freudmindEs ist schon traurig. Wenn man sich da draußen so umschaut, finden sich Gläubige aller Art, die sich dennoch anmaßen “kritisch” zu sein. Als sei es schon ein Beleg für kritisches Denken, dass man gegen den Mainstream ist oder nicht glaubt, was in der Tagesschau erzählt wird. Nein, das ist nicht kritisch und keinen Deut besser, wenn man nicht bereit ist, sich selbst zu hinterfragen, offen zu sein für neue Erkenntnisse und die Überprüfung dessen, was man einmal für “wahr” genommen hat. Das wäre kritisch, und das ist übrigens der Geist der Wissenschaft, wie sie sich von der Renaissance in die Moderne hinein entwickelt hat. Wer allerdings das ‘wissenschaftliche’ Establishment nicht von der Wissenschaftlichkeit selbst unterscheiden kann, für den ist Sozialismus auch DDR (böse) und Demokratie Helmut Kohl (gut).

Der Anfang der modernen Wissenschaft ist das rationale Experiment – eine gedankliche Leistung, die im Mittelalter noch als Wahn gegolten hätte. Man stellt eine These auf und sucht nach Methoden, diese praktisch zu überprüfen. Ein Verfahren, das vor allem die Naturwissenschaften voran brachte, ist es doch auf die Anwendung von Technik und deren Verfeinerung angewiesen. Obendrein bieten mathematische Verfahren im Zusammenhang mit Messtechnik eine quasi beliebige Exaktheit, die zu wiederum klar bewertbaren Aussagen führt. Inzwischen können wir in Echtzeit mit Australien chatten, zum Mond fliegen und haben viele der furchtbarsten Infektionskrankheiten beinahe ausgerottet. Dies ist unmittelbar auf die Entwicklung von Wissenschaft und Technik zurückzuführen.

Geisteswissenschaften und “Menschenverstand”

Der Versuch der Geisteswissenschaften, damit Schritt zu halten, darf als weitgehend gescheitert betrachtet werden. Es liegt in der Natur der Sache, weshalb im angloamerikanischen Sprachraum auch unterschieden wird zwischen “Arts” und Science”. Es ist nicht möglich, Gemeinschaft, Kommunikation, Anpassung oder Meinung exakt zu messen. Die Rolle der Definition in vorgeblich quantitativen Methoden der Geisteswissenschaften führt daher oft zu Resultaten nach sprichwörtlicher Beliebigkeit. Während in den Naturwissenschaften eine Wahrnehmung oder Messung ausgewertet wird, muss ich hier schon vorher wissen, was ich beobachten will.

Zu erhellenden Einsichten kommen die “Künste” dennoch, wo sie sich historischer Entwicklungen annehmen, sie beschreiben und auswerten. Was hat wozu geführt, welche Bedingungen zeitigen welche Entwicklungen, wie nahm sich zu einer bestimmten Epoche das Denken selbst wahr, wie beschreibt sich der belesene Betrieb und was folgt daraus für all das, was noch als “vernünftig” gilt? Wo sind die Tabus, wie werden sie begründet, was gilt als richtig oder falsch und wann hat sich unter welchen Umständen diese Geltung verändert? Solche Fragen kann gründliche Geisteswissenschaft beantworten, zwar nicht exakt, aber plausibel. Sie trägt daher durchaus Züge dessen, was auch der gemeine “Menschenverstand” kennt.

Behält sich Wissenschaft ihren kritischen Grundansatz – den Zweifel, die Frage, ob etwas so ist oder anders -, ist sie ein Motor des Fortschritts. Verbarrikadiert sie sich hingegen in Dogmen und Abwehrschlachten, um vermeintlich gültiges Wissen gegen Erneuerung zu verteidigen, wird sie zum Herrschaftsinstrument, zur Mythologie, zur Religion.

Moderne Mythologie

Die Zeremonienmeister schaffen es derweil, die Errungenschaften ihrer Zunft virtuos klein zu machen. Es ist durchaus nicht so als wüsste man nichts über Wirtschaftskreisläufe und die Resultate bestimmter Vorgänge ‘am Markt’. Dennoch hat sich in den vergangenen Jahrzehnten eine Riege von Dilettanten in der Öffentlichkeit breit gemacht, die Angehörige anderer Berufsgruppen glauben machen, als “Wirtschaftswissenschaftler” müsse man einen hohen Grad geistiger Versehrtheit schon mit ins Studium bringen.

Und auch die Mediziner zum Beispiel haben sich Witze verdient. Verkürztes Beispiel: Ein Klempner wird zu einem Arzt gerufen, der einen Wasserrohrbruch im Keller hat. Der Klempner wirft ein paar Dichtungen ins Wasser und sagt: Wenn es bis Montag nicht besser ist, rufen Sie noch mal an!

brainpipeBeide Beispiele deuten darauf hin, dass der Wissenschaftsbetrieb und die daraus folgende Praxis bedauernswerte Zustände zeitigen. Dies ist aber gerade kein Hinweis darauf, dass Wissenschaftlichkeit als solche abzulehnen wäre. Im Gegenteil zeigen sie, dass einerseits die Wissenschaft permanent ihr Niveau unterschreitet und sich eher Cliquen von Verkündern bilden und dass anderereits der Übergang von wissenschaftlichen Erkenntnissen zur alltäglichen Praxis arg vernachlässigt wird. Er sollte aber selbst Gegenstand wissenschaftlicher Forschung und Methodenentwicklung sein. Dies würde freilich eine Kaste elitärer Narzissten ebenso methodisch vom Sockel stürzen.

Der organisierte Zweifel

Die Abwehrreaktionen auf eine Wissenschaft, die keine mehr ist, weil sie auf den kritischen Selbstbezug verzichtet, sind ebenso bedauerlich. Die einen übernehmen die Überheblichkeit des Betriebs, setzten den Stand ihrer Kenntnisse zum Standard und erwarten ernsthaft von allen anderen, sich diesem anzupassen. Dies ist leider ein Standardverfahren von Marxisten, aber auch von Keynesianern und anderen -isten und -ianern.

Noch lustiger wird’s dann mit Esoterikern und Mythologen aller Art, die sich ernsthaft als ‘kritisch’ betrachten, weil sie gleich jedes Hinterfragen ihrer Methoden ablehnen und sich auch nicht dafür interessieren, aus welchem historischen Kontext ihr Omm-omm stammt. Sie sind ja meist nicht einmal für die Frage zu gewinnen, wer mit ihrem Geisterglauben schnöden Mammon macht. Wenn der Zweifel an den Wissenschaften also in die Auslöschung jeden Zweifels am eigenen Weltbild führt, kann man nur noch abwinken.

Der organisierte Zweifel ist Basis jeder Wissenschaft sowie jedes kritischen Denkens, hier besteht keinerlei Widerspruch. Dass aber der Zweifel eingedämmt werden muss, wenn man als denkende Person nicht irre werden soll, versteht sich ebenso von selbst. Es bedarf daher eines Maßes an (Selbst-)Zweifel, das einerseits noch Raum lässt für Neues und Anderes, andererseits aber ein konsistentes Denken zulässt, das nicht noch zu hinterfragen hätte, ob Wasser nass ist. Diesen Zweifel auszutarieren ist die Kunst, die Kommunikation erst ermöglicht. Dogmen jedweder Art sind hier Fehl am Platze. Wer nicht zweifeln will, kommuniziert nicht. Er bleibt wirkungslos oder er herrscht.