Inspiriert durch einen Artikel von weißgarnix über Sloterdijks “Weltinnenraum des Kapitals”, gestatte ich mir, euch ein wenig mit einem kleinen Ausschnitt aus meinem großen Pamphlet zu langweilen, das mir geeignet scheint, den Grundgedanken zu skizzieren. Es geht mir um die Frage, warum Kapitalismus funktioniert. Warum machen quasi alle mit?
Die andere große Frage ist die nach einem Motiv, einem Antrieb, der eine humanere Gesellschaft begründen könnte. Ich habe die auf unterschiedlichen Antrieben basierenden Grundkonzepte “Selbstsorge” und “Fürsorge” genannt. Mal sehen, ob wir zu einer Diskussion kommen, sonst ist der Text halt für die Tonne.

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Wirtschaftskonzepte, basierend auf Fürsorge oder Selbstsorge als Realitätsprinzip

Um sich zu vergegenwärtigen, welche die psychischen Grundlagen der Wirtschaftssysteme sind, macht es Sinn, das Realitätsprinzip zu betrachten, dem sie folgen. Ausgehend von Freuds Begriff des “Realitätsprinzips” hat Herbert Marcuse in “Triebstruktur und Gesellschaft” die These aufgeworfen, es gebe eine “vorherrschende historische Form des Realitätsprinzips”. Das muß erläutert werden:
Grob skizziert, entsteht das “Ich”, das vernunftbegabte Subjekt, durch die Ersetzung des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip. Der Mensch folgt, wie bereits geschildert, nicht einfach seiner Nase zum Triebziel, sondern er prüft die Situation unter Zuhilfenahme seiner Erinnerungen und koordiniert das Machbare mit dem Erwünschten. Dies geschieht im Individuum, aber es gibt durchaus auch kollektive Formen solcher Wirklichkeitserzeugung. Marcuse war der Ansicht, das “Leistungsprinzip” sei die “vorherrschende historische Form des Realitätsprinzips”, die Menschen seien also darauf ausgerichtet, ihre Triebunterdrückung und die Restbefriedigung so zu organisieren, daß sie ihre Leistungsfähigkeit dem Kollektiv/der Gesellschaft zur Verfügung stellen können. Ob man diese Ansicht teilt, sei dahingestellt. Der Grundgedanke aber ist fruchtbar, und ich möchte ihn adaptieren in der Form, daß ich Marcuses Perspektive verlasse und eine andere einnehme. Marcuse hat sein Augenmerk auf die Funktion der Individuen als produzierende gerichtet. Sie sind in der Masse also Menschen, die arbeiten, etwas herstellen, Dienstleistungen erbringen und Mehrwert produzieren. Diese noch quasi marxistische Perspektive mag mit den Füßen auf Hegels Kopf stehen, aber sie macht den zweiten Schritt vor dem ersten. Daher war auch seine Hoffnung, die er auf die “Verwandlung der Sexualität in den Eros” setzte, recht gewagt. Der Gedanke, es gebe eine je aktuelle Form der Organisation des Realitätsprinzips, also nicht bloß ein Realitätsprinzip, das immer in der von Freud beschriebenen Form walten muß, ist sehr zu loben. Freuds starrer Blick auf die Unterdrückung der Triebe verführt überdies zu falschen Schlußfolgerungen. Der Glaube, es gebe auf der einen Seite die Triebe, die die Energie liefern und auf der anderen Seite die Organisation der Triebunterdrückung, die nur bestimmte Formen der Befriedigung zuließe, war schon bei Freud eher Axiom als Befund. Könnte es eine “Kultur” geben, die nur mit nur purer Gewalt die Triebe unterdrückt? Wäre es also am Ende die schiere Angst, die die Einzelnen dazu bringt, ihre Triebe in einer bestimmten Weise zu organisieren bzw. sie nicht auszuleben? Vielleicht wäre das möglich. Aber damit wäre die Fragestellung schon sehr eingeschränkt. Das Modell, demzufolge es einen Drang gibt, eine Bewegung, die in Bahnen geleitet wird, ist nicht falsch. Aber wie steht es mit der Möglichkeit konkurrierender Triebe? Eine Fragestellung, die in der Sphäre der Gesättigten in den Vordergrund rückt. Was bewog schon in der Vergangenheit die Herrschenden zu herrschen? Was die Ausbeuter zur Ausbeutung? Waren sie von Leistungsprinzip ausgeschlossen? Und welches Realitätsprinzip beherrschte sie dann?
