Fragt man heute Hauptschulabgänger danach, was “Exxon Valdez” bedeutet, wissen die beleseneren unter ihnen, daß es sich dabei um einen Fußballspieler handelt. Man würde ihre Leistung mit “drei plus” einstufen, da es sich immerhin bei beiden Valdez um Großkatastophen handelt und die Schüler ihr Ziel ebenso stets knapp verfehlen wie Nelson Valdez und der Öltanker. Letzterer zwar nur einmal und vor 20 Jahren, dafür aber umso gründlicher. Diese Bewertung paßt bestens in System, das planlos “Leistung” abruft, zu der sie nicht ausbildet, weil sie keine Zusammenhänge herstellt. Vor allem einen nicht: Den zwischen der Schule und dem Leben.
Zurecht bemängeln Andreas Poltermann und Stephan Ertner in der FR die “Erfolge” vor allem der Hauptschulen und daß sich ein riesiger Bodensatz von Abgehängten bildet, die schon nicht mehr fähig sind, eine Tageszeitung zu lesen. Das Drama beginnt aber nicht in der Hauptschule, und es ist nicht damit getan, einige weitere “Reformen” über die Schulen ergehen zu lassen. Das Leistungsprinzip als solches taugt nichts. Wenn zur Leistung erzogen und auf Leistung gelehrt wird, am Ende aber nicht einmal Leistungsfähigkeit dabei herumkommt, hat das Prinzip völlig versagt. Nicht nur die Hauptschulen gehören abgeschafft, sondern das Leistungsprinzip, zumindest in den unteren Klassen.

Erziehung zur Nützlichkeit

Es gibt hervorragende Lern-und Bildungskonzepte, die nicht ins System passen. Sie passen vor allem deshalb nicht, weil sie fördern und fordern, nämlich die Kreativität aller Beteiligten. Wenn Lehrer so gern zu Protokoll geben, was sie “nicht leisten” können, liegt das nicht nur daran, daß sie sich das Versagen des Systems nicht eingestehen wollen. Es liegt vor allem daran, daß sie die Phantasie für Alternativen nicht aufbringen. Wie denn auch? Verzahnte Lehrpläne, ein starrer Beamtenapparat, normierte Leistungsanforderungen, die dann nicht in Leistungs- sondern in Jahrgangsklassen beackert werden. Dümmer geht’s nimmer.
Warum wird in Grundschulen so wenig gespielt? Ein sechsjähriges Kind hat das Recht und das Bedürfnis zu spielen. Der Spieltrieb ist eine grandiose Motivation zu lernen. Die kindliche Neugier ein gigantischer Fundus an Lernbegierde. Wo sind die Konzepte, die dies aufgreifen? Wo findet eine ausgewogene Mischung aus Spiel und Wissensvermitllung statt? Etwa in den lächerlichen “Projektwochen”, wo Schüler plötzlich Eigeninitiative zeigen sollen, die man sonst systematisch unterdrückt? Die “Pädagogik vom Kinde aus”, auch “Reformpädagogik” genannt, ist so betagt wie der schulische Beamtenzirkus und wurde im Bildungssystem schmählich vernachlässigt. “Bildung vom Menschen aus” ist nur noch Utopie. Weder Humboldt noch die Reformpädagogik wurden so weiterentwickelt, daß man heute noch etwas von den guten Ideen und Vorsätzen wiedererkennen kann. Es wird zur Nützlichkeit erzogen, belehrt und zugerichtet. Der “Nutzen” selbst hat sich dabei noch weiter vom Menschen entfernt als die schulische Praxis: Es ist die Nützlichkeit im Wirtschaftssystem, worin das Ziel der Veranstaltung besteht.
Das Versagen ist allumfassend: Es werden eben nicht einmal die Kompetenzen vermittelt, auf die hingearbeitet wird, von sogenannten “sozialen” Kompetenzen ist da noch gar nicht die Rede. Warum quält man Schüler noch immer in solchen Schulen? Warum nimmt man nicht endlich zur Kenntnis, daß immer mehr Schüler völlig unmotiviert sind? Daß sogar diejenigen, die motiviert erscheinen, weil sie sich der Leistungsforderung beugen, nicht wirklich wollen, was sie da tun?

