Gegen den Strich: Weder Markt noch Staat
Posted by flatter under WirtschaftKommentare deaktiviert
11. Mai 2009 0:22
Wenn es um “Regulierung” geht, werden gemeinhin “Staat” und “Markt” gegeneinander ausgespielt – Der Staat sei zu bürokratisch und der Markt sei völlig unfähig, sich sinnvoll und vor allem sozial zu reglementieren. Zweiteres betrachte ich als unzweifelhaft, ersteres ist allzu häufig auch richtig.
Was sich tendenziell als praktikabel und sinnvoll erweist, sind Gütesiegel, die von unabhängigen Institutionen vergeben werden und Verbrauchern die Möglichkeit geben, etwas über die Produktionsbedingungen der Ware zu erfahren, die ihnen angeboten wird.
Da ist zwar nicht alles Gold, was eine Medaille zeigt, aber es drängt zu eben der Transparenz, die weder Staat noch Markt wirklich herzustellen in der Lage sind. Ich habe häufiger das Problem, nicht mehr rechtzeitig zum Bäcker zu kommen und daher Brot kaufen zu müssen, von dem ich nicht weiß, wer es unter welchen Bedingungen gebacken hat. Da ich weiß, daß diese Branche gern Mitarbeiter ausbeutet, habe ich also die Möglichkeit, dies zu ignorieren oder ohne Brot auszukommen.
Für die “Entwicklungsländer” und einzelne Branchen oder Aspekte gibt es längst alle möglichen Siegel. Über Arbeitsbedingungen in Burkina Faso oder die Einhaltung von Ökostandards in den Industrieländern kann ich alles Mögliche erfahren, nicht aber über das Brot, das in Kaiserslautern gebacken wird oder die Jeans, die in der Türkei genäht wurde.
Ein Beispiel für solche Gütesiegel ist das Sozial-Label der Fair Wear Foundation (unter dem Link finden sich noch andere Labels). Unter den Kriterien sind “Keine extremen Überstunden”, “Sichere und gesunde Arbeitsplätze”, “Zahlung des Existenzminimums”.
Was das im einzelnen heißt, ist noch zu hinterfragen. Vor allem aber läßt es sich sinnvoll erweitern, wenn man wissen will, ob das Geld gut investiert ist. Würde man nämlich etwa die Zahlung ausweisbarer gerechter Mindestlöhne zum Kriterium machen, kann jeder Kunde wissen, ob er sich selbst das Wasser abgräbt, indem er Ware kauft, die von zwangsinsolventen Arbeitnehmern produziert wurde. Man muß kein Gesetz erlassen und kann jedem Ausbeuter die Freiheit lassen, sich mit Leuteschinderei eine goldene Nase zu verdienen. Liberaler geht es nicht.
Würde sich eine solche Verbraucherkultur entwickeln, wäre das Dilemma gelöst zwischen undurchführbaren Totalboykotts und der bequemen “Man kann ja doch nichts machen”-Mentalität der Diskounterkunden.
Wen kann man dafür gewinnen? Es gibt ja nicht so furchtbar viele Ideen zwischen Politik und verantwortungsbewußter Wirtschaft, die derzeit diskutiert werden. Ausnahmsweise bitte ich einmal ganz offiziell um zahlreiche Verlinkung. Die Bloggerei kann doch gelegentlich für etwas gut sein. Überdies wäre ich auch sehr erfreut über Hinweise auf Menschen und Institutonen, die derartiges fördern könnten.
Mai 11th, 2009 at 00:43
Hier: https://www.aktiv-gegen-kinderarbeit.de/firmen/firmenliste sollte man sich auch immer mal umschauen.
Mai 11th, 2009 at 01:06
Vielleicht darf ich dazu auf eine Idee verweisen, die mir in diesem Zusammenhang in den Sinn kam: https://neuethesen.de/wirtschaft-und-arbeit/scoring-fuer-unternehmen
Mai 11th, 2009 at 01:38
Ich finde den Artikel richtig, und das thema lag mir schon lange auf der Seele.
Ich kenne die fleischverarbeitende Industrie in ganz Europa als Insider. Mit den Jahren sind so einige Eindrücke uber diese Arbeitswelt und deren Bedingungen zusammengekommen. Ich habe da mein persöhnliches Ranking erstellt. Zu meinen bevorzugten Lebensmittellieferanten zählen immer die Handwerksbetriebe. Egal ob Bäcker oder Metzger. Dann sind da die Lebensmittelketten, über deren Produktionsmethoden ich einiges weiss.
An erster Stelle ist da der Marktführer zu nennen. In seinen 18 Produktionsstandorten werden ordentliche Löhne gezahlt, von denen es sich leben lässt. Nicht üppig aber deutlich über dem Existenzminimum. Auch die Nachahmer ( Famila , Feneberg) sind Ok, aber dann geht es auch schon los: ob Ledl, Uldi Morma usw. sie alle drücken bei den Lohnkosten, beschäftigen Leiharbeiter mitunter für 3,50€ / Stunde.