Im Fokus der Sorge um sich selbst und um andere erweitert sich das Bild. Die “Unterdrückung” der Triebe ist, wie bereits angedeutet, ja eine Strategie zu ihrer Erfüllung. Wer die Befriedigung aufschiebt, hat etwas davon. Es kann zu seinem Überleben beitragen. Es kann fundamental zum Überleben der Gattung beitragen. Es steigert Lust, und es sichert Macht, die wiederum Befriedigung ermöglicht. Diese Strategie “Triebunterdrückung” zu nennen, ist einäugig.
Die Frage stellt sich also eher, wie die Energie in Strategien eingebunden wird. Die Entwicklung solcher Strategien ist zunächst eine Fähigkeit und kein Hemmnis. Man kann auch das Teilen, das Verzichten auf Ressourcen und womöglich auf Triebbefriedigung zugunsten anderer “Unterdrückung” nennen. Aber es sollte auf der Hand liegen, daß nur so “Freiheit” möglich ist. Und hier liegt eine Wurzel des Mißverständnisses, das neoliberale Plünderungskapitalisten ebenso pflegen wie romantisierende Hippies: Freiheit ist immer nur begrenzt und trägt ihr Ende, von dem sie nichts wissen will, in sich. Es gibt keine Freiheit ohne Maß. Dieses auszutarieren, ist definitiv keine Unterdrückung.
In der Betrachtung von Wirtschaftssystemen ist es demnach nicht einfach dabei zu belassen, nach den Mechanismen zu suchen, die die Menschen an die Produktion koppeln und die Welt in abhängig Produzierende und Profiteure zu unterteilen. Damit sei übrigens nicht gesagt, jegliche Diskussion über den Arbeitswert sei hinfällig. Aber eine ganze Theorie darauf zu begründen, ist schon recht sparsam. Ebenso kurzsichtig ist auch die These, ein “Markt” regle sich über Angebot und Nachfrage. Spätestens auf der Nachfrageseite wird es nämlich kompliziert: Wie generiert sich denn eine Nachfrage? Wie entstehen und organisieren sich Bedürfnisse? Und damit sind wir wieder mitten in der Fragestellung: Welche Rücksicht nehmen die Wirtschaftssysteme bzw. die mit ihnen und den zugrundeliegenden Theorien verbundenen Vorstellungen auf das Problem der Versorgung? Was versprechen sie sich und anderen? Welche Strategien entwickeln sie?

