 at 14:03
@8: “dass noch viel Wasser den Rhein hinunter fliessen muss, ehe unsere Politikerkaste so etwas wie einen unabhängigen ökonomischen Sachverstand entwickelt”
Woher sollen sie den auch kriegen? Wohin man auch blickt, Spezialexperten, die keine Ahnung haben. In erster Linie Betriebswirte, die ihre begrenzte Wissenschaft ruchlos auf die Volkswirtschaft übertragen. Und das geht natürlich in die Hose.
Mai 19th, 2009 at 16:53
[...] AW: Warum Hartz IV nach der Wahl abgeschafft wird. [...]
Mai 19th, 2009 at 17:07
Was kommt danach,wenn es so kommt?
Stallhaltung für Hartz 4ler nicht mehr interessant,
da als große Masse nicht mehr nutzbar da zu teuer.
Raus auf die freie Wildbahn damit,
soll’n Sie schaun,wie sie zurechtkommen.
Keiner ist mehr zuständig/verantwortlich.
“Grundsicherung” im Mini Format,
das Volk jubelt,die Hartz 4ler feiern die”Freiheit.”
Das Arbeitslosengeld I wird verlängert
und schon herrscht Ruhe.
Mai 19th, 2009 at 18:55
ich kenne da eine wand …