Der Frischfleischmarkt wird zu 70% von zwei Anbietern dominiert der eine aus Holland und er andere aus Rheda. Mir ist schon seit langem klar warum wir in Deutschland keinen allgemeinverbindlichen Mindestlohn haben. Ein Mindestlohn wäre der Untergang dieser beiden Player – aber Lobby sei Dank wird es nicht soweit kommen.
Bin gespannt ob es ein Lohnsklavenlabel geben wird.
Für weitergehende Informationen stehe ich zur Verfügung
Mai 11th, 2009 at 02:01
Das der Staat “zu buerokratisch” ist, sehe ich nicht. Das Problem ist wohl eher, dass er von Partikularinteressen unterwandert ist (gemeinhin Lobbyismus genannt), wie uns der/die jeweilige VerbraucherministerIn immer so schoen plakativ demonstriert.
Bei den “unabhaengigen Institutionen” mag das momentan nicht so sein. Aber spaetesten, wenn deren Guetesiegel irgendwan einmal tatsaechlich nennenswerten Einfluss auf die Konsumenten ausueben sollten, wird sich das aendern.
Dann werden eben teile der Geldstroeme, die heute in die Werbung fliessen, in eben diese Institutionen umgelenkt werden…
Mai 11th, 2009 at 05:45
[...] kann heute bei Feynsinn lesen. [...]
Mai 11th, 2009 at 07:55
@gordon
Die Idee ist gut, damit wären viele Schrottprodukte relativ schnell vom Markt verschwunden und viele Ausbeuterfirmen gäbe es in dieser Form gar nicht.
Die bestehenden politischen und wirtschaftlichen Bedingungen lassen es nur wie eine Utopie erscheinen, obwohl die Gesamtzahl der Verbraucher eine große Mehrheit stellt.
Es gibt so viele Menschen ohne Arbeit, wie kann man einige nur dazu bewegen, damit anzufangen. Muss man ja nicht dem Beamten auf dem Arbeitsamt als Geschäftsidee verraten.
;-)
Mai 11th, 2009 at 10:15
‘Transparenz der Ausbeutung’ – wann ist sie noch akzeptabel, wann nicht mehr? Wie definiert man ein ‘Existenzminimum’?, Was sind ‘extreme’ Überstunden, was weniger extreme? Wie ‘sicher und gesund’ darf es denn sein, ohne auf der anderen Seite gleich ‘unbezahlbar’ zu werden? Dürfen die, die ein bisschen mehr ausgebeutet werden, ihrerseits dann doch auch ein bisschen weniger bezahlen, also selbst auch mehr ‘ausbeuten’? Und der ‘Klassiker’: was ist ‘ein gerechter Lohn für ein gerechtes Tagwerk’? Wie ‘findet’ man ihn?
Das sind doch genau wieder die Fragen, auf die sich im Ware-Lohn-Kosmos noch nie eine ‘vernünftige’ Antwort hat finden lassen, die nicht letztlich schlichtweg durch Macht- und Kräfteverhältnisse bestimmt wurde – und eben der unabdingbaren Notwendigkeit von Ausbeutung in diesem Kontext. Und die ‘natürlich’ unter Konkurrenzbedingungen genau wie der Profit immer um Maximierung bemüht ist und sein muss. Solange uns die(se) Strukturen beherrschen, wird ‘Vernunft’ immer mit ‘Sachzwang’ kollidieren, und letzterer im Zweifelsfall immer die Oberhand behalten, auch ohne die in (3) ausgedrückten Befürchtungen. Da ist zum eine unsere Atomisierung (das ‘Individuum’ teilt sich zuallererst in Verbraucher und Produzent mit gegensätzlichen Interessen), zum anderen schlicht die Notwendigkeit, den Laden am Laufen zu halten, solange wir eben keine Alternative entwickeln.
Warum diese Scheu vor der Konsequenz, wenn man doch der Meinung ist, die Zustände seien ‘unhaltbar’? Kann man denn wirklich meinen, den immer aussichtsloseren Arbeitskampf dadurch wieder zu wenden, dass man ihm nun ausgerechnet dem Verbraucher mit seinem ganz anderen Interesse überträgt? Denn die im ersten Absatz aufgeworfenden Fragen sind nun mal die klassisch gewerkschaftlichen, und nicht die irgendwelcher ‘Ratingagenturen’. Das scheint mir nur noch aussichtloser zu sein…
Mai 11th, 2009 at 10:35
Gütesiegel wie Fair-Trade sind sicher nützlich. Immerhin tragen diese wenigstens zu einer gewissen “Lenkung” der Verbraucherströme bei.
Doch: Um wirklich Wirkung zu entfalten, und diesen “Effizienssteigerungswahn” zu beenden, taugen sie nur wenig.