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Wo die kapitalistische Wirtschaft auf Akkumulation setzt, also auf eine möglichst effiziente Anhäufung wirtschaftlicher Macht, hält es die der sozialistisch-kommunistischen, namentlich marxistischen Planwirtschaft mit der konkreten Zeitsouveränität des Realitätsprinzips. Der Kapitalismus, die Ideologie freien Wirtschaftens und Handelns, ist nicht allein auf eine Art “Reichtum den Reichen” – Prinzip zurückzuführen. Zwar läuft vieles darauf hinaus, denen zu geben, die schon haben, aber die Vorteile der Marktwirtschaft, auf der der Kapitalismus basiert, liegen auf der Hand. Historisch betrachtet, liegt das Erfolgsrezept solcher Wirtschaftsstrukturen darin, daß sie eher dazu geeignet sind, Bevölkerungen materiell zu versorgen. Daraus wiederum folgt die Möglichkeit, gerade Reichtum zu vermehren, denn die Voraussetzungen für die Produktion qualitativ hochwertiger Waren sind eben am ehesten dann gegeben, wenn der Lebensstandard der Produzierenden ein Mindestmaß an Luxus und Konsum zuläßt. Historisch überkommen sind Theorien, die von der Annahme ausgehen, Ausbeutung als Basis kapitalistischen Wirtschaftens sehe vor, dem Proletariat nur das Nötigste zum Leben zu lassen. Wollte man die absolute Macht weniger über viele etablieren, müßte man es wohl so halten. Aber eben um solche losgelöste Verfügungsgewalt geht es nicht im Kapitalismus. Was auch immer man sich bemüht, ihm zu unterstellen, es bleibt ihm eine vordergründig löbliche Eigenschaft: Er korrespondiert mit der Bemühung um Versorgung. Das Konzept besteht darin, auf Vorrat zu produzieren. Und zwar nicht auf einen Vorrat, der tatsächlich zum Konsum ansteht oder zur Versorgung notwendig wäre, sondern auf den totalen Vorrat. Die Zauberformel ist das “Angebot”, das sich nicht wirklich an der Nachfrage orientiert. In ihm verbirgt sich vielmehr das Prinzip, auf dem Gier beruht: Stets so viel zur Verfügung zu haben, daß man sich jeden Wunsch erfüllen kann. Dahinter steht nicht nur die Vorstellung vom Leben als Millionär, der nicht mehr arbeiten muß, sondern das Phantasma eines Reichtums, der schon Bedürfnisse abdeckt, die noch gar nicht aktuell sind. Auch hier wirkt das Prinzip in beide Richtungen. Die produzierten Bedürfnisse sind kein Trick der Werbebranche, aber die Anbieter machen selbstverständlich gern von der Möglichkeit Gebrauch, den Kunden Bedürfnisse einzureden. Sie zehren dabei von der gar nicht dummen Idee der Einzelnen, Vorräte anzulegen. Daß der Wahn in den gesättigten Gesellschaften so weit geht, auch Bedürfnisse auf Halde zu produzieren, entspricht nur einer intelligenten Versorgungsstrategie, die übers Ziel hinausgeschossen ist.
Anders verlief die bisherige Geschichte sozialistischen Wirtschaftens. Ihre Idee war die vollständige Versorgung aller, die Erfüllung der Bedürfnisse zu einem Zeitpunkt, absolute Konstanz. Man kann vom “geplanten Nirwana” sprechen.
Illusionär befaßt die Planwirtschaft sich mit der planbaren Wunscherfüllung nach Maß. Es soll immer genug für alle da sein. Historisch war der Wirtschaftsmarxismus sich zunächst der Schwierigkeit der Aufgabe bewußt, ein Volk zu versorgen, ohne daß jemand hungern müßte. In Abgrenzung des zu jener Zeit aktuellen Ausbeutungskapitalismus’ verlor man sich an die Vorstellung, daß eine Volkswirtschaft erfolgreicher wäre, wenn niemand von der Produktion der Waren profitierte. Man würde schließlich die Gewinne, die sonst abgeschöpft wurden, unter allen verteilen. Um nun zu vermeiden, daß mit Überschüssen doch wieder freier Handel betrieben würde, der zu Übervorteilung und Ausbeutung führen könnte, verbot sich solche Vorratsproduktion außerhalb der Kontrolle der staatlichen Macht. Geht man einmal davon aus, was historisch nie der Fall war, daß nämlich die staatliche Kontrolle nicht korrupt und hungrig nach Verfügungsgewalt gewesen wäre, so wäre das Prinzip der Planwirtschaft trotzdem zum Scheitern verurteilt gewesen. Dem Konstanzprinzip strukturell analog und inhaltlich verpflichtet, ist sie strategisch der Akkumulation hoffnungslos unterlegen.
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