Schafft die Schulen ab!

Man hangelt sich von einer Pizzastudie zur nächsten, stellt fest, daß man noch mehr Mathematik, noch mehr Naturwissenschaften, noch mehr Textkenntnis braucht und ganz nebenbei natürlich auch höfliche wohlerzogene Kinder, die sich möglichst selbst gängeln sollen, weil weder Eltern noch Lehrer dieser Aufgabe mehr gewachsen sind. Das Ganze gemahnt an gängige Psychotherapien: Nach Jahren der Selbstoffenbarung und tiefsinniger Hirnschau ist der Klient “schon einen wichtigen Schritt weiter”. Welcher Therapeut wagt es festzustellen, daß der ganze Aufwand für die Katz war und weder das Problem noch eine Lösung wirklich erkannt wurden? Irgendwer zahlt ja dafür.
Zehn bis dreizehn Jahre Schule sind bislang Standard. Was dabei herumkommt, ist haarsträubend. Zehn Jahre jeden Tag, meist sechs Stunden plus Hausaufgaben und jetzt auch noch “Ganztag”. Dabei bleibt mehr auf der Strecke, als originär schulisch gelernt wird. Ich bin beinahe geneigt zu behaupten, daß eine ersatzlose Abschaffung aller Schulen ein Segen für die Menschheit wäre. Das durchschnittliche Leistungsniveau würde darunter vermutlich nicht einmal leiden. Und unsere Schulen sind so großartig, daß sogar das beste Argument dagegen nicht mehr sticht: Daß die “bildungsfernen” Schichten unter der totalen Schullosigkeit am meisten leiden würden. Das können die vorhandenen Schulen nämlich auch so bestellen.
Woran an eine echte Reform scheitert, liegt auf der Hand: Schüler und Eltern haben keine Lobby. Sie stehen gegen einen Beamtenapparat auf der einen Seite und eine Leistungsideologie auf der anderen, die alles im Blick hat, nur nicht die Menschen, die sie “Schüler” nennen. Daß Eltern oft ihren verdammten Job auch nicht im Mindesten tun, spricht nicht dagegen. Es macht das Ganze nur noch aussichtsloser.

Der Mensch und was er will

Es wird zu nichts führen, wenn man Leistungsbewertungen zu Kurven zusammenfaßt und sich dann fragt, wie man den Output verbessern kann. Es ist die völlig falsche Frage, wie man im internationalen Vergleich besser abschneiden könnte. Es macht keinen Sinn, zu fragen, wie man genügend Ingenieure und Krankenschwestern heranzüchtet. Die wichtigen Fragen sind: Was wollen Schüler, was können sie, wie bringt man beides zusammen und entwickelt anhand einer vorhandenen Motivation Fähigkeiten, die zu weiterer Motivation führen? Wie fördert man kindliche Neugier? Wie entfaltet man menschliche Kreativität? Wie bündelt man individuelle Kompetenzen so, daß junge Menschen sich mit Freude zu konzentieren lernen?
Wenn man etwa wissen will, was Schüler wollen und was sie interessiert, warum zur Hölle fragt man sie dann nicht? Wo ist der Unterricht, der sich an den Fragen der anwesenden Schüler orientiert? Wo ist die Lehrerausbildung, die dazu befähigt, solche Ressourcen zu nutzen? Etwa bei der Bertelsmann-Stiftung?
Der Fetisch “Leistung” zerstört sich selbst, weil er zwangsläufig außer Acht läßt, daß es Menschen sind, die da etwas leisten sollen. Wer Leistung fördern will, muß Menschen fördern, und zwar um ihrer selbst willen. Die mechanistischen Ansätze der gängigen Bildungspolitik vernachlässigen die simple Erkenntnis, daß Menschen keine Maschinen sind. Eine Maschine versagt nämlich nicht, weil sie keine Lust mehr hat.