Allein hierzulande gilt die Devise: Wirtschaft hat Vorrang. Da werden Projekte installiert (dafür werden Orts-Satzungen geändert, aus Außenbereich wird nach städtebaulicher Planung – Innenbereich, da gilt kein Nachbarschutz – die Bevölkerung wird praktisch entmündigt – ein einziger Investor kann bauen was ihm Geld bringt), die unter dem Laibel “Erneuerbare Technologien” und “Steigerung der wirtschaftlichen Effizienz auf dem Lande” firmieren wie beispielsweise Geflügelmast-Anlagen mit bis zu 700 000 Stück Besatz und dazu baut man gleich mehrere Biogasanlagen.
Effekt: Geflügelmast + Biogasanlage + riesige Monokulturen (Maisanbau für Einstreu in die Geflügelmast-Anlagen, der dann nach 30 Tagen -Hähnchenstod- in der Biogasanlage verbrannt wird. Damit erzeugt man Strom, der nur dazu dient, um ins öffentliche Netz eingespeichert zu werden.
Einziger Effekt: der Betreiber kassiert die Einspeisevergütung.
Der Staat, dem bis 90 Prozent der Flächen gehören, die nur einige Wenige (!) pachten bzw. kaufen können, könnte hier ordnungspolitisch lenken. Das tut er auch, da wird Politik gemacht nach “Gutsherrenart”.
Es geht nicht um Ökologie, es geht um Gewinnmaximierung!
Insofern betrachte ich Ihr Eingangsstatement: “Wenn es um “Regulierung” geht, werden gemeinhin “Staat” und “Markt” gegeneinander ausgespielt – Der Staat sei zu bürokratisch und der Markt sei völlig unfähig, sich sinnvoll und vor allem sozial zu reglementieren” als nicht zutreffend. Hier arbeiten Staat und Wirtschaft wunderbar zusammen.
Mai 11th, 2009 at 11:32
Ausprobieren vor Diskutieren.
Warum nicht. Nicht alle Labels die im Umlauf sind waren erfolglos.
@Peinhard
Da ist zum einen unsere Atomisierung.
Manchmal neigt man dazu eigene Probleme anderen vorzuwerfen.
Mai 11th, 2009 at 12:30
@antiferengi
Inwiefern siehst du darin einen Vorwurf, und inwiefern sollte es sich dabei um ein ‘individuelles’ Problem und nicht um eines des ‘Setup’ handeln? Du bist als Produzent an hohen Erlösen interessiert, als Verbraucher an niedrigen Preisen. ‘Individuell’ ist daran nur, wie du diesen Konflikt auflöst, dh wieviel Ausbeutung du bereit bist, dir selbst und/oder anderen zuzumuten. Dein Spielraum wird unter den herrschenden Verhältnissen aber immer geringer sein als bspw in freier Abrede, vordergründig schon weil das Kapital immer erstmal seine Rechnung aufmacht.
Mai 11th, 2009 at 13:42
Schon vor nahezu 30 Jahren versuchte ich einigen aus meiner Familie zu erklären, dass es auf Dauer nicht gut gehen kann, für sich den größtmöglichen Lohn für seine Arbeit einstreichen, aber beim Einkauf immer den möglichst billigsten Preis zu bezahlen. Leider gelang mir dies nicht. Nicht in meine schlimmsten Träumen konnte ich mir ausmalen, wohin dieses Denken führen wird.
Leider haben die meisten Menschen verlernt zwischen billig und preiswert zu unterscheiden.
Liebe Grüße
Margitta Lamers
Mai 11th, 2009 at 13:55
@Peinhard
Neee, – mach mal langsam :-)
Hier gehts doch nur um ein Siegel, welches vielleicht was bewirkt. Kein Grund gleich eine Gesellschaftsstudie daraus zu machen, und durch zuviele Fragen ins Nichts zu katapultieren.
Immerhin ist es eine der wenigen konstruktiven Ideen, welche wir seit Monaten zu hören bekommen.
Mai 11th, 2009 at 17:23
Ja, du hast ja recht – meine verdammte Ungeduld mal wieder… ;)
Andererseits scheint mir schon etwas die Zeit davonzulaufen… :( Und ich würde daher und aus den schon genannten Gründen auch nicht zuviel Zeit und Energie da rein stecken.
Mai 11th, 2009 at 17:50
[...] nicht die gesellschaftlich wünschbaren Ergebnisse hervor bringt, hilft nur eines: Transparenz. feynsinn hat sich zu dem Thema ein paar Gedanken gemacht, die auch mich bewegen. Geschrieben von ulysses in Demokratia – Δημοκρατία, [...]
Mai 11th, 2009 at 20:27
[...] Linktips, die ich positiv werte. Auch hier geht es um Etiketten. Feynsinn wirbt für neue << Etiketten und Gütesiegel >>, um einmal einen anderen Weg zu gehen bei dem Versuch, endlich mal wieder eine soziale Komponente [...]
Mai 12th, 2009 at 10:58
Der Losung ‘Weder Markt noch Staat’ mag ich mich übrigens durchaus anschliessen – die Suggestion, dies seien Gegensätze oder gar Alternativen, führt vor allem dazu, dass die Verteidiger einer ‘marktstaatlichen Ordnung’ – und die gegenwärtige ist eben eine solche – immer auf die eine oder andere Weise recht behalten dürfen.